Das Haus des Vissaríon

  • Hin und her gerissen sah Axilla ihn einen Augenblick lang an. Sie ertrug es nicht, diese grauen Augen so traurig zu sehen, und wollte ihn daher trösten, in den Arm nehmen, wieder aufbauen, damit er wieder fröhlich schaute. Aber der andere teil von ihr wusste, dass sie das auf gar keinen Fall tun durfte. Er hatte sie hier in Gefahr gebracht, und zwar nicht zu gering, und ihr bisher keine Erklärung dafür geliefert, warum er so etwas getan hatte.
    Axillas Wut schützte sie in diesem Moment davor, voreilig zu handeln, denn sie machte sie kalt und berechnend. Mit einer für sie fast ungewohnten Klarheit ging sie in Gedanken die Möglichkeiten durch, die ihnen blieben. Ja, Timos hatte recht, sie sollten dieses Haus hier schnellstmöglich verlassen. Aber er konnte sie unmöglich bis nach Hause bringen. Wenn man sie beide zusammen durch das Tor gehen sah, noch dazu in ihrer Aufmachung, dann würde Urgulania es leicht haben, zwei und zwei zusammen zu zählen. Wenn dann noch rauskam, dass eine Römerin auf diesem Fest gewesen war, und dass diese Nachricht Runde machte zweifelte Axilla keine Minute, müsste ihre Cousine schon total verblödet sein um nicht darauf zu schließen, dass das Axilla gewesen war. Nein, dass er sie heimbrachte stand völlig außer Frage.
    Abgesehen davon hatte Axilla Timos Bruder ja versprochen, keine Dummheit zu machen, die die Familie Bantotakis in Gefahr bringen würde. Und auch, wenn Axilla immer noch eine Mordswut auf Timos’ jüngsten Bruder hatte und Timos selber nicht gerade daran arbeitete, die Gefahr für seine Familie durch ihrer beider Zusammensein zu minimieren, war Axilla ein Mensch, der im Grunde genommen durchweg ehrlich war. Sie würde ihr Wort niemals brechen. Das war eines der ersten Dinge, die sie von ihrem Vater in ihren heimlichen Lehrstunden gelernt hatte: Ein guter Soldat hielt immer sein Wort, denn er war immer treu. Auch wenn sie ein Mädchen war und damit nie ein Soldat hätte werden können.
    Sie atmete ruhig durch, bis die Wut und die Furcht in ihr zu einem kalten Glimmen heruntergebrannt waren. Sie wusste, nachher würde dieses Feuer wieder auflodern und über sie mit einer Verzweiflung hereinbrechen, der sie nicht standhalten konnte, aber im Moment war es unter Kontrolle.
    “Wir sollten gehen. Aber in die Basilea muss ich allein. Ich brauch dann nur meinen Mantel, der liegt noch im Boot.“
    Weitere Vorwürfe ersparte Axilla ihnen beiden, die brachten sie jetzt nicht weiter, und außerdem hätten sie nur die Angst, die sie fühlte, genährt. Aber bis sie in ihrem Zimmer wieder war, würde sie sich beherrschen müssen.

  • Timos nickte nur und ging dann voraus, dorthin wo er das Boot festgemacht hatte. Vorbei an den feiernden Griechen, den Polites dieser Stadt, die den einen Unglück brachte, den anderen ihre größten Chancen eröffnete und die manche ganz in ihren Bann zog.
    Am Boot angekommen machte Timos dieses los und bot Axilla eine Hand an, damit diese ohne Probleme einsteigen konnte.
    "Machen wir eine kleine Bootsfahrt?" fragte er tonlos und mit ausdruckslosem Gesicht. Der Mond schien hell auf den Kanal herunter. Die verschiedenen Brücken über den Wasserweg, der tagsüber von den Getreidekähnen aus dem Portus Mareotis genutzt wurde lagen im Schatten der Häuser und warfen ihrerseits Schatten auf das ruhige Wasser, in dem Timos' Boot dümpelte.

