In einer Ecke der Bibliothek

  • Ich hatte mir in eine Ecke der Bibliothek einen Tisch mit einem Stuhl stellen lassen, dazu Feder, Tinte und Pergament. Neben dem Pergament lagen die Schriften, die ich von meiner Reise mitgebracht hatte. Ich nahm die Feder und hielt sie einen Moment lang in meiner Hand. Wie ungewohnt sie sich anfühlte, wenn man Pinsel zum schreiben gewohnt war. Wie lange war das alles her, seit ich zuletzt eine Feder zum Schreiben benutzte. Ich führte einige Male die Bewegungen zum Schreiben des Alphabets aus, ohne die Feder in Tinte zu tauchen. Erst, als ich mir sicher war, dass ich fehlerfrei schreiben würde, nahm ich das erste Blatt Papier des Daodejing und begann, es zu übersetzen.



    Das Dao, das sich aussprechen lässt, ist nicht das ewige Dao.
    Der Name, der sich nennen lässt, ist nicht der ewige Name.
    Nichtsein nenne ich den Anfang von Himmel und Erde.
    Sein nenne ich die Mutter der Einzelwesen.
    Darum führt die Richtung auf das Nichtsein zum Schauen des wunderbaren Wesens,
    die Richtung auf das Sein zum Schauen der Begrenztheit des Raumes.
    Beides ist eins im Ursprung und nur verschieden durch den Namen.
    In seiner Einheit heißt es Geheimnis.
    Des Geheimnisses tieferes Geheimnis ist das Tor, durch das alle Wunder hervortreten.


    Kommentar:
    Das Dao ist allumfassend, deshalb kann es durch unsere Sprache, die begrenzt ist, nicht beschrieben werden. Deshalb hat es keinen Namen, denn auch Dao ist nur ein Begriff, um in den Grenzen unserer Sprache zu beschreiben, was die Sprache nicht beschreiben kann.
    Sein und Nichtsein sind eins. Es kann nur dann etwas sein, wenn gleichzeitig etwas nicht ist, und nur dann etwas nicht sein, wenn gleichzeitig etwas ist. Gegensätze bedingen einander.


    Zufrieden über die Übersetzung des ersten Kapitels und den Kommentar, den ich dazu schrieb, lehnte ich mich zurück. Nicht dur die Übersetzung hatte Zeit gebraucht, sondern auch der Kommentar, denn ich wollte den Lesern der Übersetzung Hilfestellung geben, um den Text einfacher zu verstehen. Ich war auch ein wenig stolz, dass ich nach all den Jahren keinen Tintenklecks verursacht hatte. Mir war nicht aufgefallen, dass ich bereits für dieses kleine Stück Arbeit über eine Stunde gebraucht hatte. Doch was interessierte mich auch Zeit?

  • Nachdem ich mich kurz zurückgelehnt hatte, übersetzte und kommentierte ich das nächste Kapitel.



    Wenn auf Erden alle das Schöne als schön erkennen, dann ist dadurch schon das Hässliche gesetzt.
    Wenn auf Erden alle das Gute als gut erkennen, dann ist dadurch schon das Nichtgute gesetzt.
    Denn Sein und Nichtsein erzeugen einander.
    Schwer und Leicht vollenden einander.
    Lang und Kurz gestalten einander.
    Hoc und Tief verkehren einander.
    Stimme und Ton verbinden einander.
    Vorher und Nachher folgen einander.


    So auch der Berufene:
    Er verweilt im Wirken ohne Handeln.
    Er übt Belehrung ohne Reden.
    Alle Wesen treten hervor, und er verweigert sich ihnen nicht.
    Er erzeugt und besitzt nicht.
    Er wirkt und behält nicht.
    Ist das Werk vollbracht, so verharrt er nicht dabei.
    Und eben weil er nicht verharrt, bleibt er nicht verlassen.


    Kommentar:
    Dass sich Gegensätze einander bedingen, wurde bereits im Kommentar zum ersten Kapitel erwähnt und ist nun noch einmal klar ausgedrückt worden. Gleichzeitig ist aber erkennbar, dass sich Gegensätze ergänzen. Nicht ganz offensichtlich, aber doch erkennbar, ist, dass die Gegensätze ihren Ursprung in unserer irdischen Wahrnehmung haben. Die kosmische Ordnung hat keine Gegensätze, weshalb sie auch keinen Namen hat. Denn zu jedem Namen kann man einen Gegen-Namen formulieren.
    Der Berufene ist sich der Bedeutungslosigkeit des Irdischen bewusst, und dennoch wirkt und belehrt er auf Erden. Er bindet sich nur nicht an das Irdische.


    Die Kommentare ware für mich erheblich mehr Arbeit als die Übersetzung. Aber gerade in den Kommentaren sah ich den wesentlichen Inhalt meines Wirkens, weil sie dem hellenistisch Gebildeten einen Zugang zu dieser fremden Philosophie erleichtern würden. Wer aber ohne philosophische Ausbildung war, der würde diese Texte wohl niemals verstehen. Schließlich waren Barbaren dazu nicht fähig.

  • Ein letztes Kapitel würde ich heute noch übersetzen und kommentieren, dann würde ich am nächsten Tag weitermachen. Also nahm ich wieder das Schreibzeug.



