Andere Länder, andere Sitten

  • Er war müde, und er hatte Angst. Das konnte Axilla in seinem Blick sehen, auch wenn sie sonst nichts erkennen konnte. Er lächelte sie an, während er ihr zuhörte, aber in seinem Blick sah sie doch auch die Angst. Wenngleich sie nicht wusste, wovor er sich fürchtete. Davor, zu gehen? Oder doch eher davor, zu bleiben? Axilla wusste es nicht, aber einem kleinen, egoistischen Teil von ihr war es sogar egal, solange er nur bei ihr blieb.
    Sie fühlte seinen Arm um ihre Schulter, er fühlte sich warm an. Sicher. Sie fragte sich kurz, wann sie zuletzt dieses Gefühl gehabt hatte. Es musste wirklich lang her sein.
    Seine ersten Worte klangen schlaftrunken. Naja, vielleicht war er auch wie sie betrunken und hatte einen Kater? Sie wusste es nicht. Aber er hatte recht, dank der geschlossenen Läden herrschte im Raum nur dunkle Dämmerung, die nicht wirklich auf eine Zeit schließen ließ. Aber wollte Axilla es wirklich wissen? Nein, sie wollte, dass es Nacht war. Sie wollte nicht, dass es Tag war. An dem sie ihren Verwandten wohl noch erklären durfte, wo sie die Nacht gewesen war. Wo sie durch den Schankraum da unten gehen musste, vorbei an einem Kellner, der sicher wusste, was geschehen war. An dem sie überhaupt erstmal heim finden musste, vermutlich allein. Nein, es sollte Nacht sein.
    Und auch Piso sprach die Worte, wenngleich langsam und schleppend. Axilla bemerkte sein Zaudern, aber ihr war es gleich, warum er dabei zögerte. Ob er es sagte, weil er ihr einen Gefallen tun wollte und ein wenig Gnade zeigte, oder ob er es wirklich wollte und selbst noch bei ihr bleiben wollte, war im Grunde unwichtig. Sie konnte noch einen Moment weiter träumen, noch einen kleinen Moment so tun, als ob er ihr Liebster war und sie seine Liebste. Sie konnte einfach nur sicher und an ihn gekuschelt da liegen. Da war sogar egal, dass ihr Kopf ein wenig hämmerte und schmerzte.


    Und dann küsste er sie. Axilla war ein wenig überrascht, als er sich zu ihr beugte und ihre Lippen sich berührten. Sie war schon so glücklich gewesen, mit ihm einfach nur hier zu liegen und zu kuscheln, dass sie andere Möglichkeiten gar nicht in Betracht gezogen hatte. Vor allem, da sie trotz allem einen ziemlichen Kater hatte, an dem sie wohl noch einige Stunden Freude haben würde.
    Aber als er sie küsste, fiel ihr doch wieder ein, was sonst noch in der Nacht passieren könnte. Was in der Nacht auch passiert war. Was noch einmal geschehen könnte. Sie musste es nur zulassen, ihn vielleicht ein wenig ermutigen. Wollte sie das?
    Ihr Kopf war wirr, und sie fühlte ein Hämmern hinter ihrer Stirn. Ihr Körper fühlte sich matt und müde an. Insgesamt fühlte sie sich, wie erschlagen.
    Aber da gab es auch die andere Seite. Die, die sich an diesen Abend anders erinnern wollte als daran, schon wieder von einem Mann betrunken gemacht worden zu sein, so dass er sie in sein Bett führen konnte. Zwar hatte das hier genausowenig eine Zukunft, wie es es seinerzeit mit Timos gehabt hatte, aber...
    Sie küsste ihn zurück, öffnete ihm den Mund und schmiegte sich an ihn. Er schmeckte noch immer leicht nach Wein. Axilla begann, ihn etwas mehr zu streicheln, etwas... direkter. Kurz löste sie ihren hungrigen Mund von ihm, vergrub ihre Hände in sein Haar und sah ihm in die grauen Augen.
