ATRIVM | Ankunft eines Verschollenen


  • Acanthus höchstpersönlich lief, immer wieder die beiden Alten beäugend, in den großen Raum, der das Herz eines jeden römischen Hauses darstellte und wo auch Besucher hier hin geführt wurden. Alte Büsten säumten den Raum, Kaiser, die mal über das römische Imperium herrschten, alter Glanz in einer alten und doch noch pompösen Villa, die jedoch kaum verbergen konnte, dass die Zeiten jenes Ruhmes für die Flavier einige Jährchen schon vorbei waren. Grimmig drein schauend blieb Acanthus stehen und schickte einen Sklaven, damit er der Herrschaft Bescheid gab. Seine Augen funkelten Warnungen, dass keiner von den beiden Männern etwas anfassten. Wenn es nach Acanthus gingen, hätten die Beiden auch besser über den Boden schweben sollen. Oder am Besten: Gar nicht hier sein. Doch er schwieg und wartete.

  • Der Sklave hätte Argus alle Ehre bereitet, als er uns in die herrschaftlichen Hallen geleitete. Mein Freund kam gar nicht mehr aus dem Staunen heraus. Von einer solchen Pracht hatte er allenfalls nur einmal gehört, gesehen hatte er dergleichen selbstredend noch nie. Mir war dieses Interieur ganz und gar nicht fremd. Damit war ich aufgewachsen und als es mir zu viel geworden war, hatte ich davor Reis aus genommen. Vom Glanz der flavischen Kaiserdynastie und was es hieß, als Mitglied der kaiserlichen Familie zu leben, hatte ich daher nur wenig erfasst. Darüber war ich aber keinesfalls unglücklich gewesen, hatte ich doch gerade in dieser Zeit meine schönsten und erfülltesten Jahre erleben dürfen. Die Büsten meiner Vorfahren interessierten mir nicht sehr. Ich überflog sie allenfalls und nahm sie zur Kenntnis. Was allerdings nicht hieß, dass mir diese Herren gänzlich unbekannt waren. Sie stellten nur finster dreinblickende Männer dar, die vom Machthunger besessen gewesen waren, in ihrem Leben vielleicht viel erreicht hatten und jetzt einfach nur noch tot waren. Jetzt fristeten sie nur noch als Staubfänger ihr Dasein.


    Severus, mein Freund hingegen ließ sich einnehmen von all dem Glanz und Ruhm. Vor einer der Büsten blieb er ehrerbietig stehen, runzelte die Stirn, als wolle er angestrengt nachdenken und rief unerwartet erheitert aus : "He, den kenn ich! Das ist doch der äh, wie hieß er noch mal?"
    "Vespasian", kam ich ihm zur Hilfe. "Das ist Titus Flavius Vespasianus! Der erste, der flavischen Kaiser." Zwar war mir seine Bekanntschaft nie vergönnt gewesen, trotzdem erkannte ich ihn an seinem massigen Gesicht wieder.
    "Ja genau, der Vespasian!", erinnerte sich nun Severus wieder. "Meine Güte, das waren noch Zeiten, damals in Iudäa!" Bevor mein Freund nun seine Legionärsanekdoten zum Besten gab, warf ich ihm schnell einen leidenden Blick zu. Die Schmerzen in meinem Bein waren kaum mehr auszuhalten. Noch weniger waren sie mit Severus´ Geschichten auszuhalten. Der Freund hatte Erbarmen und versuchte mir noch besseren Halt zu geben. Auf kurz oder lang war es aber unanlässig, wenn ich die Möglickeit erhielt, mich zu setzen oder noch besser eine liegende Position einzunemhen. Selbst Severus, der einfache Bauer aus den Abruzzen, blieb dies nicht verborgen.
    "Habt ihr den hier keine Stühle?", wandte er sich zu guter Letzt recht mürrisch und vorwurfsvoll an den Sklaven und machte ihm dadurch richtig Konkurrenz.

  • Reichlich skeptisch, im höchsten Maße irritiert und verwirrt hatte Marcus die Nachricht von dem Sklaven aufgenommen, dass ein Verwandter und angeblicher Bruder seines Vaters an der Tür stand und von dem ianitor auch schließlich eingelaßen worden war. Schweigsam und grübelnd hatte Marcus eigentlich über einigen Briefen gesessen, die ihn ein Tag zuvor erreichten. Doch um die kleine Abwechslung in seinem selbst gesponnenen Kokon nicht ganz undankbar, erhob er sich und verließ sein Zimmer, das er in letzter Zeit viel zu sehr als sein Rückzucksort benutzt hatte und kaum die villa verließ. Die Stimmen der beiden Männer waren noch im Gang zu vernehmen, durch den Marcus kam. Tja, die Kaiser, sie waren schon immer Blickfänger für alle Besucher, manche, die die flavische Dynastie mit Verachtung straften, andere, die sie bewunderten und manche, die nur stupide gafften. Marcus, in einer einfachen Haustunika und seinen Sandalen gekleidet, betrat das atrium und musterte, was er dort vor fand. Zwei alte Männer, einer auf Krücken; Marcus verharrte zwischen zwei bemalten Säulen und versuchte einen von den beiden Männern zu erkennen – er konnte es jedoch nicht. Zumindest hatte er sie niemals in Baiae in seiner Kindheit oder Jugend zu Besuch erlebt, wie so manch einen anderen Flavier aus der gens. Den grimmigen Acanthus registrierte Marcus auch, wunderte sich nur für einen marginalen Augenblick, daß der Ianitor ebenfalls in das Haus gekommen war, obwohl dieser sonst nie seinen Posten für längere Zeit verließ – zumindest, wenn er dort zu sein hatte. Marcus ließ die Distanz zu den Fremden noch etwas schwinden, legte die Arme auf seinen Rücken und sah zu Beiden, da er keinen blassen Schimmer hatte, welcher der vermeintliche Flavier war.
    Salvete, ich bin Marcus Flavius Aristides, Sohn des Flavius Corvinus und der Flavia Agrippina. Darf ich fragen, mit wem ich es zu tun habe?“