    Die Tüchtigen nicht bevorzugen, so macht man, dass das Volk nicht streitet.
    Kostbarkeiten nicht schätzen, so macht man, dass das Volk nicht stiehlt.
    Nichts Begehrenswertes zeigen, so macht man, dass des Volkes Herz nicht wirr wird.


    Darum regiert der Berufene so:
    Er leert ihre Herzen und füllt ihren Leib.
    Er schwächt ihren Willen und stärkt ihre Knochen und macht, dass das Volk ohne Wissen und ohne Wünsche bleibt, und sorgt dafür, dass jene Wissenden nicht zu handeln wagen.
    Er macht das Nichtmachen, so kommt alles in Ordnung.


    Kommentar:
    Wenn nichts Bedeutung hat, wenn es nach nichts zu streben gilt, dann gibt es keinen Neid und keine Mißgunst, und damit auch kein Verbrechen. Wenn das Volk nach nichts strebt und keinen Hunger leidet, ist es zufrieden. Wissen weckt Begehrlichkeiten. Weiß ich, dass es Gold gibt, will ich welches haben. Weiß ich es nicht, habe ich ach nicht den Wunsch danach. Bleibt das Volk ohne Wissen, so entstehen keine Wünsche. Sind die bestehenden Wünsche erfüllt, ist das Volk zufrieden. Wenn das Volk zufrieden ist und der Staat funktioniert, muss nichts verändert werden. Es ist nicht nötig zu handeln. Deshalb bleibt der Staat in Ordnung, wenn er in Ordnung ist. Doch wann immer man handelt, wird die Ordnung durch das Handeln gestört. Es gibt aber noch keinen perfekten Staat, deshalb müssen die Herrschenden handeln.


    Ich legte das Schreibzeug zur Seite und stand von meinem Platz auf. Den Sklaven in meiner Nähe wies ich noch darauf hin, dass niemand etwas von dem Platz entfernen solle, weil ich am nächsten Tag weiterarbeiten würde. Lesen dürfte man dort aber schon. Dann ging ich aus der Bibliothek hinaus.

  • Am nächsten Tag machte ich mich daran, mit meiner Übersetzung fortzufahren. Ich ging wieder in die Ecke der Bibliothek, wo ich allesso vorfand, wie ich es zurückgelassen hatte. Also nahm ich wieder das Schreibzeug und die Pergamentrolle und fuhr mit den nächsten Kapiteln fort.



    Das Dao ist immer strömend.
    Aber es läuft in seinem Wirken doch nie über.
    Ein Abgrund ist es, wie der Ahne aller Dinge.
    Es mildert ihre Schärfe.
    Es löst ihre Verwirrungen.
    Es mäßigt ihren Glanz.
    Es vereinigt sich mit ihrem Staub.
    Tief ist es und doch wie wirklich.
    Ich weiß nicht, wessen Sohn es ist.
    Es scheint älter zu sein als Gott.


    Kommentar:
    Durch das Dao erhält alles das rechte Maß. Deshalb war der Kosmos in perfekter Harmonie, als das Dao herrschte und keine Götter.



    Himmel und Erde sind nicht gütig.
    Ihnen sind die Menschen wie Opferhunde aus Stroh.
    Der Berufene ist nicht gütig.
    Ihm sind die Menschen wie Opferhunde aus Stroh.
    Der Raum zwischen Himmel und Erde ist wie eine Flöte, leer und fällt doch nicht zusammen; bewegt kommt immer mehr daraus hervor.
    Aber viele Worte erschöpfen sich daran.
    Besser ist es, das Innere zu bewahren.


    Kommentar:
    Die Menschen sind für den Kosmos unbedeutend wie Opferhunde aus Stroh. Denn was ist der Mensch schon gegen den Kosmos? Durch Güte kann man keine Ordnung herstellen.
    Der Raum zwischen Himmel und Erde ist erfüllt vom Dao, so wie alles. Deshalb kann er nicht zusammenfallen und gibt der Welt, was sie benötigt. Doch soll man nicht versuchen, mit Worten zu beschreiben, was man nur im Innersten erfahren kann.


  • Der Geist des Tals stirbt nicht, der heißt das dunkle Weib.
    Das Tor des dunklen Weibs, das heißt Wurzel von Himmel und Erde.
    Ununterbrochen und beharrlich wirkt es ohne Mühe.


    Kommentar:
    Das Verständnis hierzu erschließt sich erst bei weitergehender Kenntnis des Daodejing.



    Der Himmel ist ewig und die Erde dauernd.
    Sie sind dauernd und ewig, weil sie sich selber leben.
    Deshalb können sie ewig leben.


    So auch der Berufene:
    Er setzt sein Selbst hintan, und sein Selbst kommt voran.
    Er entäußert sich seines Selbst, und sein Selbst bleibt erhalten.
    Ist es nicht so: Weil er nichts Eigenes will, daru wird sein Eigenes vollendet?


    Kommentar:
    Wer sich ständig nur Gedanken um sein Selbst macht, erkennt nicht mehr das Ganze. Wer das Ganze nicht erkennt, kann es nicht in sich aufnehmen. Nur durch das Ganze kann man vollendet werden. Deshalb soll man zuerst an das Ganze denken, und dann erst an sich selbst.



