Irgendwo in der Wildnis der Abruzzen

  • Früh am Morgen war ich aufgebrochen, um einige Schafe zu suchen, die in der Nacht davon gelaufen waren, als dieses schreckliche Unwetter durch das Tal gezogen war. Der starke Wind und die Regenmassen hatten eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Der Zaun des Schafsgeheges war an einer Stelle zerstört worden. Als dann Blitz und Donner, begleitet von einem Hagelschauer einsetzte, hatten die Tiere Panik bekommen.


    Das reinigende Unwetter hatte nun einen azurblauen Himmel hinterlassen. Die Sonne begann mit ihren ersten Stahlen das Nass der Erde zu trocknen. In Bergen stiegen dichte Dunstschwaden auf. Die Götter versöhnten sich wieder mit der Erde und den Menschen, die auf ihr lebten.
    Zu meiner Sicherheit hatte ich mir ein Messer mitgenommen. Hier draußen in der Wildnis hatte man immer mit wilden Tieren zu rechen. Aus diesem Grund war auch Eile geboten, wollte ich meine Schafe noch lebend antreffen.
    Die Nässe machte meinen alten Knochen wieder ordentlich zu schaffen. Seit einiger Zeit machte sich das Alter nun endgültig bemerkbar. Mir war schon lange klar, ich war kein junger Mann mehr. Hier ein Wehwehchen und da ein Wehwehchen. Wenn es den Göttern gefiel, dann hatte ich noch einige Jahre vor mir, die ich in Frieden und in aller Abgeschiedenheit, fernab vom Trubel der so genannten zivilisierten Welt verbringen konnte.


    Es gab nichts schöneres, als die frische Luft des Morgens, die ich in meine Lungen einzog. Der Anblick dieses herrlichen Landes, welches fast noch unberührt vor mir lag. Nur einige wenige Menschen zogen es vor, in dieser Wildnis zu leben. Es waren zumeist Hirten und Bauern, die der Erde das Nötigste abverlangten, um ihr Überleben und das ihrer Familien zu sichern.
    Wenn ich auf mein langes Leben zurück schaute, so bereute ich nichts von alldem, was ich getan oder zu wozu ich mich entschlossen hatte. Und sollte dies mein letzter Tag auf Erden sein, so würde ich mich auch nicht beklagen.


    Mein Leben begann verheißungsvoll vor mehr als sechzig Jahren. Ich war der jüngste von sechs stattlichen Söhnen. Unser Vater war sehr streng aber auch sehr stolz auf uns. Natürlich setzte er auch große Erwartungen in uns. Für jeden einzelnen von uns wünschte er sich eine hervorragende Karriere, sei es eine militärische, eine politische oder eine im Dienste der Götter.
    Ich genoss eine ausgezeichnete Bildung. Bereits in sehr jungen Jahren scharten sich einige der besten Gelehrten Achaias um mich und meine Brüder, um uns das Wissen der Welt näher zu bringen. Die sieben freien Künste waren es, mit denen ich damals zu ersten Mal in Berührung kam. Sie sollten mich auf ein Leben vorbereiten, welches voll und ganz meinem Stand entsprach. Für einiges konnte ich sogar Begeisterung aufbringen. Geometrie und Arithmetik hatten recht früh mein Herz erobert, während ich für das
    trivium nur wenig entgegenbringen konnte.
    Einige Jahre später schickte mein Vater mich dann nach Griechenland, so wie er es mit meinen Brüdern zuvor getan hatte. Er hoffte, ich käme als geformter und orientierter, junger Mann zurück, der wusste, was er aus seinem Leben machen wollte. In einem sollte er Recht behalten.
    In meinen Taschen hatte ich genügend Geld, um es mir gut richtig gehen zu lassen. Ich liebte Athen und besonders liebte ich die Athenerinnen und den griechischen Wein. Zeit fürs Lernen blieb da wenig.
    Carpe diem war meine Devise. Pflücke den Tag! So lebte ich. Bis ich mich eines Tages fragte, ob da nicht noch mehr war.
    Ich war des Saufens und des Hurens überdrüssig geworden. Mit der Bildung hatte ich eh schon lange abgeschlossen. Bevor ich Athen und somit die vorgefertigte Spur meines Lebens verließ, schrieb ich einen letzten Brief an meinen Vater. Darin teilte ich ihm mit, dass ich keinen gesteigerten Wert mehr legte auf das verkommene Leben, welches mich in Rom erwartete. Ich wollte frei sein. Frei von allen Zwängen, die mir diese verlogenen Gesellschaft aufzwang. Ich bedankte mich für die Annehmlichkeiten, die mir bisher sein Geld beschieden hatte und wünschte ihm noch ein langes Leben.
    Damit hörte ich für meine Familie auf, zu existieren. Ich war nur noch dem Namen nach ein Flavius und den verleugnete ich oft genug. Ob ich undankbar war? Nein, nicht im Geringsten! Ich war ausgebrochen und konnte nun endlich meine Freiheit genießen.