  • Meinem Freund gefiel es ganz und gar nicht, in welcher herablassenden Weise er von dem Sklaven behandelt wurde. Dies war auch einer der Gründe, weshalb er immer sehr schlecht über Rom und seine Bewohner sprach. Oftmals bezeichnete er sie als hochnäsige, blasierte Affen, die auf alles und jeden herablassenend blickten, was sich im Verhalten dieses Sklaven eindeutig widerspiegelte.
    Mit meinen Krücken humpelte ich auf ihn zu, um ihn zu beschwichtigen. Sonst würden wir beide noch im hohen Bogen auf der Straße landen und die Nacht unter einer Tiberbrücke verbringen müssen, was sicher nicht das schlechteste war.
    "Beruhige dich, Severus! Es geht schon, ich kann noch stehen."Ich biss die Zähne zusammen. Lage konnte es nicht mehr dauern, bis sich endlich jemand her bemühte, der mit etwas Glück uns gegenüber freundlicher gesonnen war. Ich fragte mich nur, wer das sein sollte, wenn alle meine Brüder bereits dem Fährmann begegnet waren und der kleine Felix gar nicht in Rom weilte.
    Während ich so grübelte, erschien ein stattlicher junger Mann, er erst etwas Abstand hielt, der aber nun zu uns trat und sich vorstellte. Das sollte Lucius´ Sohn sein? Was hatte ich denn erwartet? Es waren nun schon mehr als vierzig Jahre vergangen, seit dem Tag, an dem ich Rom verlassen hatte. Doch die Skepsis, die sich bei mir breit machte, war wohl unübersehbar. Aber je länger ich mir ihn betrachtete, erkannte ich die eine oder andere Ähnlichkeit mit meinem Bruder.
    "Lucius´ Sohn? Der alte Haudegen hat sich also noch einmal verheiratet?! Das hätte ich ihm gar nicht zugetraut! Aber wo bleiben nur meine Manieren? Ich bin Manius Flavius Sabinus. Dein Vater ist, war mein Bruder. Also bin ich folglich dein Onkel, mein Junge!" Freundschaftlich streckte ich ihm meine Hand entgegen, was durch meine Verletznug bedingt ein echter Drahtseilakt war, da ich mich mit dem anderen Arm fest auf die Krücke stützen musste, um nicht umzufallen.

  • „Dimdimdimdim...“, falsch gesungen natürlich, könnte man durch die Flure hallen hören, wenn man hinhorchen würde. „Tralallala...“ Der Schall wurde lauter, ebenso die Fußstapfen. Die Tür flog unvermittelt auf. Hinein ins Atrium trat der selbsternannte größte Ästhet aller Zeiten... nein, trat war der falsche Ausdruck. Er machte eine Pirouette in den Raum hinein, mit dem typischen Gesichtsausdruck, dem die Zeit allen gescheiterten Künstlern aufdrückte. Piso wäre, gedankenlos, ohne sich auf nur irgendetwas zu denken, durch das ganze Atrium hindurchgetänzelt, hätte er nach seiner Umdrehung nicht gesehen, dass zwei Männer im Atrium waren. Der eine war sein Vetter Aristides, mit dem er sich gerade vor kurzem etwas verständigt hatte. Der andere war... ein seltsamer Mann. Mit Bart. Er sah ein bisschen aus wie die Büsten von manch verhutzeltem Consul und Procurator aus der Zeit des Augustus, welche in der Kanzlei da und dort herumstanden. Nicht, dass Piso ihn zuordnen konnte, doch irgendwie erinnerten seine Züge Piso ein kleines bisschen... an eine ältere Version seines Vaters. Konnte das sein? Welch irriger Gedanke, dies musste irgendein Bittsteller sein, vielleicht wollte er Aristides, oder aber Gracchus oder Furianus auf seine alten Tage zu seinem Patron machen. Solche waren nichts ungewöhnliches, aber Pisos omnipräsente Neugier war doch ein wenig geweckt.
    Er stolzierte deshalb, wohl ein wenig effemininiert, auf Aristides und dem fremden Mann zu. „Salve, Marcus!“, begrüßte Piso freundlich seinen Vetter, eine normale Gangart annehmend (da ihm rechtzeitig einfiel, dass dieser Gang nicht als der eines Künstlers, sondern als der eines Mannes, der heimlich sich im Zimmer Frauenkleider anzuziehen pflegte, gewertet werden konnte). „Salve!“ Besucher, das Wort konnte er sich gerade noch verkneifen. „Willkommen in der Villa Flavia. Immer schön, wenn wir Besucher haben. Ich bin Aulus Flavius Piso, Sohn des Gnaeus Flavius Aetius. Mit wem habe ich die Ehre?“ Großväterchen, wieder ein Wort, das er erfolgreich hinunterschluckte, noch bevor es ihm aus dem Mund purzelte.