    Höchste Güte ist wie das Wasser.
    Des Wassers Güte ist es, allen Wesen zu nützen ohne Streit.
    Es weilt an Orten, die alle Menschen verachten.
    Darum steht es dem Dao nahe.
    Beim Wohnen zeigt sich die Güte am Platze.
    Beim Denken zeigt sich die Güte in der Tiefe.
    Beim Schenken zeigt sich die Güte in der Liebe.
    Beim Reden zeigt sich die Güte in der Wahrheit.
    Beim Walten zeigt sich die Güte in der Ordnung.
    Beim Wirken zeigt sich die Güte im Können.
    Beim Bewegen zeigt sich die Güte in der rechten Zeit.
    Wer sich nicht selbst behauptet, bleibt eben dadurch frei von Tadel.


    Kommentar:
    Sei wie das Wasser. Nütze allen und werde dadurch ein Teil vom Ganzen!
    Man soll nicht tun, wozu man nicht fähig ist. Man soll nicht handeln, wenn es nicht an der Zeit ist, zu handeln. Man soll wohl durchdacht walten. Man soll nicht schenken, um sich daraus einen Voteil zu erhoffen, noch soll man lügen. Und die Wohnstatt sei so errichtet, dass sie sich in die Harmonie des Kosmos einfügt und diese verstärkt, so wie der Berufene.



    Etwas festhalten wollen und es dabei überfüllen, das lohnt der Mühe nicht.
    Etwas handhaben wollen und es dabei immer scharf halten, das lässt sich nicht lange bewahren.
    Mit Gold und Edelsteinen gefüllten Saal kann niemand beschützen.
    Reich und vornehm und dazu hochmütig sein, das zieht von selbst das Unglück an.
    Ist das Werk vollbracht, dann sich zurückziehen, das ist des Himmels Dao.


    Kommentar:
    Man soll nichts für seine Taten erwarten, sondern wirken und dann, nach vollbrachtem Werk, weiterziehen. So fördert man die Harmonie des Kosmos.

  • Man musste sich seinen Ängsten stellen. Harmonie hin oder her, Marcus Achilleos hatte recht gehabt mit seinen Worten. Und so waren kaum drei Tage vergangen seit dem Fest des Alexanders, dass Axilla wieder im Museion war. Diesmal hatte sie sich fest vorgenommen, alles zu lesen, egal wie schrecklich es war. Sie würde ihre Angst nicht bezwingen, wenn sie sich nie wieder traute, Gesetzbücher zu lesen. Sie musste wissen, woran sie war, und ob es wirklich alles so schlimm war. Sie konnte sich nicht immer hinter Ausreden verstecken.
    Und so saß sie seit dem frühen Morgen in der Bibliotheke und studierte die Bücher. Nachdem sie den Sklaven nicht immer nerven wollte, nach diesem und jenem zu suchen, ging sie selbst sogar mit ihm mit und schaute die Regale durch. Vollbepackt mit Büchern, die sie überflog, war sie dann wieder an ihrem Tisch und las quer. Die uninteressanten Stellen überging ihr Auge und blieb immer nur an einzelnen Worten hängen, wo sie dann intensiver las. Und schließlich fand sie das, was sie gefunden hatte.
    Imperator Tiberius Claudius Caesar Augustus Germanicus – der nun zu ihrem persönlichen Lieblingsimperator avancierte – ließ vom Senat das Gesetz über Inzest abändern, so dass jede Verbindung ab dem dritten Grad kein Inzest mehr war. Er wollte seine Nichte Aggripina die Jüngere heiraten und musste daher das Gesetz zuvor abändern lassen.


    Axilla saß über dem Buch und war so erleichtert, dass sie sich nicht einmal richtig freuen konnte. Sie uns Silanus würden von keinem Felsen geschmissen und im Meer ersäuft werden, auch nicht verbannt. Natürlich war es immer noch unehrenhaft, was sie getan hatten, da sie nicht verheiratet waren, keine Frage. Noch dazu, da er ihr Vormund war, und wahrscheinlich würden es weder ihre Verwandten noch seine Vorgesetzten auch nur ansatzweise verstehen. Aber sie würden leben dürfen, selbst wenn es eines Tages ans Licht käme.
    Je mehr diese Erkenntnis sich gesetzt hatte, umso mehr freute sich Axilla. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, das schließlich fast bis zu den Ohren reichte. Ihr war nach heulen und lachen gleichzeitig zumute. Und nach tanzen, singen, hüpfen, jubeln… selbst an den Bacchanalien hätte man wohl keinen gefunden, der sich so ausgiebig gefreut hätte, wie sie es am liebsten wollte. Sie versuchte, sich zu beherrschen, und räumte noch eben die Bücher wieder zurück. Aber auf ihrem Weg Richtung Ausgang hielt sie es nicht mehr aus, hüpfte mit einem kleinen Freudenschrei einmal im Kreis und tanzte sogar kurz mit dem Sklaven, der ihr das Buch gebracht hatte. Die meisten Besucher der Bibliotheke schauten sie an, als hätte sie den Verstand verloren. Naja, wahrscheinlich hatte sie das auch im Moment.