    In Piräus heuerte ich auf einem Schiff an, welches mich nach Ägypten brachte. Die körperliche Arbeit war anfangs noch ungewohnt. Doch ich begann, sie zu mögen. Es war ein unglaubliches Gefühl, sich mit der eigenen Hände Arbeit ernähren zu können. Zum Leben brauchte ich nicht viel. Täglich etwas Brot, Fisch und Oliven, ab und zu neue Kleidung.
    Und dann betrat ich ägyptische Erde….

  • Ich war schon ein ganzes Stück weit in das unwegsame Gelände vorgedrungen. Der Boden war noch matschig von den mächtigen Regenergüssen der letzten Nacht. Das machte mein Fortkommen umso schwieriger. Doch die schlechte Bodenbeschaffenheit hatte auch einen Vorteil. Ich konnte den Spuren der entflohenen Tiere besser folgen. Danach waren die vier Ausreißer im Verband entwischt. Das machte die Sache etwas einfacher. Doch noch hatte ich sie nicht gefunden. Wenn das Glück mir nicht Hold war, dann hatte sie bereits ein Wolf oder ein Bär gerissen. Dies waren Tiere, die in der Einsamkeit der Berge sehr oft vorkamen. In manchen Winternächten hatte ich oft schon das Geheule der Wölfe hören können, wenn sie sich aus der Not heraus bis fast zu den menschlichen Ansiedlungen vorwagten, um dort Nahrung zu finden. Manchmal rissen sie eines der Schafe. Anfangs hatten mich diese Übergriffe nicht kalt gelassen und ich wollte Rache für meinen Verlust nehmen. Doch dann erkannte ich, dass das Leben hier draußen ein Geben und Nehmen war. Schließlich war ich derjenige, der sich in ihr Terrain vorgewagt hatte, um dort zu leben.
    Danach hatte ich nur noch eine einzige bedrohliche Begegnung mit canis lupus italicus, deren tödlicher Ausgang in letzter Minute abgewendet werden konnte. Ansonsten gingen wir uns erfolgreich aus dem Weg. Ich hatte gelernt, die Natur zu respektieren. Nur so konnte ich im Einklang leben und so hatte ich auch die letzten Jahre überlebt.
    Aber wo war ich mit meiner Geschichte stehen geblieben? Ach ja, Ägypten!


