Nemo ante mortem beatus oder: Tage wie Dieser

  • Vor einigen Wochen? Tagen? Wer weiß...
    Zaghaft sprossen die ersten Pflanzen aus dem winterlich gebeutelten Boden, die ersten Knospen an den Bäumen sprossen hervor, um in wenigen Tagen in einem Meer von rosa, weißen und gelben Blüten zu erstrahlen und den Menschen laut und jubelierend zu verkünden, daß der Winter auch in Rom ein Ende hatte, auch oder gerade, denn die Wintermonate waren hier kürzer als im hohen Norden, wenn auch länger als in dem Süden, der den Winter nur als eine sanfte Liebkosung des kühleren Wetters kannte. Noch hatte die Amtszeit nicht begonnen, selbst wenn die Wahl vor wenigen Tagen statt gefunden hatte; Marcus wußte um der Ergebnis und war einerseits erleichtert, nicht auf die Nase gefallen zu sein, andererseits beklemmt, daß er jetzt keinen Schritt zurück machen konnte und wohl oder übel den Weg einschlagen, den seine Familie für ihn auserkoren hatte. Es war wenige Tage vor seinem vierzigsten Geburtstag, die Umstände in der villa konnten glücklicher sein, die Entführung lastete wie eine dumpfe, drückende Glocke über Marcus; aber sie konnte auch noch bedeutend schlechter sein; und wenn man eben glaubte, es konnte nur noch schlechter werden, so wurde es auch. Marcus wanderte unruhig im Garten auf und ab und starrte grübeln auf den Himmel, der sich langsam rot und purpur färbte, da die Sonne sich im abendlichen Spiel dem Horizont näherte. Ebenso, wenn auch um Längen weniger spektakulär und völlig farblos, näherte sich eine r der älteren Sklaven, der als Schreiber in dem Anwesen arbeitete. Stumm und wortlos reichte er Marcus einen Brief, den er zwischen der anderen Korrespondenz gefunden hatte; Marcus nahm ihn entgegen und sah den Sklaven fragend an, doch das Siegel war noch ungebrochen und er erkannte natürlich sofort den flavischen Abdruck darauf und die elegant schwungvolle Schrift seines Vetters.


    Der Sklave verließ den Garten als Marcus das rote Siegelwachs durchbrach und das Pergament öffnete, seine Augen flogen über die ersten Zeilen und leise murmelte er den einen oder anderen Brocken aus der Schrift vor sich her, denn leise lesen konnte Marcus immer noch nicht: Gruß und Heil dir, Vetter, nun wieder in der Ferne...Denn weit fort von Rom werde ich bereits sein, so du diese Zeilen liest, gen Achaia... nicht da mein Leib mich im Stich lässt, nicht da mein Geist neuerlich von Nebel umhüllt ist, meide ich deiner angesichtig zu werden vor der Abreise... So hoffe ich, du magst Nachsicht üben mit mir, kannst mir dies verzeihen...Eine Bitte indes möchte ich dir antragen, nicht um meinetwillen, sondern zum Wohle der Flavia, habe Acht auf meine Gemahlin und mehr noch meinen Sohn... Langsam ließ Marcus den Brief herunter sinken und starrte durch den immergrünen Bewuchs der Gartenlaube, durch den die sanften Strahlen der Abendsonne hindurch krochen und ein Schatten- und Lichtspiel auf den Boden, dem Brief und Marcus warf. Tatsächlich fühlte sich Marcus im Stich gelaßen, aber weniger, weil sein Vetter das Heil in der Ferne suchte und hoffte, dadurch zu geneßen, sondern mehr von den Göttern, die Manius Gracchus mit einem solch schweren Schicksal beluden; immerfort schien sich sein Vetter für unzulänglich zu halten, dabei war er der beste Flavier in der Familie gewesen, wahrscheinlich in der ganzen Ahnenreihe und ganz besonders seitdem sie in den patrizisischen Stand gehoben wurden, er hätte wohl ein nobler und würdiger Kaiser sogar werden, hätte viel bewegen und erreichen können, aber die Parzen waren grausam mit diesem Mann. Marcus' Schultern sackten hinab und er lehnte sich gegen eine umwachsene Marmorsäule in seinem Rücken; ein jünglinghafter Ganymed starrte höhnisch lachend zwischen den Säulen hervor, die Amphore bereit haltend, als ob er darauf wartete, daß Iuppiter herab stieg, um sich an der Ambrosia zu laben; hatte die Statue nicht immer Wohlgefallen bei Gracchus geweckt? Marcus seufzte nochmal und wandte die Augen von dem bemalten Marmor ab. Es war schlimmer geworden; jetzt war Marcus der Letzte von den drei Vettern in Rom, die einst doch sich so zugetan waren und in tiefer Freundschaft verbunden; die Familie schien immer mehr auseinander zu brechen; Marcus erhob sich und wanderte in Richtung des Hauses, um den Kummer heute mit einigen Amphoren Wein zu ertränken.

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