    Sie wollte gerade nach draußen gehen, als sie es sich anders überlegte. Marcus Achilleos hatte nicht unwesentlichen Anteil an ihrer Freude, und sie wollte ihm danken. Sie fragte also den noch immer völlig verdutzten Sklaven nach ihm und ließ sich die Richtung weisen. Beschwingt begab sie sich also in die Ecke, in der er saß. Schon zwanzig Schritte vorher erspähte sie ihn, wie er über verschiedenen Papieren gebeugt saß und etwas schrieb. Schnell kam sie zu ihm herüber und blieb aufgeregt und noch immer freudestrahlend neben ihm stehen.
    Salve!“ begrüßte sie ihn und ihre Stimme überschlug sich beinahe, wollte sie doch jauchzen und jubeln und singen. Damit er sie nicht auch noch für vollkommen übergeschnappt hielt, gab sie ihm noch eine Erklärung für ihre Freude. „Du hattest recht, die Ratte ist weg.

  • Ich wollte gerade ein weiteres Kapitel des Daodejing ins Attische übersetzen, als ich bemerkte, wie jemand schnell auf mich zukam. Als ich mit einem ziemlich überschwenglichen "Salve" begrüßt wurde, sah ich Axilla an, doch noch bevor ich sie nach dem Grund für ihre Freude fragen konnte, gab sie mir auch schon eine Erklärung. Ich legte die Schreibfeder beiseite und lächelte vornehm.
    "Freut mich, dass ich dir helfen konnte." Bei dem Ausmaß an Freude war ich mir ziemlich sicher, dass es sich wohl um keine Ratte handelte. Da ich aber auch nicht wusste, was es sonst sein konnte und es für mich auch völlig belanglos war, fragte ich nicht weiter nach. Was auch immer es war, ich hatte wohl einen kleinen Beitrag zur Lösung des Problems geleistet, und so etwas erfüllte mich immer mit Freude. Ich deutete auf einen Hocker neben dem Tisch. "Bevor du gleich zu hüpfen anfängst, solltest du dich lieber setzen. Hüpfen würde hier, glaube ich, nicht gerne gesehen. Übrigens hatte ich unser philosophisches Gespräch beim Fest des Alexanders und der Tyche sehr genossen. Du scheinst eine recht aufgeweckte junge Dame zu sein."

  • Mir wär aber grade nach hüpfen. Hüpfen ist toll, hüpfen ist beschwingt. Schade, dass alle Sachen, die Spaß machen, immer mit einem Hauch von Verbot daherkommen.
    Nichts desto trotz setzte sich Axilla auf den angebotenen Hocker, ohne aber auch nur einen Hauch ihrer Beschwingtheit einzubüßen. Fast könnte man meinen, sie würde auf dem Stuhl sitzend gleich anfangen zu tanzen. Selbst das Kompliment, das eine sanfte Röte auf ihre Wangen zauberte, bremste sie nicht. Im Moment fühlte sie sich frei wie ein Vogel. Sie wünschte sich die Flügel des Ikarus, damit sie auch fliegen könne.
    Neugierig sah sie auf die ausgebreiteten Zettel. Ihr Auge überflog ein wenig von dem Geschriebenen – was gar nicht so einfach war, war es doch auf Griechisch geschrieben und stand von ihrer Sicht aus auf dem Kopf. Während sie versuchte, es zu lesen und zu begreifen, wurde sie auch wieder etwas ruhiger. Wobei sie vermutlich immer noch so sprunghaft wie ein Eichhörnchen erscheinen mochte.
    Danke, ich habe unser Gespräch auch sehr genossen. Was sind das für Texte, die kenne ich noch gar nicht?
    Natürlich maßte sich Axilla nicht an, alle griechischen Philosophen zu kennen, aber sie hatte doch eine ziemlich breit gefächerte Bildung erhalten. Aber was da stand, kam ihr absolut und gänzlich unbekannt vor. „Was ist ein …“ Sie nahm das oberste Pergament und drehte es zu sich herum, um dieses komische Wort richtig zu lesen. Es bestand nur aus drei Buchstaben, aber Axilla kannte es nicht. „…Dao… dieses Wort kenn ich gar nicht. Ist wohl kein sehr gebräuchliches griechisches Wort, oder?

  • Ich musste schmunzeln, als sie nach dem Wort "Dao" fragte.
    "Dao ist in der Tat kein gebräuchliches griechisches Wort. In der Tat ist es sogar überhaupt kein griechisches Wort. Es ist die bestmögliche Schreibweise eines Wortes einer fremden Sprache. Das Wort Dao ist recht ambivalent, deshalb übersetze ich es nicht. Im Gegegensatz zum Rest des Textes, mit Ausnahme des Wortes De." Ich legte das Blatt Papier, auf dem der Originaltext in chinesischen Schriftzeichen stand, nach oben. "So sieht der Text vor der Übersetzung aus. Eigentlich brauche ich ihn nicht, weil ich das alles auswendig gelernt habe. Aber man kann ja nie wissen, vielleicht erinnert man sich mal falsch und dann ergibt das keinen Sinn mehr, deshalb nehme ich die Originale zur Hand. Du erinnerst dich noch an den Meister Lao, den ich erwähnt habe? Das ist sein Werk. Ich habe es aus Han mitgebracht. In Han war ich ein Gelehrter und Beamter, da habe ich mich viel mit Philosophie beschäftigt. In der Tat sind alle Beamten in Han auch Gelehrte."