    Unser Schiff lief in den Hafen von Alexandria ein. Ich hatte schon viel von dieser prächtigen Stadt und ihren Reichtümern gehört. Aber die Reichtümer interessierten mich nicht. Mit meinen Kameraden begab ich mich auf Landgang. Sie wollten die Stadt unsicher machen, wie sie großspurig behaupteten. Nach den Tagen auf See war diese Stadt eine willkommene Abwechslung. Mich jedoch zog es nicht in die Tavernen und Lupanare der Stadt. Der Fremdenmarkt schien mir weitaus interessanter zu sein. Die Ägypter an sich waren schon fremdartig. Doch was auf ihren Märkten angeboten wurde, war noch um ein Vielfaches exotischer. Ich kann mich noch erinnern, als wäre es erst gestern gewesen. Die vielen unterschiedlichen Düfte die auf mich einwirkten, Tiere und Früchte die ich niemals zuvor gesehen hatte, fremdartige Menschen, teils mit tiefschwarzer Haut und ungewöhnlichen Gewändern bekleidet. Aber ich erinnere mich auch noch gut an das Sprachengewirr, welches dort herrschte. Vorrangig war das Griechisch zu hören, was man überall sprach und dessen ich auch mächtig war. Die Fremden jedoch sprachen in vielen verschiedenen Sprachen miteinander. Sprachen die in meinen Ohren so fremd klangen, so dass ich gar nicht herausfinden vermochte, mit welchen Sprachen ich es zu tun hatte.
    Ich traf dort auf einen parthischen Händler, der mit allerhand Gewürzen handelte. Durch Zudfall verwickelte mich in ein Gespräch. An meinen damals noch dunkelblonden Haaren hatte er erkannt, dass ich nicht so recht zu diesem Land passte, was ja auch den Tatsachen entsprach.
    Am Anfang stand noch die Absicht, etwas verkaufen zu wollen im Vordergrund, weshalb er sich so lange mit mir abgab. Doch da ich mich als sehr wissbegieriger Zuhörer entpuppte, lud er mich ein. Zuerst auf einen kleinen Imbiss an seinem Verkaufsstand und am Abend zu sich in seine Herberge. Mir kam das gerade recht, denn eine Unterkunft hatte ich noch nicht gefunden. Außerdem erschien mir ein richtiges Bett gegenüber meiner Hängematte auf dem Schiff die weitaus angenehmere Wahl.
    Der Händler, mir ist leider sein Name entfallen, residierte fast schon fürstlich in einer ganz ansehnlichen Herberge. Sie war komplett für ihn und seine Begleiter in Beschlag genommen worden. Eine ganze Handelskarawane, die einige Tage in Alexandria blieb, um dann weiter zu ziehen.
    Einer seiner Untergebenen wies mir ein freies Zimmer zu und versorgte mich mit sauberer Kleidung. Es war eine Wohltat, nachdem ich frisch gewaschen und rasiert die neuen Kleider überstreifte. Die parthische Kleidung war anfangs etwas gewöhnungsbedürftig. Jedoch fühlte ich mich spätestens dann darin wohl, als man mich zum Abendmahl bat.
    Üppige Speisen und Getränke warteten auf mich. Ganz neue Geschacksaromen lernte ich an diesem Abend kennen. Der Höhepunkt des Abends war jedoch die Anmut und Schönheit einer jungen Frau, deren Gesicht durch einen transparenten Schleier geschützt war. Allerdings waren ihre Reize offensichtlich. Taaraa hieß sie und sie war bis dahin das Schönste, was meine Augenerblicken durften. Ihr Name bedeutete Stern und genauso waren ihre Augen. Zwei leuchtende Sterne, die mein Herz zum erleuchten brachten.
    Ich konnte kaum meine Blicke von ihr lassen. Auch sie war von meinem hellen Haar fasziniert. Ihrem Vater durfte wohl mein Interesse für seine Tochter nicht entgangen sein. Nach dem Essen zogen sich die Männer (und ich mit ihnen) zurück in einen Nebenraum, der ganz mit Kissen und Teppichen ausgelegt war. Ich ließ mich neben dem Händler nieder. Wir setzten unsere Unterhaltung fort, während Sklaven uns Pfeifen reichten. Einige spärlich bekleidete Mädchen kamen hinzu und begannen zu musizieren. Eine Andere tanzte dazu. Mein Gesprächspartner beschwor die fernen Länder, die er in regelmäßigen Abständen besuchte und wo er Handel trieb. Er nannte Namen, die mir völlig fremd waren. Langsam regte sich in mir die Sehnsucht nach der Ferne. Der Rauch der Pfeife tat sein Übriges und zeigte schon bald seine Wirkung. Daran war ich nicht gewöhnt.
    Ich konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, was an jenem Abend noch alles geschah. Am nächsten Morgen jedoch war ich mir sicher, wohin mich mein weiterer Weg führen sollte: In die Weite der Wüste und hin zu fernen Ländern.

  • Endlich! Im Boden vor mir entdeckte ich noch ganz frische Spuren, die von meinen Schafen stammen konnten. Meine Stimmung hob sich wieder, denn ich hatte nicht mehr damit gerechnet, meine Tiere wieder zu finden. Ich folgte den Spuren. Meine Schritte wurden größer, trotz des Anstiegs meines Weges. Der Spuren führte auf eine Anhöhe, vorbei an zerklüfteten Felswänden. Leider hatte ich nur wenig Muse für die überwältigende Aussicht die sich mir bot. Ich hatte meine Schafe zu finden, denn sie waren die Grundlage für mein Überleben. In der Ferne hörte ich ein Blöken. Das mussten sie sein! Ich beeilte mich noch mehr. Als ich die Anhöhe schließlich erklommen hatte, tat sich direkt vor mir ein Abgrund auf. Auf einem mit Gras bewachsenen Felsvorsprung entdeckte ich drei meiner Schafe. Mein erster Gedanke war, ich musste dort hinunter um die Tiere zu holen! Jedoch war mein Vorhaben nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick aussah. Die Erde war immer noch feucht und der Fels glitschig. Mein Ehrgeiz aber war es, der mich voran trieb, die Tiere zu retten. Derselbe Ehrgeiz, der mich auch damals, vor vielen Jahren beseelte, als ich mich anschickte, die Wüste zu erobern:


    Ich hatte meine Entscheidung nicht bereut, mich der parthischen Handelskarawane anzuschließen. Die Wüste, die ich bis dahin als lebensfeindliche Umgebung wahrgenommen hatte, zeigte mir immer wieder, welche Überraschungen sich doch in ihr verbargen und wo überall Leben möglich war. Und auch die Beziehung zu dem parthischen Händler, Farid war sein Name, festigte sich und wandelte sich allmählich zu einer freundschaftlichen. Er ging sogar soweit und nahm mich mit zu seiner Familie, die mir alle Annehmlichkeiten der Gastfreundschaft zuteilwerden ließ. Doch da war noch Taaraa, Farids wunderschöne Tochter, deren Anblick mich jedes Mal verzückte, wenn sie mir begegnete. Auch wenn sie ihr Antlitz unter einem seidenen Schleider verbarg, so vermochte ich so viel zu sehen, dass mein Herz regelmäßig dahin schmelzen wollte. Mein größter Wunsch war es, ihr Herz zu besitzen. Eines Tages fasste ich mein Herz und redete mit ihrem Vater. Farid, der mir immer zugetan war, seit er mich kannte, war alles andere begeistert. Er erklärte mir, er habe seine Tochter bereits einem reichen Kaufmann in Hatra versprochen. Für mich bracheine Welt zusammen. Noch am gleichen Abend schlich ich mich zu Taaraa und gestand ihr meine Liebe. Auch sie empfand etwas für mich. Ich überredete sie, mit mir zu fliehen. Ich packte das notwendigste zusammen, nahm mir eines der Kamele und verließ zusammen mit meiner Geliebten das Nachtlager der Karawane.
    Wir ritten hinaus in die Wüste. Die Nacht bot uns eine Möglichkeit, unseren Vorsprung auszubauen. Mir war klar, ich hatte Farids Zorn auf mich gezogen und er würde nicht eher ruhen, bis er seine Tochter wieder bekam. Was er dann mit mir tat, konnte ich mir sehr gut vorstellen.
    Als dann am nächsten Morgen die Sonne aufging, hatten wir schon ein ganzes Stück geschafft. Ich wollte versuchen, die Grenze nach Syrien zu erreichen. In einer römischen Provinz, so hoffte ich, konnte mir Farid und seine Männer nicht so viel anhaben. Aber der Weg bis dorthin war noch weit und die Sonne konnte unerbittlich sein. Als unser Wasser knapp wurde, lernte ich die Wüste von einer anderen Seite kennen. Nach einigen Tagen wurde mir klar, wir waren die ganze Zeit im Kreis geritten. Dann schickten die Götter uns auch noch einen Sandsturm…
    Unsere Flucht hatte unter keinem guten Stern gestanden. Unser Kamel verendete im Sandsturm und als dann das Wasser zu Ende ging, starb meine Geliebte. Sie war schon zu geschwächt. Mit letzter Kraft verscharrte ich ihren Leichnam im Sand. Halbtot schleppte ich mich weiter, bis ich schließlich im Sand erschöpft zusammen brach.


    Bevor ich zu dem Felsvorsprung hinunterkletterte, hielt ich kurz ein. Nach all den Jahren dachte ich immer noch an sie, meine große Liebe, die mir von der Wüste genommen wurde. Meine Augen wurden leicht feucht, aber ich erinnerte mich schnell wieder daran, was ich zu tun hatte. Vorsichtig begann ich, nach unten zu klettern. Der Felsvorsprung war schon fast zum greifen nah. Da geschah es. Ich verlor meinen Halt und stürzte hinab, zu meinen Schafen. Ich hatte Glück gehabt, denn ich hatte mich nicht schlimm verletzt. Mein Bein schmerzte etwas. Vorerst blieb ich liegen und wollte mich ausruhen. Meine Schafe glotzten mich fragend an und ich musste lachen. Das Lachen verging mir allerdings bald. Nämlich als ich versuchen wollte aufzustehen. Mein Bein versagte mir. Im schlimmsten Fall war es gebrochen.

  • Der Schmerz wollte einfach nicht abebben. Vorsichtig versuchte ich, mein Bein zu bewegen. Ich ließ aber gleich wieder davon ab, denn mein Vorhaben bescherte mir höllische Schmerzen. Da half es auch nicht, einfach die Zähne zusammenzubeißen. In einer gewaltigen Kraftanstrengung gelang es mir, mein Bein wenigstens in eine gerade Lage zu bringen. Ich schwitzte Blut und Wasser, musste aber bald erkennen, dass es zwecklos war. Ich saß hier auf diesem Felsvorsprung mitten in einer menschenleeren Einöde, nur mit meinen dummen Schafen fest. Mein Schicksal schien besiegelt, so wie damals, vor einer halben Ewigkeit, irgendwo in der Weite der nabataeischen Wüste:


    Den Mut weiter zu Leben, hatte ich verloren, so wie ich auch alles andere verloren hatte, was mir bis dato wichtig gewesen war. Ich wartete nur noch darauf, bis die erbarmungslose Sonne meinem Körper das letzte Bisschen Leben entzog und nur noch meine weißgebleichten Gebeine übrig lassen würde. Stunde um Stunde wurde es heißer und heißer. Ich rief die Götter an, die ich in den letzten Monaten so schändlich vernachlässigt hatte, sie mögen mir ein schnelles Ende bereiten. Aber diesen Gefallen wollten sie mir nicht erweisen. Als die Sonne am höchsten Stand, begann mir mein Geist etwas vorzugaukeln, so glaubte ich jedenfalls. Ich hörte auf einmal Stimmen und Geräusche von sich nähernden Kamelen. Das musste das Ende sein! Ich war mir gewiss, der Fährmann wartete bereits auf mich. Drum überraschte es mich nicht, als ich auf meiner Zunge einige Tropfen des kühlen Nass spürte. Es fühlte sich so real an, fast als wäre es echt. Ich kann nicht mehr genau sagen, wie lange es gedauert hatte, bis ich endlich begriff, dass dies nicht das Ende war. Eine Karawane hatte mich gefunden. Einer der Männer, der mir zu trinken gegeben hatte, wickelte mich in ein Stück Tuch und packte mich, einem Warengut gleich, auf sein Kamel. Ich schwankte zwischen Traum und Wirklichkeit, bis man sich mir am Abend wieder annahm. Mein Retter begann auf mich in einer fremden Sprache einzureden und flößte mir noch mehr Flüssigkeit ein, eine stärkende Suppe, wenn ich mich recht entsinne.
    Nach einigen Tagen war ich wieder einigermaßen zu Kräften gekommen. Ich hätte selbst auf dem Kamel reiten können. Doch das wiederum traute man mir nicht zu. Am Abend kamen einige der Männer, darunter mein Retter und derjenige, der das Sagen hatte, zu mir und beäugten mich. Ohne mir größere Beachtung zu schenken, unterhielten sie sich in ihrem Kauderwelsch. Worum es dabei ging, war kaum zu übersehen. Ich war der Gesprächsstoff! Das Ganze war mir sehr suspekt. Ehe ich mich versah, fand ich mich in Fesseln wieder. Das bequeme Kamel, auf dem ich die letzten Tage mit reiten durfte, musste ich gegen eine Eisenkette eintauschen, die an meinem Hals befestigt wurde. Ich war an eine Sklavenkarawane geraten, die sich auf dem direkten Weg nach Damaskus befand. Eigentlich hatte ich mir meine Rückkehr ins Imperium etwas anders vorgestellt. Vielleicht konnte mir dort der verhasste Ring meines Vaters aus dem Schlamassel wieder heraushelfen. Ich trug ihn verborgen an meinem Körper.
    In Damaskus wurden die bemitleidenswerten Kreaturen, deren Schicksal ich nun auch teilen sollte, verkauft. Mein helles Haar war für die Menschen dort etwas Sensationelles und erwartungsgemäß erzielte ich einen guten Preis. Eine fette alte Dame hatte den Zuschlag bekommen. Sie nahm mich gleich mit nach Hause. Ich hätte ein wahrhaft schönes Leben bei ihr haben können, wenn ich denn eine Schwäche für ältere Damen mit Mundgeruch gehabt hätte. Leider war dem nicht so. Ich zog meine Freiheit vor. Als sich eine Gelegenheit bot, sprach ich auf dem Forum einen Landsmann an. Ich gab mich als Flavius zu erkennen und erzählte ihm die Geschichte, hundsgemeine Parther hätten mich entführt und an eine nabataeische Sklavenkarawane verhökert. Als Beweis diente der Ring meines Vaters. Wie ich so nebenbei erfuhr, hatte es doch tatsächlich ein Abkömmling meiner Familie geschafft, die Kaiserwürde an sich zu reisen. Ein gewisser Titus Flavius Vespasianus, der im Jahr zuvor zum Kaiser ausgerufen worden war und nun in Judaea den Juden das Fürchten lehrte, trug dazu bei, dass ich ganz schnell wieder die Ketten der Sklaverei abschütteln konnte. Doch stattdessen nun wieder in den bequemen Schoß der Familie nach Rom zurückzukehren, zog es mich ans Meer. Ich reiste nach Tyrus und von dort nahm ich ein Schiff, das mich an die Gestade Cretas bringen sollte.