  • Donnerlitz! Damit hatte Marcus jetzt wirklich nicht gerechnet. Sein Mund klappte auf und wäre jetzt strahlender Frühling, bestände eindeutig die Gefahr, daß sich die ein oder andere Fliege oder Biene dort hinein verirren konnte. Doch rechtzeitig entsann sich Marcus, daß sich das nicht gehörte, dennoch starrte er den Mann an, von dem er freilich schon gehört hatte – das schwarze Schaf der Familie, der Versager, der Nichtstuer, der Mann, mit dem seine Mutter ihn immer beschimpft hatte, wenn er wieder zu sehr den Orgien gefrönt hatte und als junger Mann nicht einsehen wollte, warum er Politiker oder gar Soldat werden sollte. Herrje! Den gab es wirklich? Irgendwann hatte Marcus ihn nämlich als den 'Schwarzen Mann' der Flavier abgetan und nicht glauben wollen, daß sein Vater wirklich einen solchen Bruder besaß. Und daß sein Vater von dem Mann auch noch Haudegen genannt wurde, verblüffte Marcus umso mehr, der den eigenen Vater schließlich nie kennen gelernt hatte, war er doch vor Marcus' Geburt schon verstorben.
    „Potztblitz!“
    , entfuhr es Marcus darum. Er starrte wohl etwas dümmlich und wäre nicht der rettende Piso vorbei gekommen, der Marcus aus dem Gaffen heraus riß, er hätte sich wohl immer noch nicht bekriegt, doch so ergriff er die ausgestreckte Hand und lächelte seit Tagen wohl das erste Mal freundlich und ehrlich erfreut, für wenige Herzschläge verschwand die düstere Melancholie, die sein Gesicht in den letzten Wochen verformt hatte und Marcus nicht mehr wie der Alte wirkte, doch hier und kurz bei seinem Onkel, kam sein altes Ich doch für einen kurzen Moment hervor, daß er dem Mann nicht glaubte, nein, das paßierte nicht einen Atemzug lang – in mancher Hinsicht hatte Marcus auch einfach eine gute Intuition, auch wenn diese ihn oft im Stich ließ.
    „Onkel Manius, Donnerwetter, das hätte ich nicht gedacht. Meine Mutter hat mir von Dir erzählt...“ … und nichts Gutes, aber das erwähnte Marcus natürlich nicht. Mit einem freudigem Lächeln auf dem sonst vergrämten Gesicht, drehte sich Marcus halb zu Piso um.
    „Aulus, stell Dir vor, das ist Onkel Manius, Manius Flavius Sabinus, er ist der jüngere Bruder meines Vaters. Und schon seit Ewigkeit...ähm...verschollen gewesen? Wo warst Du eigentlich, Onkel? Es stimmt doch nicht etwa, daß Du wirklich...ähm...ja...ähm...“
    Marcus wollte seinen Onkel nicht gleich entblössen, weswegen er etwas lahm anschloß.
    „...ähm...Dich in die rustikale Tätigkeit zurück gezogen hast? Aber...ohoh...Du bist ja verletzt, komm...nein, warte, wie wäre es, wenn Du und Piso schon Platz nehmt, ich rufe den medicus des Hauses und schließe mich euch später zur cena an. Ja?“
    Marcus wollte sich schon abwenden, doch er drehte sich noch mal um und legte Sabinus die Hand sachte auf die Schulter.
    „Willkommen zu Hause, Onkel!“
    Marcus lächelte freundlich und herzlich, wie er das nur für seine Familie tat, der er bedingungslos loyal war, dann drehte er sich um, um den medicus zu rufen und die Beiden vorerst allein zu laßen.

  • Minuten der Ungewissheit vergingen. Würde mich der unfreundliche Sklave nun auf Veranlassung seines Herrn, als Scharlatan titulierend, mit Schimpf und Schade hinauswerfen? Corvinus´ Sohn machte den Eindruck, als wäre er soeben auf einen Geist gestoßen. Äußert unstandesgemäß stand er da und riss den Mund auf. Allzu lange konnte ich aber auch nicht in dieser unbequemen Position verharren, sonst verlor ich noch das Gleichgewicht! Doch damit war noch lange nicht das Optimum erreicht! Ungefähr im gleichen Augenblick vernahm ich einen schräg klingenden Singsang, der mich beinahe tatsächlich zu Fall gebracht hätte. Irritiert starrte ich zu der Quelle, die sich ungeniert und mit lauten Fußstapfen zu nähern drohte. Potzblitz! Genau, das war der richtige Ausdruck hierfür. Ich hatte nie an die Erscheinung von Geistergestalten geglaubt. Doch nun war mir, als würde ich eines besseren Belehrt werden! Wenn alle meine Brüder bereits tot waren, dann war dies eine Geistererscheinung! Der Mann, (oder sollte man ihn besser als Wesen bezeichnen) war kein anderer als Gnaeus, mein Bruder. Nur dieser alberne Gesang und der leicht homoerotisch anmutende Gang, wollten so gar nicht zu ihm passen. Gnaeus war immer die Steifheit in Person gewesen. Wenn andere vor Lachen bereits dem Exitus nahe waren, brachte er es höchstens zu einem müden Lächeln. Nun stand auch ich da mit offenem Mund und sah reichlich dümmlich aus. Das vermeintliche Geisterwesen stellte sich als Gnaeus Sohn heraus. So war auch dieses Mysterium gelüftet. Auch mein anderer frischgebackener Neffe rettete letztendlich für sich die Situation. Zu meiner Erleichterung verifizierte er mich als seinen Onkel Manius. Mich verwunderte es keineswegs, dass man ihm als Kind von mir berichtet hatte. Wahrscheinlich war das nichts Gutes gewesen! Schließlich war ich das beste Negativbeispiel, was aus einem viel versprechenden Mann aus gutem Hause nicht werden sollte.
    Blitzschnell quoll aus dem wortkarg anmutenden Marcus, ein übermächtiger Strom aus Worten und Gesten. Ich wusste gar nicht mehr, was ich darauf sagen sollte. So erwiderte ich gar nichts, ganz im Gegenteil. Ich machte eher den Eindruck eines senilen alten Mannes, der geistesabwesend mit offenem Mund dastand und zum Glück noch nicht sabberte!
    Mein Neffe entschwand, um wie er sagte, für mich einen medicus zu holen. Eine cena sollte es auch geben, was ich im Anbetracht meines leeren Magens sehr begrüßte. Der rustikalen Tätigkeit hatte ich mich hingegeben! Ja so konnte man es wohl am besten umschreiben, wenn man mich nicht als Tunichtgut, Faulenzer oder Herumtreiber bezeichnen wollte. Mein Freund Severus hatte all das mit angesehen und bedachte alle Protagonisten mit einem kritischen Blick.
    Unmerklich schloss sich mein Mund wieder. Ich stand nun Gnaeus´ Sohn allein gegenüber und musterte diesen ungläubig.
    "Ja, dann bin ich wohl auch dein Onkel! Onkel Manius!", stellte ich verdutzt fest. Um das Gespräch am Laufen zu halten, sann ich krampfhaft darüber nach, was ich sagen oder fragen konnte. Der Junge hatte mir auf seine ganz eigene Weise die Sprache verschlagen. "Dein Vater, was ist aus ihm geworden, mein Junge?"