    “Ich sollte dich hassen...“, meinte sie etwas atemlos und zog ihn noch einmal drängend an sich, um und zu küssen. “Ich sollte dich von mir stoßen...“ Und noch leidenschaftlicher drängte sie sich gegen seinen Körper, machte ihm deutlich, dass er sie haben konnte.

  • Es hämmerte in Pisos Schädel, nicht etwa vom Alkohol – soviel hatte er nun nicht getrunken, dass es einen gestandenen Flavier umhauen würde – sondern viel eher vor Sorgen. Die Sorgen, aus denen sich die Angst speiste, welche in Pisos Augen zu sehen war. Er blinzelte, versuchte den Ausdruck in seinen Augen, den er selber verspürte, zu verwischen. Ob es ihm gelang? Er wusste es nicht. Vielleicht war es ja auch egal. Hauptsache, er konnte noch ein bisschen hierbleiben, um den Augenblick der Wahrheit hinauszuzögern. Das Bett fühlte sich gemütlich an. Wie immer am Morgen – nein, bloß nicht dieses Wort verwenden! Es war noch Nacht – obwohl, nach Pisos Zeitgefühl her war es wohl eher schon Vormittag als Morgen oder gar Nacht. Vielleicht würde er hier noch den ganzen Tag verbringen, ungeachtet dessen, wie spät es wäre. Zusammen mit Axilla. Ja, das hätte seinen Reiz.
    Plötzlich, urplötzlich durchzuckte ihn ein Gefühl, das Gefühl, ein Verräter zu sein. Ein Verräter an Decima Serrana. Niemand wusste, wo sie war. Ob sie überhaupt noch lebte. Sie hatte nicht auch nur ein einziges Mal versucht, mit ihm Kontakt aufzunehmen, obwohl sie genau wusste, wo er wohnte. Und trotzdem, er war sich so vorgekommen, als ob dies eine Liebe wäre, die nie erlöschen würde. Doch nun lag er im Bett zusammen mit einer wildfremden Frau. Er bekam es wieder mit der Angst zu tun, seine Augen wanderten nach oben und fizierten starr die Decke, als ob diese Antworten auf all seine Fragen böte, ähnlich wie eine Leber einem Haruspex. Wenn man ihm jetzt einen Wunsch geboten hätte, hätte er sich nur eines gewünscht – nichts wie weg hier.
    Doch das war jetzt nicht so einfach zu bewerkstelligen. Er und Axilla klammerten sich zusammen, als ob sie tatsächlich Liebhaber wären, nicht nur zwei sich zufällig begegnende und es rein zufällig miteinander treibende Leute. Und jetzt hatte er sich schon zu ihr gebeugt, um ihr einen Kuss zu geben. Das konnte er jetzt nicht mehr zurücknehmen.
    Wahrscheinlich würde dies jetzt ohnehin das Ende sein. Sie würde nun aufstehen und den Beginn des Morgens deklarieren. Die traumhafte Zeit der Nacht wäre vorbei, die Wahrheit würde zuschlagen...
    Doch halt. Sie küsste ihn zurück. Piso spürte seine Männlichkeit erwachen, er wollte das selbe wie vorm Einschlafen noch einmal, jetzt, auf der Stelle! Die Überlegungen, die er gehabt hatte, wurden von einem Trieb zur Seite gefegt, der so stark war, dass er schon als Urkraft bezeichnet werden könnte – Männer, Reiche gar hatte er gestürzt. Vielleicht würde dieser Trieb auch Piso stürzen, doch das war dem Flavier jetzt egal, er spürte den Körper der Frau vor ihm an den seinen reiben, er spürte ihre Zunge in seinem Mund, und konnte nicht mehr an sich halten – er drang in sie ein.


    Irgendwann waren sie fertig, und Piso fühlte die Erregung in sich selber abflauen. Er keuchte, nicht vor Lust, sondern vor Erschöpfung. Am liebsten hätte er jetzt weiter geschlafen, doch er konnte nicht – er war wach, dagegen konnte er nichts tun.