    Ich war eingenickt. Die raue Zunge eines meiner Schafe weckte mich wieder. Augenscheinlich hatte es sich schuldig gefühlt und wollte auf diese Weise wieder etwas gutmachen. Das war mein Glück, denn dadurch hörte ich das Pfeifen des Jungen, der mich retten sollte. Voller Inbrunst rief ich nach Hilfe, so laut ich nur konnte. Kurz darauf erschien das Gesicht des jungen Ziegenhirten, der sich über den Rand des Abgrundes gebeugt hatte und nun zu mir herunter schaute.
    "Bitte, hilf mir! Ich bin runter gefallen und habe mir den Fuß gebrochen!"

  • Der junge Ziegenhirte, ein etwa zehnjähriger Junge, blieb konsterniert stehen, sah auf mich herab, sah die Schafe, die bei mir waren und betrachtete sich die Beschaffenheit des Felsens, den er hätte hinunterklettern müssen. Dann, ganz plötzlich war er verschwunden!
    "He, Junge! Bleib hier! Hilf mir doch!" rief ich verzweifelt, musste aber bald feststellen, wie sinnlos mein Rufen war. Tss, die Jugend von heute, dachte ich verächtlich bei mir. Wir waren da damals ganz anders! Wir packten auch einmal an, wenn es mal nötig wurde! So wie damals, auf Creta:


    Der ungeliebte Siegelring meines Vaters hatte mich vor einem großen Unglück bewahrt und durch ihn genoss ich für eine kurze Zeit wieder die Annehmlichkeiten des Lebens, wie ich sie früher schon aus meiner Jugend gekannt hatte. Zweifelsohne hatte meine Familie an Ruhm und Ehre gewonnen, wovon selbst ich, das schwärzeste Schaf der Familie, profitieren konnte. So reiste ich mit einem komfortablen Schiff und nicht mit einer alten Schaluppe über das mare nostrum nach Creta. In Hieraptyna ging ich an Land. Meine eifrigen Begleiter wollten mich dazu nötigen, mit ihnen weiter nach Gotyna zu reisen, damit ich den dort ansässigen Proconsul der Provinz kennenlernen konnte.
    Allerdings konnte ich sie davon überzeugen, die erste Nacht in der kleinen Hafenstadt zu verbringen und dann erst am nächsten Tag in die Provinzhauptstadt weiter zu reisen. In einer gut ausgestatteten Herberge fanden wir Unterkunft und beschlossen dort den Tag mit einem rauschenden Festmahl. Währendessen meine Begleiter an diesem Abend Bacchus frönten, zog ich es vor, mich mit dem Alkohol weitestgehend zurückzuhalten, denn ich hatte meine Entscheidung längst getroffen. Keinesfalls wollte ich wieder in das Leben zurück, vor dem ich vor Jahren geflohen war. Es war nur eine Frage der Zeit, bis meine "Freunde" völlig besoffen auf ihren Klinen lagen und ihren Rausch ausschliefen. Ich hingegen sah zu, dass ich verschwand. Bis auf einige Kleider, den Siegelring meines Vaters und ein wenig Proviant, ließ ich alles zurück.
    Noch in derselben Nacht verließ ich Hieraptyna und bewegte mich ins bergige Landesinnere vor. Ich wollte so weit wie möglich kommen, wenn man meine Flucht am nächsten Tag bemerkte. Hier draußen würde mich niemand finden.
    In der rauen Landschaft der Berge, die nur von spärlichen Wäldchen gesäumt waren, wollte ich mir einen Unterschlupf suchen. Als der Morgen anbrach und die Sonne aufging, sah ich zurück, hinunter auf die Hafenstadt. Hinter ihr lag das tiefblaue Band des Meeres, das schier endlos schien. In der Luft lag der würzige Duft von Kräutern, für die die Insel so berühmt war. Wenn ich genau hinsah, bemerkte ich, dass ich nicht weit suchen musste. Die Kräuter, für die man in Rom teuer bezahlte, wuchsen wild am Wegesrand. Thymian, Salbei, Rosmarin, Lavendel, Oregano und Diktamos. Letzters sollte mir noch oft gute Dienste leisten, wenn ich mich einmal verletzte.
    Für manch anderen war diese Umgebung lebensfeindlich, für mich war es wie ein Paradies. Es dauerte fast zwei Tage, bis ich auf den ersten Menschen traf. Das war auch gut so, denn meine Vorräte waren zu Ende gegangen. Mit meinem Griechisch versuchte ich mich zu verständigen. Der cretische Dialekt der Einheimischen machte mir anfangs noch etwas zu schaffen. Aber es gelang mir, den Mann zu überzeugen, mir zu helfen. Er nahm mich mit zu seiner Hütte, wo er mit seiner Frau und etlichen Kindern, sowie einer kleinen Herde von Ziegen hauste. Die Gastfreundschaft dieser einfachen Leute war grandios. Obwohl sie kaum mehr hatten, als sie selbst zum überleben brauchten, nahmen sie mich freundlich auf, gaben mir zu Essen, zu Trinken und ein Dach über dem Kopf. Am nächsten Tag, bot ich mich an, dem Mann zu helfen. Ich packte überall dort an, wo Hilfe nötig war. Auch wenn die Arbeit und das Leben hart waren, fühlte ich mich zum ersten Mal seit langem wieder richtig wohl. Nach und nach nahm ich die Angewohnheiten dieser Leute an, sprach wie sie, ernährte mich wie sie, sah aus wie sie, lebte wie sie. Von Rom, meiner Familie oder das was in der Weltgeschichte so vor sich ging, bekam ich nichts, absolut gar nichts mit. Das war auch gut so. Trotzdem verließ ich meine neue Familie nach über einem Jahr, um selbst eine zu gründen. Sie hieß Agapi und war von Anfang an meine cretische Wildblume, als ich sie zum ersten Mal erblicken durfte. Sie war die Tochter eines Freundes meines Freundes. Vor unserer Vermählung hatte ich für uns eine Hütte gebaut. Zur Hochzeit erhielten wir einige Ziegen und auch Agapi brachte einige Tiere mit in die Ehe. Das sollte unser Grundstock für unser gemeinsames Glück werden. Ich sehe sie noch genau vor mir, in ihrem schönen Kleid, ihre dunkeln Augen und ihr tiefschwarzes, lockiges Haar. Ich hatte sie geliebt, sehr sogar und neun Monate später schenkte sie mir unser erstes Kind. Es war ein Mädchen. Wir nannten sie Eleni, die Leuchtende.