  • Piso wollte sich einfach nicht richtig in seiner Haut wohl fühlen. Er kratzte sich am Kopf, wie ein Affe, der über etwas nachgrübelte. Seinen Onkel starrte er ungläubig an. Noch ein Verwandter! Es gab doch immer wieder Leute aus der riesigen Familie der Flavier, die er nicht kannte. Er senkte seine Hand, des schlechten Eindrucks, die solch eine Aktivität wie Kopf kratzen schinden musste, eingedenk, und gewann endlich wieder die Sprache zurück, als Aristides schon abgegangen war, um sich um die cena zu kümmern.
    „Onkel... Manius!“, entrang er sich dann selber. Es schien sich tatsächlich um einen Onkel zu handeln, von dem Piso noch nie gehört hatte... oder halt... da war doch etwas gewesen. Genau, er hatte den Namen schon einmal in einer Genealogie gesehen. Doch Piso hatte nichts anderes annehmen können, als dass dieser Mann bereits tot war. Nun stand jener aber sehr lebendig vor ihm und bezeichnete ihn als Neffen.
    Ein peinlicher Moment entstand, als sich die beiden ein paar Sekunden anstarrten, bevor es seinem Onkel einfiel, ein gespräch zu beginnen. „Ja...“, begann Piso ungeschickt. „Mein Vater... Gnaeus Flavius Aetius... es ist schon eine Sache mit ihm...“ Wenn er seinem Onkel alles erzählen würde, was aus dessen Bruder geworden war, würde der alte Sabinus wohl einen Herzschlag erleiden. „Er ist erfolgreich in der Wirtschaft, ist aber nicht in die Politik eingestiegen. Er hat mittlerweise schon viele Besitzungen rund um Ravenna. Einige Betriebe hat er am laufen, sie werfen gute Gewinne ab. Die Villa in Ravenna hat er signifikant erweitert... ja, er ist ein sehr reicher Mann geworden. Und führt nun etwas, was man durchaus als flottes Leben bezeichnen könnte. Es geht ihm also gut.“, meinte Piso. Was er nciht erwähnte, ist, dass Aetius nun dem Wein zusprach, und zwar schwer. Es lockerte ihn zwar auf, doch nahm er dadurch unangenehme Charakterzüge an, die Piso nicht erwähnen wollte. „Ich bin jetzt jedoch nach Rom, mit der Intention, in die Politik zu gehen.“
    Er rang sich ein Lächeln ab. „Also, Onkel Manius, ich habe mir gedacht, du wärest schon lange tot. Dich lebend zu sehen, ist eine große Freude.“, floskelte er artig. „Ich heiße dich natürlich willkommen in der Villa Flavia. Ich hoffe, du hast nicht vor, wieder zu verschwinden nach kurzer Zeit? Selbstverständlich ist auch dein Freund willkommen, der werte, äh...“ Piso blickte in die Richtung des grimmig dreinschauenden Mannes, dessen Namen er nicht kannte. Wer das wohl sein mochte?