  • Sie hatte ihn geknickt, das konnte Axilla sehen. Aber sie durfte jetzt nicht weich werden, zu ihrer beider Besten. Wenn sie jetzt doch wieder weich würde, hatte sie nicht die Kraft dafür, das zu tun, was sie tun musste. Sie konnte nicht immer das tun, was sie wollte, sie hatte Verantwortung. Auch für Timos. Zwar war er der ältere von ihnen beiden, aber im Moment fühlte sich Axilla irgendwie trotzdem erwachsener.
    Schweigend ließ sie sich von ihm ins Boot helfen und als sie saß, legte sie sich ihren Mantel wieder um. Ihr Kleid verbarg viel zu wenig, und nachdem sie wusste, was hier vor sich ging, wollte sie lieber mehr von sich verbergen. Sie war wohl wirklich zu naiv, wie ihr schon oft vorgeworfen worden war. Vielleicht hätte sie mal auf ihre Lehrer hören sollen, anstatt aus dem Fenster zu starren.
    Es war nur ein kurzer Weg über den Kanal, ebenso kurz wie der Weg hier her. Axilla wartete, bis das Boot wieder angelegt hatte, und ließ sich dann von Timos auch wieder auf den Weg helfen. Sie sah ihn wieder an, er schien ihr immer noch traurig zu sein. Aber was hatte er erwartet? Axilla fragte sich, welches Bild er wohl von ihr hatte. Sie mochte ihn gerne, ja, und sie hatte sich ihm in einem schwachen Moment mehr anvertraut als den meisten anderen Menschen. Aber…
    "Ich sollte dann jetzt besser schnell heimgehen. Bevor es wirklich spät wird und die Wachen noch dumme Fragen stellen, wenn ich heim will.“
    Dieser Abschied war bestimmt nicht so herzlich wie er hätte sein können. Aber Axilla hatte beschlossen, jetzt stark zu bleiben. Es war das richtige. Und sie wollte Timos auch keine falschen Hoffnungen machen. Sie mochte ihn gerne, ja, wirklich gerne. Aber sie liebte ihn nicht, und in diesem Moment wurde ihr das nur überdeutlich klar.

  • Während das Boot so gemächlich über das Wasser glitt, machte Timos sich eine Menge Gedanken. Er musste endlich Verantwortung übernehmen für das was er tat. Ihm wurde schlichtweg klar, dass er nun das Familienoberhaupt war und dass er Sorge tragen musste für alles, was seinen Brüdern und ihm und auch seiner Schwägerin in Spe geschah. Nach der ganzen Zeit, die sie nun schon in Alexandria verbracht hatten, war ihm das jetzt erst klar geworden. Nachdenklich blickte er zum Sternenhimmel auf und seufzte innerlich.
    Vergib mir, Vater. Ich werde den Göttern opfern und meine Rolle nun annehmen. Ich werde dich nicht enttäuschen!
    Ein stilles Versprechen war es, das er da gab und er würde es nicht brechen. Vielleicht kam irgendwann einmal der Zeitpunkt, an dem sein Vater auf ihn stolz sein konnte, doch das war noch nicht der Fall.
    Endlich erreichte das Boot den Aufstieg zur Straße. Oben angekommen bejahte Timos Axillas Worte mit einem stummen Nicken und lächelte so gut es ging.
    "Ich denke es ist besser, wenn wir uns nicht mehr sehen. Das ist sicherer für uns beide und unsere Familien."
    Ein Kuss, gehaucht auf Axillas Wange. "Pass auf dich auf."
    Dann ging er fort. Fort von diesem Fest, fort von dieser Rhomäerin, fort von all dem Elend, das er sich eingehandelt hatte. Sein neues Heim erwartete ihn und Ánthimos würde sich sicherlich freuen, dass er endlich 'vernünftig' geworden war. Ohne sich noch einmal umzuschauen verschwand die Silhuette des jungen Griechen in der Dunkelheit einer Gasse und wurde dem Sichtfeld der Iunierin entrissen. Was für eine abscheuliche Nacht.

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