  • Wissbegierig sah Axilla auf das Papier, und musste grinsen. Das war vielleicht eine komische Sprache! Da waren ja gar keine vernünftigen Buchstaben, aber es waren auch keine richtigen Bildchen, wenn einiges doch stark an Häuser erinnerte. Und irgendwie schienen die Zeichen alle verkehrt zu stehen, zumindest erkannte sie nicht, wo ein Wort aufhörte und das nächste anfing.
    Bist du sicher, dass du es richtig übersetzt? Hier sind viel weniger Buchstaben drauf, oder sind die Worte aus Han alle so kurz wie Dao?


    Da sie es nicht lesen konnte, verlor sich bald ihr Interesse an dem Papier. Zwar interessierte sie durchaus, was darin stand, aber da unterhielt sie sich lieber mit Marcus und fragte ihn darüber aus. Gelesen hatte sie heute ohnehin schon genug, so konnte sie ein wenig die Augen schonen und einfach fröhlich dahinplappern.
    Wie kommt es, dass du dort Beamter warst? Peregrini werden doch nicht Beamte?
    Dass nicht jedes Reich wie das Römische organisiert war und es durchaus auch hier Ränge für Nicht-Römer gab, daran dachte Axilla gar nicht. Für sie war die Beamtenlaufbahn etwas, das von alten, langweiligen Männern beschritten wurde und irgendwann im Senat endete. So genau hatte sie sich nie damit befasst, hatte sie bislang doch genug anderes zu tun. Eine kranke Mutter zu pflegen erschien ihr früher sinnvoller, auch wenn sich das jetzt langsam auch rächte.

  • "Jedes Zeichen steht für eine Silbe," erklärte ich kurz die Schrift.


    Bei ihrer Frage dazu, wie ich Beamter werden konnte, musste ich lachen. "Nicht alle Reiche sind so aufgebaut wie das Imperium Romanum. Jeder, der sich dem Kaiser von Han unterwirft, ist ein Bürger seines Reiches. Nur, dass die Bürger von Han kein Recht haben, auf die Politik einzuwirken. Der Kaiser bestimmt, die Beamten und Soldaten setzen die Bestimmungen durch, und die Bürger gehorchen. Das ganze Reich ist auf den Kaiser ausgerichtet und der Kaiser stellt sein Leben in den Dienst des Reiches. Um Beamter zu werden, muss man nur Bürger sein und die Prüfungen schaffen. Die haben es aber in sich. Die unterste Prüfung dauert drei volle Tage und nur einer von hundert besteht. Wer die bestanden hat, darf sich zur Prüfung für Provinzbeamte anmelden, die wieder drei Tage dauert. Da bestehen höchstens zwei von hundert. Wer auch das geschafft hat, darf sich zur Prüfung für Reichsbeamte anmelden. Weil da nur noch die besten sind, besteht etwa jeder zehnte. Die Reichsprüfung dauert fünf Tage. Man muss sich schon sehr gut in der Staatsphilosophie und den Gesetzen auskennen, um alle diese Prüfungen zu bestehen. Ich wurde vom höchsten Beamten einer Grenzprovinz aufgenommen und er brachte mir sechs Jahre lang die Sprache, Staatsphilosophie, Kampfkunst, Kriegskunst und Gesetze bei. Danach bestand ich innerhalb eines Jahres alle drei Prüfungen. Ich war immer unter den besten drei. Deshalb hatte ich eine Audienz beim Kaiser und konnte mir auswählen, wo ich eingesetzt werden wollte. Die beiden anderen wollten Palastbeamte werden, ich wollte lieber Verantwortung für eine Grenzstadt übernehmen. Der Kaiser gewährte mir meinen Wunsch, aber er verlangte, dass ich Examen zum Stabsoffizier ablege. Das hat zu meiner Freude nur zwei Tage gedauert und ich habe es auch bestanden. Danach wurde mir die Verwaltung einer kleinen Grenzstadt übertragen. 6000 Einwohner, 200 Soldaten, mindestens einmal im Jahr ein Barbarenüberfall. Netter Ort, nicht wahr?" Jeder konnte merken, wie stolz ich darauf war, diese Prüfungen bestanden zu haben. In Athen hatte ich nichts vergleichbares kennengelernt. Das waren die wohl härtesten Prüfungen, die ich jemals gesehen hatte.

  • Irgendetwas an seiner Aussage kratzte an Axillas Nationalempfinden, aber es war nicht so schlimm, als dass sie sich davon die gute Laune verderben lassen würde. Und wenn die Prüfung schwer war, durfte Marcus sich ja auch freuen. Auch wenn Axilla nach wie vor der Meinung war, dass das römische System das bessere war. Aber das würde sie ihm so nicht sagen.
    Das ist ja sehr kompliziert, wenn dort ein Beamter alles können muss. Und dann noch auswendig. Ich schätze, ich wäre wohl nichtmal als Scriba dort zu gebrauchen.