    Meine Augen waren feucht geworden, als ich an Agapi und Eleni dachte. Was hätte ich dafür gegeben, dass diese glückselige Zeit niemals geendet hätte? Damals hatte ich meinen Platz gefunden, an dem ich hätte glücklich werden können.


    "Manius?!" rief plötzlich eine Stimme. "Manius? Bist du da unten?" Dann erkannte ich ein Gesicht, welches auf mich herunter blickte, genau dort, wo vor etwa einer Stunde der Ziegenhirte gestanden hatte. Ich konnte mein Glück kaum fassen! Es war mein alter Freund Severus, der ganz und gar nicht ernst war, aber auf den man immer zählen konnte.
    Mein alter Freund kam hinunter geklettert und rettete mich und meine Schafe. Sein Sohn, der junge Ziegenhirte, half ihm dabei. Die beiden brachten mich zurück zu meiner Hütte und versorgten mein Bein.

  • Severus´ Sohn versorgte die Schafe, die zurück geblieben waren und sperrte die Ausreißer wieder ein. Sein Vater kümmerte sich derweil um mich in meiner bescheidenen Hütte. Er wusch mich, schiente mein gebrochenes Bein und bereitete mir etwas zu essen. Dann setzte er sich zu mir und sah mir zu, wie ich eifrig meinen Puls hinunterschlang. Ich wusste genau, was in seinem Kopf vorging, denn auch mir hatten sich bereits diese Gedanken aufgedrängt. Ich war nicht mehr der Jüngste und auf Dauer war das kein Leben hier draußen für einen alten Mann wie mich, der in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt war.
    "Manius, hast du schon mal daran gedacht, das alles hier hinter dir zu lassen?" Severus war mein Freund. Ich kannte ihn schon seit vielen Jahren. Auch wenn seine Direktheit manchmal verletzend sein konnte, so waren seine Einwände doch immer berechtigt. Ich schluckte den letzten Rest Puls hinunter und starrte ihn völlig entgeistert an.
    "Was meinst du? Bist du irre? Das hier ist mein Leben, hierin stecken alle meine Erinnerungen! Das ist alles, was ich habe! Und das soll ich aufgeben? Wegen so was?" Ich deutete auf mein geschientes Bein, das mir auch jetzt noch einige Schmerzen bereitete. Im Grunde hatte er ja recht und das wusste ich auch. Nur wollte ich es mir noch nicht eingestehen.
    "Das verstehe ich ja, Manius. Aber wer glaubst du, wird dich hier täglich versorgen, he? Und damit meine ich nicht nur deine Schafe. So ein Beinbruch kann langwierig sein, wenn er nicht richtig versorgt wird. Du brauchst jemanden, der nach dir sieht und der sich um dich kümmert, Manius!"
    Bei jedem seiner Worte ließ ich meinen Kopf tiefer sinken, denn ich wusste, es gab niemanden. Die Zeit in Creta hatte ich längst hinter mir gelassen. Agapi, meine Frau und unsere kleine Tochter, waren an einem schlimmen Fieber gestorben und daraufhin hatte ich die Insel fluchtartig verlassen. Die Götter waren mir nicht mehr gewogen und selbst denen, die sich mit mir abgaben, drohte Gefahr. Denn auf kurz oder lang waren sie verdammt und gingen jämmerlich zu Grunde. Das war mit Taaraa so und mit Agapi und Eleni war es nicht anders. Als ich damals zur größten Enttäuschung meines Vaters wurde, hatte ich den Zorn der Götter heraufbeschworen. Damals war ich noch einige Jahre heimatlos umhergezogen, hatte mich auf verschiedenen Schiffen verdingt und lebte zwischenzeitlich auch in einigen Häfen. Jeden Abend vertrank ich das wenige Geld, das ich am Tage verdient hatte, um dem Schmerz damit zu lindern.