  • Dass es dem Jungen ähnlich ergehen mochte, stand ganz außer Zweifel. Ich konnte es mir lebhaft vorstellen, wie gerade Gnaeus, sein Vater, ihn vor mir gewarnt hatte während seiner Kindheit. Nicht so zu werden, wie sein vermaledeiter und tunichtguter Onkel Manius. Gnaeus´ Sohn war seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Das gleiche Aussehen, wie sein Vater vor ewigen Zeiten, die gleichen Gesten, war nur zu hoffen, dass es wenigstens in charakterlichen Dingen Unterschiede gab.
    Gnaeus und ich hatten uns nie gut verstanden. Seit dem ich denken konnte, hatten wir uns nur gestritten oder sogar geprügelt. Er war habsüchtig und stets nur auf seinen Vorteil bedacht. Die, die unter ihm standen, behandelte er wie den letzten Dreck, war es nun eines der Sklavenjungen, von denen es damals schon dutzende gab, oder die Jungen aus den niederen Schichten, die uns manchmal bei unseren Ausflügen in die Stadt begegnet waren.
    Besonders aus diesen Gründen heraus, war meine heraufsteigende Nervosität wohl am einfachsten zu erklären. Der junge Mann zögerte erst, ließ sich wahrlich Zeit, mir zu antworten, was ich aber im Nachhinein gut verstehen konnte. Was ich dann zu hören bekam, versetzte mich kaum in Erstaunen. Ein solcher Lebenslauf passte zu Gnaeus! Unser Vater wäre sicher stolz auf ihn gewesen. Ich jedoch sah mich in meiner damaligen Entscheidung wieder bestätigt, der Familie den Rücken gekehrt zu haben.
    "Aha, jaja, das hört sich nach meinem Bruder an!", meinte ich, ohne damit meine wahren Hintergedanken preiszugeben. Wäre Piso jedoch noch mit den verschwiegenen Feinheiten über seinen Vater ans Tageslicht gerückt, so hätte ich mich wahrscheinlich köstlich darüber amüsiert, was im schlimmsten Fall dazu geführt hätte, dass mein Herz versagt hätte, was angesichts der Umstände auch noch eine Option gewesen wäre.
    "Nein, mein junger Freund, ich bin nicht tot. Ich lebe und es geht mir gut! Nur mein Bein macht mir derzeit zu schaffen. Ich hatte einen Unfall! Mein Freund Severus hier, der mich hergebracht hat, war es auch, der mich gerettet hat. Jetzt, da ich so freundlich aufgenommen wurde, wäre es mir eine Freude vorerst einmal hier in Rom zu bleiben." Wenigstens so lange, bis mein Bein wieder gesund war. Mein Freund indes, hatte die ganze Zeit aufmerksam zugehört. Er war aus dem Staunen kaum mehr herausgekommen. Jetzt, da ich ihn erwähnte, war es ihm anzumerken, wie sehr ihn die Aufmerksamkeit auf seine Person missfiel.

  • Piso mochte durchaus seine Schwächen haben – nein, er hatte sie definitiv, und sie drohten seine Meriten manchmal zu übertrumpfen. Doch er konnte mit Stolz behaupten, dass er nicht die Schwächen, die brutale Ader, seines Vaters hatte. Er ging nicht über Leichen. Er war kein Mörder. Er mochte nicht perfekt sein, doch er hatte keinen Grund, sich vor sich selber zu ekeln, so, wie es ihm vor seinem Vater mittlerweile grauste. Am Liebsten hätte er seinem Onkel nun alles erzählt, was er über seinen Vater erfahren hatte. Doch er traute sich nicht. Es würde, wenn es nicht nach flavischer Manier unter den Tisch gekehrt werden würde, eine Katastrophe ergeben. Und so erhielt er nur ein vages Lächeln aufrecht, als sein Onkel eine schmunzelnde Bemerkung über seinen Vater machte. Nein, das war kein Mann, der sich auch nur im Geringsten vorstellen könnte, wie sich Aetius in Ravenna gebahrte. Oder ein Mann, der einfach zu kaltblütig war, als dass es ihn berührt hätte (letzteres wollte Piso, ganz Advokat, gemäß dem Grundsatz „in dubio pro reo“, nicht annehmen).
    So lächelte er nur, ein wenig eingefroren erschien sein Lächeln jedoch. Er erwiderte allerdings nichts. Er hätte sowieso nicht über seine Lippen gebracht. So entstand wiederum eine ein wenig unangenehme Situation – die unangenehme geistige Präsenz seines Vaters schien solche Situationen geradezu heraufzubeschwören.
    Doch gerade noch rechtzeitig wandte sich das Gespräch in eine bessere Richtung, aufgrund desser Piso von seinen düsteren Gedanken abkommen konnte.
    „Das sehe ich durchaus, und ich bin sehr froh darüber!“, lächelte Piso. Zwar hatte ihm sein Vater damals tatsächlich das eine oder andere über Manius Sabinus erzählt. Doch das bekümmerte ihn nicht mehr. Er hatte beschlossen, alles über Bord zu werfen, was sein Vater ihm gesagt hatte. Dadurch konnte er nur ein besserer Mensch werden. Und er trat Onkel Manius mit einer inneren tabula rasa entgegen.
    „Ein Unfall? Das ist ja schlimm! Wie ist das denn gekommen? Etwa auf einer deiner Reisen?“, verwunderte sich Piso, ein wenig neugierig durchaus, denn er wusste noch gar nicht, was sein Onkel die ganze Zeit hindurch getrieben hatte. „Und, du weißt, dass wir dich hier gerne aufnehmen. Ich lasse gleich jemanden wissen, dass dir ein Zimmer hergerichtet werden sollte!“, meinte er, konnte aber, als er durchs Atrium blickte, keinen Sklaven erblickte. Typisch, immer, wenn man sie brauchte, waren sie weg!
    Dass Severus dadurch nur noch mehr seine Aufmerksamkeit hatte, war klar. „In diesem Falle sind wir als Familie dir zu Dank verpflichtet.“, meinte er zu jenem. „Solltest du unsere Gastfreundschaft gebrauchen, sind wir selbstverständlich bereit, dir ein Cubiculum anzubieten, als Freund der Familie.“ Er murmelte zu sich selber: „Es stehen zur Zeit eh so viele leer...“
    Kurz verlor er sich selber in Gedanken, bevor er wieder aufschaute zu seinem Onkel. Was hatte jener für Abenteuergeschichten zu erzählen?