    Axilla suchte sich wieder eines von den Schriftstücken mit griechischen Buchstaben, und las es sich durch. Da ihr griechisch nicht allzu sicher war, murmelte sie dabei die Worte vor sich hin.
    Himmel und Erde sind nicht gütig.
    Ihnen sind die Menschen wie Opferhunde aus Stroh.
    Der Berufene ist nicht gütig.
    Ihm sind die Menschen wie Opferhunde aus Stroh.
    Der Raum zwischen Himmel und Erde ist wie eine Flöte, leer und fällt doch nicht zusammen; bewegt kommt immer mehr daraus hervor.
    Aber viele Worte erschöpfen sich daran.
    Besser ist es, das Innere zu bewahren.
    Kommentar:
    Die Menschen sind für den Kosmos unbedeutend wie Opferhunde aus Stroh. Denn was ist der Mensch schon gegen den Kosmos? Durch Güte kann man keine Ordnung herstellen.
    Der Raum zwischen Himmel und Erde ist erfüllt vom Dao, so wie alles. Deshalb kann er nicht zusammenfallen und gibt der Welt, was sie benötigt. Doch soll man nicht versuchen, mit Worten zu beschreiben, was man nur im Innersten erfahren kann.

    Ein wenig grübelnd saß Axilla über der Schrift und schaute dann zu Marcus hoch. Sie verstand den Text auf eine Art und auf eine andere wieder nicht. Irgendwie war dieser Text sehr verwirrend. Und sie dachte, nach Sokrates könne sie nichts mehr verwirren! Wie sehr sie sich getäuscht hatte.
    Das ist aber eine sehr grausame Lehre, oder? Alle anderen predigen immer davon, lieb und nett zueinander zu sein.

  • "Ich denke, das hast du nicht komplett verstanden," sagte ich ruhig und mit einem leichten Lächeln. "Aber das liegt daran, dass du noch nicht den ganzen Text kennst. Es ist wichtig, dass alle Beteiligten ihr Gesicht wahren. Deshalb soll man durchaus höflich sein. Das heißt aber nicht, dass man unbedingt nett sein soll. Wer rechtschaffen ist, ist nicht lieb und nett. Mit Nettigkeit setzt man nichts durch. Indem man andere demütigt, setzt man aber auch nichts durch - jedenfalls nicht langfristig. Man soll andere angemessen behandeln, aber keine übertriebene Milde walten lassen. Der Mensch an sich ist unbedeutend, erst durch seinen Platz im Reich und auf der Welt erhält er Bedeutung, indem er Teil des Reiches und der Welt wird. Wenn ich gütig bin und ihm Dinge vergebe, die der Harmonie des Reiches schaden, dann schade ich der Harmonie. Wenn ich ihn jedoch bestrafe, ohne ihn zu demütigen, dann nutze ich der Harmonie, weil niemand mehr diese Dinge tut. Ein gütiger Herrscher wird wegen seiner Milde belächelt, ein grausamer Herrscher wird wegen seiner Untaten gehasst. Ein rechtschaffender Herrscher hingegen wird von allen geachtet und respektiert. Verstehst du? Der Name, den ich in Han hatte, bedeutet so viel wie 'Rechtschaffenheit aus dem Westen'. Denkst du, den hätte ich für Gütigkeit erhalten?" Während meiner Ausführungen hatte ich die ganze Zeit gütig gelächelt, aber in meinen Augen blitzte zum Schluss kurz die eiserne Härte auf, mit der ich die Gesetze in meiner Stadt durchgesetzt hatte.

  • Milde oder nicht Milde, das war hier die Frage. Axilla sah durchaus ein, dass es für einige Dinge sehr schwere Strafen gab, für andere Dinge konnte sie Strafen nicht nachvollziehen. Deshalb war ihr Verhältnis zu Härte und Milde bei Gesetzen recht ambivalent.
    Hmmm…. Hmmmmm…..“ Sie wusste nicht so recht, was sie dazu sagen sollte. Dieses Land Han war komisch. Wenn dort die Menschen nicht nett zueinander waren, weil das jeder gleich als Schwäche auslegte, wollte sie lieber nicht dorthin reisen. Höflichkeit war zwar ganz gut, angemessenes Behandeln auch, aber manchmal brauchte man doch auch herzliche, ausgelassene Freundschaftlichkeit, um sich richtig zuhause zu fühlen. Sonst war das Leben doch kalt?


    Axilla rettete sich in ein fröhliches Lachen. „Ich glaube, mein Lehrer hatte Recht. Ich bin nicht ernst genug für Philosophie. Er meinte immer, dass Faunus mich eines Tages noch in ein Eichhörnchen verwandeln würde, damit ich meiner wahren Natur näher wäre.
    Eigentlich hatte Iason das gemeint, weil sie als Kind andauernd auf irgendwelche Bäume geklettert war und sich mehr als nur eine Schramme dabei geholt hatte. Aber in Bezug auf Philosophie passte sein Gleichnis wohl auch, fand Axilla.
    Und sind alle Schriften von Lao so ernst?