    „Axilla... entscheide jetzt du. Ist es noch Nacht oder schon Morgen?“, wollte er wissen, behutsam über ihren Bauch streichelnd. Er kam sich mittlerweile ein bisschen besser vor. Dieses Mal war es passiert, ohne dass sie ihre Zustimmung unter Alkoholeinfluss gegeben hatte. Obwohl, jetzt gerade hatte er seine Chancen verdoppelt, sie geschwängert zu haben. Verdammter Mist. Daran wollte er jetzt am Liebsten gar nicht denken.

  • Vor Erschöpfung schwer atmend lag Axilla auf dem Rücken und schaute zur Decke hoch. Ihre haut glänzte vor Schweiß, und ihr Herz raste noch immer von der Beschäftigung der letzten Minuten. Noch immer fühlte sie die Ekstase, die in unregelmäßigen Wellen immer wieder über ihren Körper schwappte und sie ermattet und zufrieden zurückließ. Oh Götter, was tu ich hier nur...?
    Piso hörte sich nicht minder erschöpft an. War auch kein Wunder, wenn man bedachte, was sie beide... Kurz musste sie fast lachen. Er legte sich so zu ihr, dass er ihr über den Bauch streicheln konnte. Seine Worte klangen so unendlich schön und sanft. Axilla schloss für einen Moment die Augen und genoss einfach noch ein wenig seine Berührung. Es hatte ihr gefallen. Verdammt, es hatte ihr sehr gefallen. Ein Teil von ihr wünschte, es hätte ihr nicht gefallen. Dass sie etwas an ihm abstoßend finden würde. Sein Geruch, oder die Art, wie er sie küsste, den Geschmack seiner Haut. Aber da war nichts. Es hatte ihr gefallen. Und auch, wenn sie wusste, dass es keine Zukunft haben konnte, hieß das nicht, dass sich ihr Körper nicht nach dieser Berührung sehnte.
    Ihr Atem beruhigte sich, ihr Herz schlug ein wenig langsamer. Es war ganz sicher schon Morgen. Axilla hörte die Straße, das geschäftige Treiben, die vielen Schritte der Passanten, irgendwo eine schimpfende Frau. Ein Hund bellte irgendwo in der Ferne. Es musste Tag sein. Wirklicher Tag. Harter, rauer, unbarmherziger Tag.
    “Ich wünsche mir, dass Nacht ist“ beantwortete sie seine Frage und drehte ihren Kopf in seine Richtung. Ganz sanft streichelte sie ihm über die Schulter. Sie hatte ihn dort vorhin einmal gebissen, aber es war nichts zu sehen. Ihr Blick wurde etwas traurig. “Aber wenn ich nicht bald gehe, werden meine Verwandten bestimmt nach mir suchen. Wenn sie es nicht schon tun.“ Zumindest Leander würde sie suchen, da war sich Axilla sicher. Ob Silanus wirklich bemerkt hatte, dass sie weder zur Cena am vergangenen Abend noch zum Frühstück anwesend gewesen war, wusste sie nicht zu sagen. Er ging ihr wieder aus dem Weg. Oder immer noch, je nachdem, wie man es sah.
    Axilla drehte sich jetzt richtig zu Piso, um näher an ihn heranzurobben. Sie küsste ihn noch einmal, sanft, lang. Sie mochte den Geschmack seiner Zunge. “Es war schön“, sagte sie ihm noch leise und ermattet und kuschelte sich noch ein wenig näher. Noch ein paar Momente bloß wollte sie es herauszögern. Ein paar Momente dieses schöne Gefühl genießen. Nur noch einen kleinen Moment lang.
    Axilla streichelte Piso ganz sanft. Sie wusste nichts von ihm. Absolut nichts. Sie wusste nichtmal so wirklich was über seine Familie. Ihr schwirrte irgendwo im Kopf herum, dass irgendein Kaiser mal Flavier gewesen war, aber sie wusste nichtmal zu sagen, welcher. Und von ihm selber, was wusste sie da? “Wie alt bist du?“ fragte sie also aus heiterem Himmel, einfach, um wenigstens noch irgendwas von ihm zu wissen. Um noch einen Moment so liegen bleiben zu können. Einfach um nicht darüber nachdenken zu müssen, was gleich sein würde, wenn sie gehen musste.

