1. Unterrichtsstunde
Ruhig saß Phaeneas da, unbewegt. Etwas seitlich zur Tür, ein Schatten lag auf dem linken Teil des Gesichts, die scharf akzentuierte Nase als Symmetrieachse. Die ernsten, regungslosen Augen dunkel, sie schimmerten fast schwarz. Wachsam waren sie auf den Eintretenden gerichtet, also den Lehrer. Und auf genau die gleiche ernste, neutrale Art sprach er ihn an: „Salve, magister.“ Gerade blickte der Sklave ihn an, die Augen unbeirrbar auf die des Lehrers geheftet.
Der Magister trat ein, neigte den Kopf. „Du bist also Phaeneas“, begann er mit einer Feststellung, worauf der Angesprochene – er war ja auch der einzige im Raum – nickte. „Dann lass uns gleich mit dem Unterricht anfangen.“
Er holte eine Wachstafel hervor, auf der alle Buchstaben eingeritzt waren, fein säuberlich, in schönem Abstand von einander. „Das alles wirst du am Ende kennen.“ Der Bithynier betrachtete die Auflistung, versuchte Unterschiede zwischen den Buchstaben zu erkennen. Bisher war für ihn etwas Geschriebenes nur eine Aneinanderreihung von all diesen Zeichen gewesen, mit denen er sowieso nichts anfangen konnte. Um das festzustellen genügte ein Blick.
Langsam las der Lehrer sie ihm vor, einen Buchstaben nach dem anderen. Dann holte er eine weitere, noch unbeschriebene Wachstafel hervor, sowie einen Stilus, und hielt Zweiteres seinem Schüler hin: „So, jetzt schreib es ab und sprich dir die Buchstaben dabei vor.“ In Phaeneas‘ Kopf hallte gerade noch ein „ ... V, X, Y, Z“. Entgeistert sah er den Magister an. „Ähm ... Und wie war der erste Buchstabe nochmal und der danach ...“ ‚... und der danach ...?‘, dachte der Sklave sich. Der Lehrer zog eine Augebraue hoch und meinte: „Nun denn, beginnen wir langsamer.“
In routinierter Bewegung schrieb er einen deutlich vergrößerten Buchstaben in das nachgebende Material ein:
A
„Das ist ein A“, erklärte er.
Es war seltsam für den Bithynier zu sehen, wie so etwas Altbekanntes, Wohlvertrautes zu einem solchen Zeichen, der Klang hier vor seinen Augen sichtbar wurde. ‚Das da ist also ein A‘, wiederholte Phaeneas für sich selbst. ‚Das ist also das, womit so viele Worte anfangen und in so vielem vorkommt.‘
„Schreib den Buchstaben nach und sprich ihn dir dabei laut vor“, erfolgte die Anweisung des Lehrers. Phaeneas nahm den Griffel in die rechte Hand. Er setzte vorsichtig auf dem Wachs an und ritzte langsam die Form eines A ein. Dazu sprach er den Laut.
Ein wenig ungelenk sah der Buchstabe schließlich aus, unsicher in der Linienführung, aber es war unverkennbar ein A. „Jetzt noch einmal!“, forderte der Lehrer ihn auf. Phaeneas nahm den Stilus wieder zur Hand und malte ein weiteres A auf die Tabula, wiederum sehr sorgsam, während er noch einmal den A-Laut wiederholte. Eine Zeit lang ließ der Magister ihn so üben, machte dazwischen Anmerkungen und gab Hilfestellung. Dann schrieb er ihm ein B auf, las es vor und ließ es den Sklaven auf die gleiche Art üben. Phaeneas gab sich bei allem Mühe, was der Lehrer ihm aufgab, und war dabei sorgfältig wie immer. Schließlich verfuhren sie mit dem C genauso – zwischendrin durfte der Bithynier die Wachstafel immer wieder mit dem abgeplatteten Ende des Stilus glattstreichen, auch das musste schließlich gelernt werden – bis der Lehrer eine besonders kleine, handliche Tabula hervorzog und sie Phaeneas samt einem Stilus überreichte. „Übe die Buchstaben, die du heute gelernt hast, wie wir es während des Unterrichts getan haben. Und achte überall auf Geschriebenes! Immer wenn du Text siehst, und sei es nur irgendein Gekritzel auf einer Mauer, such nach den gelernten Buchstaben. Am besten ist es natürlich, wenn du dich an schönen Schriften orientierst“, fügte er dann noch hinzu. Phaeneas jedenfalls nickte und nahm die Tafel an sich.