  • Ich zog eine Augenbraue hoch. "Ein Eichhörnchen? Das heißt, deine wahre Natur ist es, auf Bäume zu klettern und anderen auf die Nüsse zu gehen?" Ich sagte das mit einem sehr ernsten Gesichtsausdruck, den ich noch eine Sekunde hielt, um dann in herzlich zu lachen.


    Ich brauchte etwas, um mich wieder einzukriegen, nahm dann aber wieder meinen üblichen, höflichen Gesichtsausdruck an. "Nun ja, die Schriften des Meister lao sind alle so ernst, weil sie ja auch ernstes Thema behandeln. Genauso wie die Schriften des Meister Kong. Das heißt aber nicht unbedingt, dass man deshalb das Thema nicht mit Humor diskutieren kann. Wenn zwei Menschen sich auf der Ebene der Freundschaft begegnen, dann können sie durchaus auch Spaß haben. Und wenn sich zwei Menschen lieben, dann müssen sie sogar herzlich und gütig miteinander umgehen."

  • Naja, der letzte Baum ist zwar schon drei Jahre her, aber eigentlich kann ich ziemlich gut klettern. Das andere musst du wohl selbst rausfinden.
    Auch Axilla fiel in das ansteckende Lachen mit ein.
    Seine zweite Bemerkung aber ließ sie kurz stocken. Flirtete er mit ihr, oder was war das für eine Bemerkung? Sie warf ihm kurz einen schüchternen Blick zu und wandte sich dann mit ihrer üblichen Fröhlichkeit wieder dem Tisch zu. Nicht, dass er noch auf dumme Gedanken kam.
    Sehr viel Ernst für so ein kleines Wort wie Harmonie, oder so ein kurzes wie Dao. Hmmm, gibt es auch andere Schriften dort? Ich meine, Gedichte oder Heldengeschichten oder sowas.
    Axilla liebte ja Gedichte über alles. Zumindest, solange sie nicht zu schwermütig daherkamen oder zugunsten des Hexameters allzu schwulstig formuliert waren. Ganz besonders hatte es ihr Ovid angetan, wenn sie das aber nie öffentlich zugeben würde.

  • "Es gibt da einige Heldengeschichten und Gedichte und so weiter. Aber, ehrlich gesagt, ich hatte nicht allzu viel Zeit, mich damit zu beschäftigen." Ich zuckte mit den Schultern. "Vielleicht befasse ich mich damit, wenn ich wieder nach Han zurück gehe. Irgendwann, vielleicht auch nie. Aber das hat Zeit. Erstmal habe ich ein paar Dinge hier zu erledigen." Ich sah nachdenklich auf die chinesischen Schriften. Nach einem Moment sah ich wieder auf. "Es gibt auch noch ein paar Legenden oder Anekdoten, die ich kenne. Da ist zum Beispiel die des Meisters Sun, der als exzellenter Stratege berühmt war. Der Fürst von Wu wollte den Meister auf die Probe stellen, indem er ihm befohlen hatte, aus den 180 Konkubinen des Fürsten Soldaten zu machen. Meister Sun teilte sie in zwei Gruppen auf und ernannte die beiden Lieblingskonkubinen des Fürsten zu Offizieren. Jede der beiden bekam also eine Gruppe. Er erklärte ihnen dann einige Befehle und ließ sie dann zum exerzieren antreten. Er gab den ersten Befehl, aber die Konkubinen kicherten nur. Dann sagte er: "Wenn die Kommandoworte nicht klar und deutlich sind, wenn die Befehle nicht richtig verstanden werden, dann trifft die Schuld den General." Danach erklärte er den Befehl nochmal und gab ihn erneut, diesmal ausführlicher, damit er klar verstanden wird. Wieder kicherten die Konkubinen, anstatt den Befehl auszuführen. Darauf sprach er: "Wenn die Kommandos nicht klar und deutlich sind, wenn die Befehle nicht richtig verstanden werden, dann trifft die Schuld den General. Sind die Befehle jedoch klar und die Soldaten gehorchen dennoch nicht, dann ist das die Schuld der Offiziere!" Zur Strafe ließ er, so wie es üblich war, die beiden Lieblingskonkubinen des Fürsten köpfen. Danach folgten die Konkubinen seinen Befehlen. Der Fürst von Wu ernannte Meister Sun daraufhin zum Oberbefehlshaber seiner Truppen, weil er sah, dass Sun jede Armee führen konnte." Ich lehnte mich zurück. "Und, was lernen wir aus dieser Geschichte?"