  • Hmm, ja. Das fühlte sich gut an, das fühlte sich richtiggehend fantastisch an, dieses Gefühl, die latente sexuelle Unterforderung abgeschüttelt zu haben. Fast hätte Piso eigentlich nur noch auf seiner Seite des Bettes liegen können und herumgrinsen können, wenn er nicht diese verfluchten Sorgen gehabt hätte. Im Gegensatz zu Axilla sackte bei ihm das Hochgefühl fast von der einen zur anderen Sekunde auf einen wunschlos glücklichen Zustand hinunter. Er fühlte sich müde, als ob wirklich noch Nacht wäre. Er ließ sich dennoch aufs Nachspiel ein, sicher nicht zuletzt wegen des schlechten Gewissens, welches auf ihm lastete, und streichelte ihr sanft über diverse Stellen. Er konnte gar nicht einmal richtig erfassen, wo das war, selbst in seinen Händen schien ein ermattetes Gefühl Einzug gehalten zu haben.
    Langsam drangen Laute an sein Ohr. Selbst durch die massiven Balken drangen die Laute von draußen. Er schüttelte sich unwillig langsam. „Sicherlich sind das diese Fuhrleute. In Buden wie diesen hier kann man sie sehr gut hören. Und da fragt man sich, wieso die Leute in den Insulae immer so schlechte Nächte haben.“ Die Fuhrleute, die die Nacht Roms unsicher machten, waren eine hervorragende Ausrede für die Geräusche von draußen, dachte er selber, obwohl weder das Rollen von Rädern, das Wiehern der Pferde, noch das charakteristische Fluchen der Männer zu hören war. Und das Lachen kam definitiv von Kindern – Kindern, denen man es verbieten würde, in der Nacht auch nur einen Schritt nach draußen zu setzen.
    Als er die Berührung an der Schulter verspürte, zuckte er leicht zusammen. Seine Schultern waren schon immer seine empfindlichen Stellen gewesen, und diese Beißerei hatte das ganze auch nicht besser gemacht.
    „Suchen... das kann gut sein. Sicher fragen sich auch schon meine Notarii, wo ich bleibe.“, gab er sich selber gegenüber die Wahrheit zu.
    Noch einmal spürte er ihre Lippen an den seinen, und bemühte sich, in diesen Kuss sich zu verlieren. Langsam löste er sich wieder von ihr. „Oh ja, das war es.“ Die beste Nacht seit... dieser endlos geilen Orgie damals in Massilia, wo er gleich mit 3... ach was, besser sogar als das!
    Er musste leicht lachen, als sie ihm nach seinen Alter fragte. „Wie alt, denkst du, dass ich bin?“, fragte er sie. „Ist man nicht so alt, wie man sich fühlt? Wenn dies wahr ist, bin ich höchstens 10.“ Er schloss genüsslich die Augen und sog ihren Duft ein. Es roch sogar nach Morgen.

  • Fuhrleute? Axilla wollte es gerne glauben, wollte sich einreden, es sei Nacht. Aber das waren keine Räder, das waren Füße, und es waren keine Ochsen, sondern Hunde, Hühner, hier und da ein Pferd, keine alten, grimmigen Männer, sondern Kinder beim Ballspielen. Sie wusste es, und dennoch kuschelte sie sich mehr in seine Wärme und sanfte Umarmung. Er war so herrlich zärtlich im Moment, und sie wollte das jetzt nicht abbrechen.
    Aber auch er hatte Verpflichtungen, die ihn einholen würden. Notarii... Axilla überlegte, ob sie damit irgendwas anfangen konnte und ihn so der einen oder anderen Stelle in der Stadt zuordnen konnte. Aber sie hatte keine Ahnung, von was für Notarii er redete, und schwieg also dazu. Ihre Gedanken kreisten etwas furchtsam um den Punkt, dass sie so gefunden werden könnten. Wenn sie noch bei ihm war und jemand sie entdeckte... das könnte Verwicklungen geben. Solche, die sie beide nicht wollten. Axilla wollte ihr Leben nicht als Geliebte eines Patriziers verbringen, sie brauchte eines Tages einen Ehemann. Und ein Gefühl in ihr sagte, dass Piso das wohl nicht sein würde. Er konnte soviel bessere Frauen haben, aus soviel einflussreicheren Familien. Wer waren die Iunii schon im Moment? Außer Silanus hatte keiner einen wirklichen Posten inne. Überhaupt, es gab kaum noch lebende Männer in ihrer Familie. Eigentlich nur Silanus und Merula, alle anderen waren im Dienst für das Imperium gefallen oder sonstwie gestorben. Warum also sollte er so dumm sein und sie heiraten wollen?