  • Im Laufe meines Lebens hatte ich mit den unterschiedlichsten Menschen zu tun gehabt. Das war ausreichend, um behaupten zu können, ein wenig Menschenkenntnis zu besitzen. Den jungen Piso mochte etwas beschäftigen, das sah man ihm an. Und selbst, wenn er sich noch so viel Mühe gab, konnte er dies keinesfalls vor mir verbergen. Wären mir die näheren Umstände bekannt gewesen, so wäre dies keine Frage gewesen. So konnte ich nur mutmaßen.
    Doch der Junge fing sich bald wieder und ich glaubte, eine gewisse Herzlichkeit in seinen Worten wiederzufinden. Seine Freude, von der er sprach schien echt zu sein. Anderenfalls hätte er ein brillanter Schauspieler sein müssen. "Danke, mein Junge! Ja, um ein Haar hätte es mich erwischt!", begann ich nun und lenkte gleich meine Aufmerksamkeit auf meinen guten alten Freund, dem es sichtlich unangenehm war. Severus, der nun wirklich ein gestandener Mann war und den im Leben nichts so leicht erschüttern konnte, lächelte verlegen und winkte nur ab. Selbstverständlich hätte ich das Gleiche für ihn getan, das stand ganz außer Frage. Doch nun da er persönlich angesprochen worden war, musste er sich doch in irgendeiner Weise äußern. Jedoch schien er damit völlig überfordert zu sein oder war er sich dessen gar nicht bewusst gewesen?
    "Severus, der Junge hat dich gefragt, ob du für ein paar Tage hier bleiben möchtest, bevor du wieder zurück fährst," übersetzte ich. Langsam rührte sich etwas in Severus, der erst eine ablehnende Geste machte aber sich dann doch eines Besseren besann. "Mhhm, ein oder zwei Tage vielleicht, wenn´s recht ist. Aber dann muss ich wieder nach Hause!", fügte er noch schnell an, um sicher zu stellen, dass er nicht für den Rest seine Lebens hier bleiben musste.
    Mit einem erleichternden Blick schaute ich in an, da ich dem guten Freund erst in einigen Tagen Lebewohl sagen musste. Doch dann wandte ich mich wieder Piso zu, der nur darauf wartete, meine Geschichte zu hören.
    "Nein, mein Junge, ich bin vor einigen Jahren in den Apenninen sesshaft geworden. Einige meiner Schafe waren in der Nacht ausgebüxt, als er sehr stürmisch war. Ich bin dann am nächsten Morgen gleich losgegangen, um sie wieder zu finden, bevor es die Wölfe taten. Nach einigen Stunden hatte ich sie tatsächlich auch wieder gefunden. Sie grasten auf einem Felsvorsprung. Wahrscheinlich war das aufgeweichte Erdreich, vom Regen in der Nacht davor der Grund, weshalb ich abgestürzt bin. Mein Glück war es, dass mein Freund vorbei kam und mich dann rettete." Meine ganze Anerkennung lag nun auf meinem Freund ohne auch nur einen Moment lang darüber nachzudenken, dass ich mich soeben vor meinem patrizischen Verwandten als gewöhnlicher Schafhirt zu erkennen gegeben hatte. Damit hatte wohl ich die wenigsten Probleme. Blieb nur die Frage, wie Piso darüber dachte.

  • „Um ein Haar?“, fragte Piso nach. Sein innerer Gram war nun doch echter Neugierde gewichen. Was hatte er nicht alles über Onkel Manius gehört von seinem Vater. In seiner Gedankenwelt war sein Verwandter stets ein vor ewiger Jugendhaftigkei stotzender Mann gewesen, der heldenhafte Abenteuer bestand. Es war fast ein wenig enttäuschend, nun einen alten Mann vor sich zu sehen. Aber dies war der Lauf der Natur. Tatsächlich mochte einmal Onkel Manius das heldenhafte Aussehen gehabt haben, welches Piso immer bei ihm sich vorgestellt hatte.
    Sowie Onkel Manius ganz und gar nicht dem entsprach, was Piso immer gedacht hatte, so schüchtern schien sein Freund Severus zu sein. Ihn hatte wohl die Schönheit und Grandezza (man wollte fast sagen, Protzsucht) der Villa Flavia überrascht. Und tatsächlich musste nun sich Onkel Manius einschalten, bevor Severus noch ewig schweigen würde.
    Tatsächlich musste er die Aufforderung des Piso wiederholen. Ein wenig verduzt blickte auf Severus, der wohl nur auf spezifische Fragen von Sabinus antwortete. Jener druckste noch ein paar Sekunden herum, bevor er eine Antwort entgegnete, die weder ein „Danke“ noch ein „Bitte“ enthielt. Piso zog, durchaus verwundert von dieser skurillen Gestalt, marginal seine rechte Augenbraue hoch, bevor er nickte. Er drehte sich um, als ob er nach etwas suchte. Und dies war auch der Fall, er schaute sich nach einem Sklaven um. Und tatsächlich rannte gerade einer vorbei. Einer der vielen in der Villa Flavia, die weder bedeutsam waren noch einen allgemein bekannten Namen hatten. „He, du da! Geh zu Phrima! Und sag ihr, sie soll zwei Zimmer herrichten!“ Das raetische Kammermädchen der Flavier würde dies sicherlich zur allgemeinen Befriedigung machen.
    Piso bemerkte durchaus, dass Sabinus die Antwort seines Freundes positiv aufnahm. Den Grund dafür hörte Piso nun, als er die geschichte hörte, die ihm Sabinus erzählte.
    Als er sie sich anhörte, da fiel seine Kinnlade doch ein klein wenig runter. „Du hast... Schafe gehütet?“ Ein flavischer Schäfer? Das war kaum glaubwürdig. Manchesmal hörte er ja durchaus die eine oder andere Andeutung, sein Amt sei eines Patrizier nicht würdig. In dieser Beziehung war er nämlich durchaus aufgeschlossen. Aber... Schäfer? Das war dann doch ein mehr als nur extravaganter Beruf für einen Flavier. Vor allem, wenn es eine romantisch überspitzte Figur ist, von der Piso immer nur gehört hatte, er erlebte irgendwo Abenteuer. „Wir haben gedacht, du wärst tot. Und mittlerweile hütest du in den Pampas... Schafe!“ Man konnte ihm seine Ungläubigkeit durchaus anhören. Er konnte das Geraune in den Straßen beinahe schon hören. Flavius Piso, genau, dessen Onkel war ja Schafhirte gewesen! Nun, auf der anderen Seite – kein einziger Beruf, den irgendwelche Verwandten bekleideten, konnten ihn so lächerlich machen, wie er sich selber. Wie war das noch einmal mit dem Sängerwettstreit am Forum? Eine deplorable Angelegenheit war dies gewesen, um gracchische Diktion zu verwenden, etwas, was Piso unterbewusst immer häufiger machte dieser Tage.
    Er wandte sich zu Severus hin. „In diesem Falle gilt dir selbstredend der Dank der gesamten Familie. Es ist uns eine Ehre, dass du unter uns verweilst.“, meinte er.