    Eines Tages hatte ein Gewürzhändler, der auf dem gleichen Schiff mitfuhr, auf dem ich grade arbeitete, Mitleid mit mir. Er gab mir vier Dinge mit: eine Pfeife, die mit Kügelchen aus Schlafmohn bestückt war, einige Samenkapseln der Drogenpflanze, ein Beutel mit Sesterzen und den guten Rat, etwas aus meinem Leben zu machen. Der nächste Hafen, den wir anliefen, war Brundisium. Ich war schon ewige Zeiten nicht mehr in Italia gewesen. Dort ging ich von Bord und folgte der Via Appia nach Capua. Dort hatte ich noch den Entschluss, nach Rom weiter zu reisen, um in der ewigen Stadt, unter falschem Namen versteht sich, ein neues Leben zu beginnen. Doch einige Tage, bevor ich Rom erreichen sollte, zerfraßen mich meine Bedenken und ich änderte meine Pläne. Ich verließ die die Straße nach Rom und wanderte hinauf in die Berge. Großzügig umging ich die Stadt und landete schließlich in den Abruzzen. Hier, so hatte ich beschlossen, wollte ich Wurzeln schlagen. Ich baute eine Hütte, pflanzte die Samen des Schlafmohnes an, dessen Droge mir ein hervorragender Ersatz für den Alkohol geworden war und lernte auch bald meine weit verstreuten Nachbarn kennen. Die eine oder andere Liebschaft hatte ich auch über die Jahre. Aber den Mut, mich wieder richtig zu binden, fand ich nicht mehr. Es schien, als hätte ich endlich meinen Frieden gefunden.

    Ich starrte eine Weile ins Leere und richtete dann meinen Blick wieder auf Severus. "Du hast ja recht, alter Freund! Meine Zeit hier ist vorbei. Ich bin alt und dieser verdammte Beinbruch wird mich auch nicht jünger machen. Das Dumme ist nur, ich habe niemanden, der sich um mich kümmern könnte", gab ich schmerzlich lächelnd zu. Severus aber wollte nicht locker lassen. Er dachte nach, wie er mir helfen konnte.
    "Hast du keine Verwandten mehr, die dich aufnehmen könnten? Du musst doch noch Familie haben, Manius! Denk nach! Gibt es niemanden mehr?"
    Mein Lächeln wich, so schnell wie es gekommen war. Ich wusste, es gab Verwandte und den Ring meines Vaters hatte ich auch all die Jahre gut verwahrt. Aber konnte ich wirklich den Mut aufbringen, mich meiner Vergangenheit zu stellen, nach so vielen Jahren? Mein Vater war mit Sicherheit schon lange tot. Was aus meinen Brüdern geworden war, konnte ich nicht sagen. Von ihnen hatte ich all die Jahre nichts mehr gehört. Allerdings hatte ich auch keinen gesteigerten Wert darauf gelegt, von ihnen zu hören.
    "Es gibt noch jemanden. Ich habe noch Familie in Rom. Allerdings weiß ich nicht, ob sie mich noch als Familie betrachten. Das alles ist zu lange her."
    Lange sahen wir uns an, Severus und ich. Er wusste, welche Überwindung es mich kosten würde, nach Rom zu gehen und wie ein Bettler um Almosen zu bitten.
    "Wenn es dir hilft, Manius, werde ich dich begleiten. Ich helfe dir mit den Schafen und deiner Habe und werde dich auch sicher nach Rom bringen. Was hältst du davon?"
    Das war ein großzügiges Angebot, wie es nur ein sehr guter Freund machen konnte. Und es war das vernünftigste, was ich tun konnte.
    "Gut! Dann also Rom!", entgegnete ich ihm nickend und beendete damit wieder einen Abschnitt meines Lebens um dann den wohl letzten damit einzuläuten.

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