    Auf ihre Frage mit dem Alter lachte er nur leicht. Ein bisschen wehmütig blickte Axilla ihm in die wunderbaren grauen Augen und schämte sich, die Frage überhaupt gestellt zu haben. Aber sie wollte mehr über ihn wissen. Wollte ihm noch ein wenig näher sein, ihn ein wenig mehr kennen. Ihre Körper lagen ganz sanft aneinander, sie streichelten sich gegenseitig, aber Axilla wollte einfach mehr. Und dass er ihre Frage nicht beantwortet hatte, das holte sie ein Stück aus ihrer so hartnäckig aufrecht erhaltenen Traumwelt heraus. Ihm schien es nicht wichtig zu sein, mehr zu erfahren, mehr zu wissen. Normalerweise hätte Axilla nicht anders gedacht oder gehandelt, hätte einfach den Moment genossen und ihn das sein lassen, was er war: Wundervoll. Aber das wollte sie nicht.
    Sie legte sich wieder etwas tiefer, so dass ihre Stirn an seiner Brust ruhte und er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Sie hatte ein wenig Angst, er könne ihre Gedanken in ihren Augen sehen. Und sie wollte ihn ja gar nicht unter Druck setzen oder etwas erzwingen, was keiner von ihnen beiden fühlte. Nur im Moment kam sie sich so schäbig und unehrlich unsittlich vor, dass sie gerne wollte, ihr Zusammensein hier wäre aus anderen Gründen.
    “Ich weiß nicht. Älter als ich. Fünfundzwanzig?“ Axilla war schlecht darin, das Alter einer anderen Person zu erraten. Sie war sich sicher, er war schon über zwanzig. Ob er vielleicht sogar schon 30 war? Archias war auch über 30. Sie wusste es einfach nicht.
    Er sog die Luft ein, roch an ihr. Ein plötzlicher Schmerz zuckte dabei durch Axilla. Es war so eine vertraute, so eine zärtliche Geste. Es war so sanft. Es war so... falsch. Sie kam sich elend vor. Was machte sie nur hier? Was hatte sie getan? Warum stand sie nicht einfach auf und ging, warum blieb sie in seinen Armen und kuschelte sich noch mehr an ihn, vergrub ihr Gesicht an seiner Brust? Sie wollte weinen. Wollte bei ihm bleiben. Wollte ewige Nacht. Sie nahm einen zitternden Atemzug und schmiegte sich an ihn. Es war Morgen, egal, was sie wollte. Es war Morgen, und sie beide wussten das. Was machte sie jetzt?
    “Ich muss gehen...“, flüsterte sie leise. Es war das einzig richtige. Sie wusste das. Und trotzdem blieb sie noch an ihn gekuschelt und streichelte noch ganz sanft über seine warme Haut.

  • Unter der Decke war es kuschelig warm, angenehm, sie schirmte fast perfekt die Kälte der Nächte... von ihm aus, der Morgen des December ab. Der Gedanke, auch nur einen Fuß aus der Decke herauszubewegen, missfiel Piso sehr. Er wollte es nicht. Es würde sicher sehr kalt sein. Und außerdem war er zu faul dafür, schier zu faul. Ein großes Energiebündel war er am Morgen nicht, im Gegenteil, er war erst ab Mittag wirklich zu etwas zu gebrauchen. Mittag konnte es also noch nicht sein. Außerdem, wenn man schon beide Hände an so etwas Angenehmen wie der Haut einer hübschen jungen Frau kleben hatte, wollte man sie selbstverständlicherweise nicht so schnell davon wegbringen. Vor allem, weil seine Hände aufgewärmt wurden durch die Hitze, die ihr Körper ausstrahlte wie ein Kachelofen. Ja, so hätte er ewig verbleiben können.