  • Mit einer gewissen Erleichterung stellte ich fest, dass nun mein frischgebackener Neffe eine Sklavin herbei rief, der er den Auftrag gab, ein Zimmer für mich herrichten zu lassen. Es ließ sich einfach nicht verschweigen, die Strapazen der letzten Tage hatten an mir gezehrt. Doch nun war ich in die sichere Obhut meiner Familie zurückgekehrt und mich beschlich ein Gefühl, wie ich es zuletzt in Kindertagen erfahren durfte, das Gefühl der Geborgenheit. Nach all der langen Zeit in der Fremde war ich nach mehr als vierzig Jahren endlich wieder nach Hause gekehrt, in die Arme meiner Familie. Inwieweit diese Rückkehr vom Rest der Familie begrüßt werden würde, sollte sich noch zeigen. Piso, mein Neffe hatte sich als freundlich gesinnt entpuppt, obwohl er Aetius´ Sohn war. Den Göttern sei Dank, nicht alle seine schlechten Eigenschaften hatte er an seinen Nachkommen weitergegeben.
    Und das sich nun auch mein Freund bereit erklärt hatte, noch einige Tage zu bleiben, machte es mir leichter, mich von meinem alten Leben zu verabschieden.
    "Ja, ich habe in den letzten Jahren von der Schafzucht gelebt, und natürlich muss man sie dann auch hüten.", sagte ich mit einer Selbstverständlichkeit, als hätte es nichts anderes im Leben eines Patriziers geben können. "Und wie steht es mit dir, mein Junge? In welche Fußstapfen gedenkst du zu treten?" Hoffentlich nicht in die seines Vaters. Zu wünschen wäre es gewesen, wenn er seinen eigenen Weg ging und sich weniger von der Dekadenz der Oberen dieser Stadt anstecken ließ.

  • Piso blickte zuerst ein wenig verblüfft seinen Onkel an, als dieser so selbstbewusst zu seinem bisherigen Beruf stand. Erst dann begann er, zu grinsen. „Ach, was wäre das Leben ohne ungewöhliche Karrieren? Mir könnte man dies ja auch nachsagen, schließlich bin ich Kanzleibeamter. Nicht gerade etwas, was sich für einen Patrizier ziemt, aber mir ist das egal.“ Er machte eine wegwischende Bewegung, als ob er damit „Schwamm drüber“ ausdrücken wollte. Es war ja eigentlich egal, als was sein Onkel gearbeitet hatte. Schafszucht war sicher nicht schlecht – mit Hirtenflöte und Lämmchen im Arm, das war sicher nicht schlecht, ästhetisch wertvoll sicher.
    „Was ich vorhabe in meiner Zukunft? Nun, ich will von der Kanzlei wegkommen, ich habe dort schon zu lange gearbeitet.“ Tatsächlich würde es ihm bald gelingen. „Ich hoffe, in einem städtischen Collegium einen Platz zu bekommen. Und ich will in die Politik gehen. Ich möchte bald als Vigintivir kandidieren, es wäre sehr schön, wenn ich das sein könnte.“, vertraute er seinem Onkel an. Es waren nicht gerade kleinliche Pläne, aber auf jeden Fall solche, die er unbedingt erreichen wollte. Senator wollte er werden, ja, das wäre schön.
    „Es sind also die Fußstapfen meiner Ahnen und Verwandten, in die ich zu treten gedenke. Und, das möchte ich dich fragen, du?“ Niemand würde es einem so alten Mann verübeln, wenn sich jener nun zur Ruhe setzte. „Ich hoffe, du gedenkst nicht, allzu bald wieder von hier wegzugehen?“, fragte er nach. So ein alter Opa-Typ wäre sicher schön zum im Haus haben.