  • Sun, Wu… die Namen dort waren wohl wirklich alle sehr kurz. Und wenn das eine lehrreiche Geschichte war, dann war sie nicht besonders schön verpackt. Axilla bevorzugte davon mal abgesehen eigentlich ohnehin eher Liebesgeschichten mit viel Herzschmerz, aber auch die normalen Legenden, die sie kannte, waren wenigstens etwas schöner verpackt. Komisches Land, dieses Han.
    Was wir daraus lernen? Das es wohl einen Grund hat, warum beim Militär nur Männer sind und keine Frauen. Und das man als General ein bisschen lebensmüde wohl sein muss. Die Lieblingskonkubine des Imperators zu töten, da hätte sein Kopf ganz schnell hinterher rollen können.“ Und in einem vernünftigen Land auch müssen, setzte sie in Gedanken dazu. Man tötete doch nicht einfach so eine Frau, weil sie kicherte? Frauen waren schließlich keine Soldaten, Frauen waren Frauen.
    Nachdem Axilla im ersten Schock unüberlegt so ihre Gedanken dahergeplappert hatte, machte sie sich aber doch mal kurz die Mühe, über diese seltsame Geschichte nachzudenken, und noch einen tieferen Sinn zu finden.
    Hmmm, dieser General dachte wohl ein wenig wie Imperator Caligula. Oderint dum metuant*, soll er ja gesagt haben. Als Politiker muss man wohl bereit sein, auch unliebsame Entscheidungen zu treffen, um sich dadurch den nötigen Respekt zu verschaffen. Angst schafft schnell Respekt.
    Ich persönlich finde aber Überzeugung trotzdem besser. Wenn man jeden gleich umbringt, weil er nicht macht, was man will, lernt der ja nie was.



    Sim-Off:

    *Sollen sie mich hassen, solange sie mich fürchten

  • "Hmm... interessante Antwort. Dass man lernen muss, auch unliebsame Entscheidungen zu treffen, ist richtig. Dass man sich Respekt verschaffen muss, ist auch richtig. Man kann aber noch mehr daraus lernen. Wenn man den Mut hat, auch Entscheidungen zu treffen, die einen viel, möglicherweise sogar das Leben, kosten können, dann kann man auch scheinbar Unmögliches erreichen. Zum Beispiel Frauen zu Soldaten zu machen. Und man kann daraus eine noch viel wichtigere Lektion lernen, die die meisten übersehen: Man sollte sich immer ganz genau überlegen, was man für Befehle gibt. Sonst kann es passieren, dass man verliert, was man liebt. Hätte der Fürst nicht den unsinnigen Befehl gegeben, seine Konkubinen zu Soldaten zu machen, dann wären seine Lieblingskonkubinen nicht hingerichtet worden. Oder er hätte Hinichtungen verbieten müssen. Kurz gesagt: Wenn ich Macht ausübe, sollte ich mir erst über die Konsequenzen meiner Befehle Gedanken machen und sie dann geben und nicht umgekehrt. Wer unüberlegt handelt, kann unbeabsichtigte Schäden anrichten. Wer überlegt handelt, minimiert dieses Risiko."


    Das Thema war ziemlich ernst, deshalb beschloss ich, eine andere Geschichte zu erzählen. "In Indien habe ich von einem Mönch etwas über die Lehren des Buddha lernen wollen. Dieser Mönch liebte den Garten seines Klosters. Irgendwann war er auf einer kurzen Reise und wir, also die übrigen Mönche und ich, beschlossen, ihm einen Steingarten anzulegen. Als Herz dieses Gartens hatten wir einen großen Felsbrocken bestimmt. Der Brocken war gut geeignet, aber es gab ein Problem: Das Kloster war auf einem Hügel und der Stein war unten. Also versuchten wir den Brocken hochzurollen, aber er bewegte sich kaum und wir versuchten vergeblich, ihn auf den Hügel zu bekommen. Aufgeben wollten wir aber auch nicht, also versuchten wir es am nächsten wieder und am Tag danach nochmal. Da kam auch der Mönch, der übrigens das Kloster führte, zurück und half uns, den Stein hochzurollen. Das gelang aber immer noch nicht. Ein Adliger hatte uns die ganze Zeit beobachtet und fragte schließlich, was wir da eigentlich machen. Und dann hat der Mönch gesagt: Wir wissen es nicht! Die Art, wie er das sagte, mit so einem strahlenden Lächeln, das war schon lustig. Der Stein liegt übrigens immer noch unten am Hügel. Und um ihn herum ist ein sehr schöner Steingarten."

  • Die zweite Geschichte gefiel Axilla wesentlich besser als die erste, und während Marcus erzählte, musste sie wieder anfangen herzlich zu grinsen. Sie konnte es sich bildlich vorstellen, wie der alte Mann dastand und freudestrahlend verkündete, dass er keine Ahnung hatte, was sie da taten. Aber manchmal musste man das ja auch gar nicht wissen, es war nur wichtig, etwas gemeinsam zu versuchen. Das hatte Axilla bei ihrer Mutter gelernt. Es war nicht wichtig, ob sie den Haushalt führen und die Mutter pflegen konnte, es war nur wichtig, dass sie und die Sklaven ihr Bestes taten, alles so gut es ging zu tun.
    Nun, Erkenntnis ist der erste Weg zur Besserung. Ich kann es mir richtig vorstellen, wie du und die anderen versucht haben, wie Sisyphus den Stein den Berg hinaufzubekommen. Aber ich denke, es war doch viel wichtiger, dass ihr es für ihn tun wolltet und dass ihr alle es dann gemeinsam gemacht habt, oder? Meinst du, der Mönch hätte sich mehr gefreut, wenn der Stein oben in seinem Garten gewesen wäre?
    Axilla glaubte das nicht. Sie kannte zwar weder Buddha noch diesen Mönch, aber so, wie Marcus es erzählte, konnte sie es sich nicht vorstellen.

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