    Als er auf ihre Frage – nicht – antwortete, wandte sie ihr Gesicht ab, und Piso runzelte erstaunt seine Stirne, einen Vorgeschmack auf einen in Ehren ergrauten Würdeträger Roms geben, als der er sich in 30 oder 40 Jahren sah.
    Irgendwann schätzte sie sein Alter ab, und wieder lachte Piso leise. „25? So? Wenn du mich als 25-Jährigen siehst, will ich hier und jetzt 25 sein, nur für dich, liebe Axilla.“ Fast schien es so, als ob Piso aus seinem Alter ein Enigma machen wollte. Er suchte sie ein wenig näher an sich heranzuziehen in einer vorsichtigen, bedächtigen Geste. Tatsächlich kuschelte sie sich näher an ihn ran.
    „Ja, ich auch!“, bestätigte er ihre Worte und umklammerte sie noch ein bisschen fester. „Ich muss ebenfalls...“ Seine Armmuskeln entspannten sich.
    „Ich stehe jetzt auf.“ Ein paar lahme Signale wurden von seinem Hirn an seine Beine hinunter gesandt, verloren sich aber in seinem Nervensystem. Nichts geschah, außer, dass sich sein Körper noch ein bisschen entspannte.
    „Ich gehe. Wirklich.“ Er zwinkerte mit seinen Augen die Decke an, das war das einzige, was er zu tun imstande war. Schlaff jedoch fühlten sich seine Arme an, er schaffte es nicht einmal, sie von Axilla zu lösen.
    „Ich bin schon weg...“, behauptete er. Und blieb doch im Bett liegen, neben Axilla. Mit einem vagen Lächeln auf seinen Lippen.

  • Auch jetzt verriet er ihr sein Alter nicht, und Axilla gab es auf, danach zu fragen, noch bevor sie versucht hatte, um dieses bisschen Wahrheit zu kämpfen. Was wollte sie damit schon beweisen? Dass diese Situation hier anders war, als sie war? Dass das hier doch irgendwo richtig gewesen sei und nicht von Grund auf falsch? Axilla mochte die Wahrheit nicht, die bitter wie Galle war, aber nur, weil man etwas nicht mochte, verschwand es nicht.
    Piso hatte sie betrunken gemacht. Piso hatte sie in sein Bett geführt. Er hatte sie genommen, ohne sie vorher zu fragen. Wurde das alles weniger wahr, weil er bei ihr geblieben war und weil sie jetzt noch einmal mit ihm geschlafen hatte? Wurde es weniger wahr, weil sie jetzt bei ihm lag und ihn sanft streichelte? Sie hatte denselben verdammten Fehler zweimal gemacht, und wie schon bei Timos hatte auch das hier keine Zukunft. Sie wusste das. Sie wusste es wirklich.
    Und trotzdem fühlte sie keinen Zorn, keine rechtschaffene Wut, keine Abneigung gegen ihn. Was auch immer er getan hatte, es war ihre Schuld. Die ganze Verantwortung dafür lag bei ihr. Sie hätte nicht so viel trinken sollen. Und sie hätte sich wehren sollen. Sie hätte laut und deutlich nein sagen sollen. Und jetzt, hier, sollte sie zumindest versuchen, ihn dafür umzubringen. Oder sich selbst. Vielleicht beides.