  • Das Faktum, das ich den Jahrzehnten zuvor ausgebrochen war aus dem Leben, welches mir als Patrizier bevorgestanden hatte und dass ich es gewagt hatte, gegen die Norm zu schwimmen irritierte den jungen Piso ein wenig. Doch ich stand dazu, wofür ich mich damals entschieden hatte und was ich getan hatte. Keinen einzigen Tag meines Lebens wollte ich missen, auch wenn nicht jeder dieser Tage rosig gewesen war. Und nun stand ich an einem weiteren Beginn eines Kapitels in meinem Leben. Vermutlich war es sogar das letzte Kapitel. In einem guten Buch jedoch waren meistens die letzten Kapitel die spannendsten. Gerade aus diesen Grund haderte ich nun nicht meinem Schicksal, dass es nun zwangsläufig dem Ende zugehen musste. Jeder wurde schließlich einmal alt. Mein Freund Severus hatte dafür gesorgt, dass mir noch einige schöne Tage blieben und vielleicht war es nun einfach an der Zeit, dass ich mich in besagtem letzten Kapitel wieder meiner Familie zuwendete und mich mit ihr versöhnte.
    "Mhm, klingt gut!", kommentierte ich Pisos bisherigen Werdegang. Er hatte mir etwas voraus, was ich aller Voraussicht nach nie wieder würde einholen können. "Jeder hat einmal klein angefangen." Andere, so wie ich, hatten noch nicht einmal das. Es stand außer Frage, dass ich mit meinem Alter und mit den Gebrechen, die mich verfolgten, noch in die Politik ging. Das wäre auch gar nicht mit meinen Überzeugungen konform gegangen. Nicht umsonst war ich damals vor den Zwängen dieser Gesellschaft geflohen und auch was den Dienst an den Göttern anging, so konnte ich behaupten, ich hatte schon viele Gottheiten kennengelernt. Die eine war interessanter als die andere. Besonders kurios dabei fand ich dabei die monotheistische Religion der Juden. Ein Gott für alles, das konnte doch nur schief gehen! Und tatsächlich, einer meiner Verwandten hatte schließlich den Tempel dieses Gottes zerstört.
    Doch soviel ich auch umher reiste, keine Gottheit hatte mich jemals wirklich überzeugt, so dass ich mich hätte dazu bereit erklären können, ihr bedingungslos dienen zu können.
    "Ach weißt du, mein Junge. Meine Tage sind gezählt. Die vergangen Tage haben mir einmal wieder gezeigt, wo meine Grenzen sind. Ich hatte gehofft, einige Zeit bei euch bleiben zu können, bis ich wieder ganz auf der Höhe bin."
    Ich gab mich immer noch der Illusion hin, eines Tages wieder in den Bergen herumzuklettern, wie vor zwanzig Jahren, was natürlich völlig absurd gewesen war.

  • „Ja, das mag stimmen...“, pflichtete Piso bei. „Doch viele sind von diesen kleinen Positionen aus sehr schnell nach oben gestolpert. Ich stecke schon lange in meiner Position fest, und der Weg heraus aus der Kanzlei ist der einzige, den ich gehen kann.“ Er blickte Sabinus eindringlich an. „Primicerius a libellis! Das ist eine Position für...“ Er suchte das passende Wort, dabei mit seinen Händen ringend. „...für Geringere! Für Leute, die sich begnügen, einfach so zu arbeiten, ohne einen Unterschied zu machen! Für Leute mit beschränkter Intelligenz! Ich will das nicht, ich will mehr. Ich will, dass sich die Leute meiner erinnern. Vor meinem Grabstein dereinst sollen sie stehen und sagen: Ja, Flavius Piso, Sohn des Flavius Aetius und der Calpurnia Fausta. Da habt ihr mal einen großen Mann, dessen Grabstein ihr anschauen könnt.“ Erhielt inne und ließ seine Schultern sacken. „Ich muss dir vorkommen wie... ach Götter. Wie ein frustrierter Waschlappen.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich will einfach mehr werden wie mein Vater. Ich strebe danach, bei allem, was mein Vater tut, das Gegenteil zu tun, bei allem, was er ist, das Gegenteil zu sein.“ Er wurde leicht emotional. Seine Art war es eigentlich nicht, Fremden gegenüber sein Herz auszuschütten – aber Onkel Manius war kein Fremder! Er, die Geschichten von ihm, hatten ihn durch seine Kindheit begleitet. Onkel Manius, das war so etwas gewesen wie ein Actionheld. Die Vertrautheit mit seinen Namen, zusammen mit dem großväterlichen Äußeren seines Gegenübers, lösten da einiges aus. Er schnaubte aus und wandte seinen Kopf leicht weg. „Ach.“, brachte er nur hervor, bevor er wieder seinen Onkel anblickte.
    „Sicherlich kannst du bei uns bleiben, so lange, wie du willst, Onkel. Das Zimmer, das dir momentan gerichtet wird, kann auch permanent das Deinige bleiben. Alle Familienmitglieder haben das Anrecht, bei uns zu leben.“ Das mit der Familie betonte er. Severus konnte nicht für immer hier bleiben, und das würde jener auch wissen.
    „Sag, hast du eigentlich Familie? Hast du eine Frau? Nachkommen?“, fragte er interessiert. Vielleicht schlummerte da, unerwarteterweise, in den Abruzzen, oder in Asia, oder auf einer verdammten kleinen Insel im Mittelmeer oder an der Nordsee, eine Familie, ein weiterer Zweig der patrizischen Flavier...

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