"Herr, es steht ein Sklave vor der Tür, der hier ein Artikel für die neue Ausgabe der Acta abgeben will. Soll ich ihn zur domus schicken oder willst du den Artikel hier annehmen?" Caecus' fragender Blick ruhte auf mir. Der Sklave hatte geklopft und dann den Kopf zur Tür hinein gesteckt. Jetzt wartete er. Ich raschelte mit den Papieren, die ich soeben durchging. "Hm. Schick den Sklaven fort, aber lass dir vorher den Artikel geben. Von wem stammt er denn?" erwiderte ich. "Sieht mir nach flavischem Sklave aus, dominus, aber der Verfasser möchte anonym bleiben, sagt er. Genau weiß ich es nicht." "Naja. Dann lass dir den Artikel geben. Bring ihn mir gleich."
Ein wenig später erschien Caecus wieder, zwei Wachstafeln in den Händen. Er legte sie auf meinen Schreibtisch und zog sich dann wieder zurück. Später, als ich Zeit fand, ihn durchzulesen, verstand ich auch, warum derjenige lieber unbekannt bleiben wollte. Doch bei einem solchen Text musste dem Verfasser eigentlich klar sein, dass man ihn nicht in einer staatlichen, vom Kaiser höchstselbst finanzierten Zeitung veröffentlichen konnte. Mit jedem Satz, den ich weiterlas, schüttelte ich mehr den Kopf. Hier musste zensiert werden. Drastisch. Oder eher: Es musste das, was stehen bleiben konnte, um- und herausgeschrieben werden, damit ein ganz neuer Artikel entstand. Hoffentlich konnte Caius Columnus etwas in Erfahrung bringen.
Captio Extraordinaria in Misenum – was sagt sie über den Zustand des Kaisers aus?
Die Einwohner der Stadt Misenum können nun in der Gewissheit leben, dass sich in ihrer Stadt ein Ereignis ohne Präzedenz zutrug, die Captio einer Vestalin. Dass ein solches Ereignis außerhalb von Rom stattfindet, ist, gelinde gesagt, ungewöhnlich. Und ungewöhnlich ist vieles an dieser Captio.
Der erste Faktor, der – nomen est omen – diese Captio wirklich extraordinär macht, ist der Platz. Eine Captio findet, wie die Tradition es vorschreibt, in Rom statt. Zumindest, wie es die Tradition vorschrieb. Durch die Änderung dieses Protokolls zog der Kaiser den Unmut des Cultus Deorum auf sich. Doch die Frage, die sich stellt, ist: Warum kam der Kaiser nicht einmal für ein solch wichtiges Ereignis nach Rom, sondern ließ es sich nach Rom bringen? Fühlt der Kaiser sich so schwach und krank, dass er sich nicht einmal mehr zu dieser verhältnismäßig kurzen Reise aufmachen kann? Ein bedenklicher Gedanke könnte sich fast einschleichen: der Kaiser will nicht nach Rom kommen, er will der Macht und der Verantwortung demonstrativ fernbleiben, und es nicht riskieren, dass ihn in der ewigen Stadt Regierungsaufgaben ereilen, die ihn dann dort halten. Oder steckt etwas anderes dahinter? Fühlt er vielleicht eine Bedrohung, vor der er nur in Misenum sicher ist? Oder geht es ihm aber so schlecht, dass er nicht wollte, dass das Volk von Rom ihn so sieht?
Der zweite Grund, aus der man diese Captio wirklich als ungewöhlich erachten kann, ist die Wahl der neuen Vestalin. Claudia Romana mag auf den ersten Blick die höchsten Kriterien der Auswahl erfüllen: Sie ist Patrizierin, aus angesehenem Hause, Tochter eines Senatoren, gebildet und fromm. Nun aber gibt es Unstimmigkeiten bei dieser Persönlichkeit. Erstens ist sie einiges über dem vorgeschriebenen Alter. Allerdings wurde eine Ausnahme gemacht, da sie sich freiwillig zum Dienst an Vesta gemeldet hatte, und so könnte man das noch abtun. Zweitens aber schrieb sie einen eigenartigen Bericht an den Kaiser – ihr sei Vesta erschienen und habe sie dazu berufen, Vestalin zu werden. Nun ist dies durchaus möglich, aber solch eine Aussage hätte weiterer Untersuchungen bedarft. Nun tritt eine junge Frau den Vestalinnen bei, bei der nicht sicher ist, ob sie eine Heilige... oder aber eine Verrückte ist. Dass der Kaiser die Aussage der Claudierin für bare Münze genommen hat, ohne auch nur einen Funken von Misstrauen aufkommen zu lassen, weckt Verwunderung und ein wenig Sorge. Fast könnte man sich fragen, ob dem Kaiser die Fähigkeit, rationale Entscheidungen zu treffen, abhanden gekommen ist.
Widersprüchliche Meldungen trafen aus Misenum ein, den Gesundheitszustand des Kaisers betreffend. Aus verschiedenen Quellen erfahren wir, dass der Kaiser ein sehr gesundes Bild bei der Captio abgegeben hätte, er sei sehr stark und selbstbewusst aufgetreten. Andere Quellen berichten uns, dass dieses Auftreten bloß Fassade gewesen ist, welche dazu dienen sollte, den wahren fürchterlichen Gesundheitszustand des Kaisers zu verschleiern.
Es ist nicht leicht, sich aus diesen Beobachtungen ein klares Bild über die Gesundheit des Kaisers zu machen. Nur eines ist klar – die komplette Abschottung des Kaisers in Misenum ist einigermaßen verwunderlich. Abgesehen von wenigen Audienzen, die der Kaiser diversen Senatoren – wie jüngst Decimus Livianus oder Annaeus Florus – zugesteht, wird niemand an ihn herangelassen. Der Grund dafür ist Praefectus Urbi Vescularius Salinator, der penibel daruf achtet, dass der Kaiser nicht überbeansprucht wird. Ist er auch dafür verantwortlich, dass die Captio nicht in Rom, sondern in Misenum stattfand?
Die Captio Extraordinaria in Misenum wirft, wie man sieht, also einige Fragen auf, die kaum zu beantworten sind. Und vor allem vergrößern sie in Rom die Sorge um den Kaiser. Der Kaiser wäre gut beraten, einmal nach Rom zu kommen, sich dem Volk zu zeigen und zu demonstrieren, dass es ihm gut geht. Denn seine absolute Isolation in Misenum vergrößert unsere Sorgen von Tag zu Tag.
Ich zückte den stylus.