    Er zog sie an sich, und sie ließ es zu. Seine Haut war noch immer so herrlich warm. Und er roch noch immer gut, auch wenn sein Geruch nun mit dem von ihr und der dumpfen Note der vergangenen Stunden vermischt hatte. Er sagte, er würde gehen, aber er blieb liegen. Schlaff, müde, blieb er liegen, an sie gekuschelt. Ganz kurz fragte sich Axilla, ob er vielleicht doch etwas für sie empfand, wie eine kleine, glimmende Hoffnung. Eine kleine Möglichkeit, der Wahrheit ein anderes Kleid zu geben. Eines, das nicht so schrecklich war, eines, das vielleicht sogar romantisch war. Eines, bei dem sie nicht schon wieder denselben Fehler begangen hätte. Wo sie sich einreden konnte, dass das hier aus Liebeswahn geschehen sei. Liebe auf den ersten Blick, man hörte ja immer wieder von diesem Wunder der Venus. Aber nein, sie sollte sowas nicht hoffen, sollte sowas nicht denken. Wer könnte sie schon lieben? Sie war naiv und leichtfertig und dumm, aus einer Familie, die bis auf den Namen nicht viel vorzuweisen hatte, ohne besondere Tugenden und ohne Verdienste. Warum also sollte er so etwas ausgesprochen dämliches tun, wie sich in sie verliebt zu haben?
    Nun rann doch eine Träne ihre Wange hinunter, still und leise, aber Axilla rührte sich ansonsten nicht. Auch als weitere still folgten, bewegte sie sich nicht, sondern blieb einfach ganz reglos. Sie fühlte sich elend und hasste sich selbst für alles, was geschehen war. Eine Schande war sie, für ihre Familie, und für ihren Vater. Eine lebende, laufende Schande, die nicht einmal genug Mut besaß, es zu beenden. Ein Feigling, der hier einfach liegen blieb, anstatt sich der Wahrheit zu stellen, und statt dessen lieber einfach die Augen schloss und sich einredete, es sei Nach.
    “Schlaf noch ein bisschen“, flüsterte sie leise zu Piso, damit dieser an ihrer Stimme nichts von ihrer Gefühlslage hörte oder bemerkte. Wenn er schlief, konnte sie gehen. Dann konnte sie vor der Wahrheit fliehen und sie weiter verleugnen. Dann konnte sie weiter feige sein und sich dafür hassen. Aber das war leichter als die Wahrheit.

  • Die Fragerei wurde eingestellt, was Piso am Rande auffiel, als er Axilla mit der Hand über eine besonders delikate Stelle strich. Ihm sollte das nur Recht sein. Piso, der Geheimnisvolle, ja, das könnte sein Motto werden, sein Agnomen, den er stolz herumtragen könnte. Axilla konnte somit natürlich nur wenig über ihn erfahren. Das war ihm jedoch egal. Denn durch sein Hirn zogen nicht die selben Gedanken von so reichhaltigem Couleur, wie das bei Axilla der Fall war. Nein, er hatte abgeschalten. Würde er nachdenken, würde er bloß eh nur wieder die Panik bekommen, ob dessen, was er getan hatte. Er wollte dies nicht. Nein, abschalten und an nichts denken, und nur das hier und jetzt genießen, das konnte Piso. Er praktizierte es oft, ununterbrochen direkt. Würde er an alles denken, was ihn umtreiben könnte – sein Verhältnis zu seinem Vater, das Schicksal seiner Mutter, seine politische Zukunft, seine Pflichten, würde er nächtens kein Auge mehr zubekommen. Und er wollte auch nicht an die moralischen Verfehlungen denken, die er gestern am Abend begangen hatte, sie würden ihn zu Boden drücken.
    Er selber dachte keinen Augenblick an das Wort Liebe, denn es passte hier einfach nicht. Was Piso und Axilla ins Bett getrieben hatte, war nicht Liebe, sondern Begehren (dies eher auf Pisos Seite), und Betrunkenheit (dies eher auf Axillas Seite). Es war einfach das gewesen, was man ein one-night-stand später nennen würde. Nichts weiter.
    Sein Blick wanderte zu Axilla hinüber, und er bemerkte etwas. Tränen liefen ihr über die Wangen, heiße Zähren, deren Ursprung Piso sich denken können müsste. Er war ein wenig erschüttert, wusste nicht ganz, was er daraufhin sagen sollte. Bevor er sie fragen konnte, wieso sie weinte, bekam er eine Anweisung, zu schlafen.
    „Schlafen? Aber ich kann nichts schlafen... und... ich will... noch... wiss... en...“ Er würde seinen Satz nicht mehr zu Ende bringen können. Das waren nämlich seine letzten Worte, bevor sein Kopf zurücksackte auf das kuschelige Kissen, und er ins Reich des Morpheus flüchtete. In einen traumlosen Schlaf, der ihm ein Refugium bieten würde, vor unangenehmen Fragen von anderen und vor allem an sich selber. Eine geistige Ruhestätte, in der ihn niemand stören würde, oder zumindest nicht sollte. Er war weg. Nicht einmal Schnarchen kündigte von seinem Schlaf, er lag einfach nur in seinem Teil des Bettes, eher einem Toten gleichend als einem Schlafenden.

  • Sie fühlte die Bewegung, als er zu ihr herunterschaute. Ob er sah, dass sie weinte, wusste Axilla nicht. Sie wagte nicht, zu ihm hochzublicken und damit noch zu bestätigen, was er vielleicht vermutete. Piso antwortete ihr mit träger, schläfriger Stimme, dass er nicht schlafen wolle. Er wollte noch etwas wissen. Nur was, das sollte Axilla nicht mehr erfahren, denn seine Stimme wurde immer langsamer und verschlafener, bis er schließlich ruhig dalag. Axilla blieb noch liegen, lauschte, ob er nicht doch wach war.
    Die Geräusche der Straße und des Schankraumes unten übertönten den leisen, gleichmäßigen Atem von Piso. Axilla blieb noch eine ganze Weile liegen, bevor sie sich sicher war, dass er wirklich eingeschlafen war. Ganz behutsam entschlüpfte sie seinen Armen und krabbelte aus dem Bett. Ängstlich schaute sie, ob sie ihn geweckt hatte, aber er schlief noch immer. Er lag da wie tot, und hätte sich seine Brust nicht ab und an bewegt, Axilla hätte es mit der Angst zu tun bekommen.
    Sie fror. Völlig nackt an einem Morgen des gerade angebrochenen Dezembers (der es ja zu diesem Zeitpunkt noch war) und so kurz nach ihrer Ankunft aus Alexandria war ihr fürchterlich kalt. Sie suchte ihre Kleidung, die etwas achtlos neben das Bett geworfen worden war. Eine Fibel war kaputt und schloss nicht mehr richtig, und auch einige Haarnadeln waren nicht auffindbar. Axilla hatte nicht die Zeit und nicht den Mut, ausführlicher danach zu suchen. Sie schlüpfte in ihr Kleid, so gut es ging. Die kaputte Fibel wurde mit Nachdruck so gut es ging geschlossen. Axilla stach sich dabei leicht in den Daumen, so dass es eine Winzigkeit blutete, aber das machte ihr nichts. Solange es halten würde, sollte es gut sein. Mit ihrer Frisur hielt sie sich gar nicht erst auf, sondern versteckte das zerstrubbelte, braune Haar unter der Palla, die sie sich auch weit vor in die Stirn zog. Sie schämte sich und wollte am liebsten im Boden versinken.
    Immer wieder glitt ihr Blick ängstlich zum Bett, ob sie auch ja nicht Piso weckte. Sie wollte nicht, dass er aufwachte, dann konnte sie sich nicht mehr hinausschleichen. Aber sie wollte sich nicht der ganzen Wahrheit stellen. Sie wollte lieber fliehen und so tun, als wäre nichts gewesen. Und bei ihrem nächsten Treffen, so es denn eines gab, würde sie einfach dasitzen und lächeln und so tun, als sei nichts weiter gewesen. Ja, sie würde das ganze hier einfach ganz und gar vergessen. Das war eine ausgezeichnete Idee. Von dem, was hier geschehen war, musste niemals jemand erfahren. Wiederholen würde es sich nicht, niemals, warum also es irgendwie die Zukunft beeinflussen lassen?
    Aber er wachte nicht auf, auch nicht, als sie ihre Schuhe überzog und ein letztes Mal zurückschaute. Sie hatte ein sehr seltsames Gefühl dabei, ein wirklich sehr seltsames. Sie hätte nicht gedacht, dass ihr dasselbe zweimal passieren könnte. Sie wollte nur hoffen, dass es nicht noch ein drittes Mal passieren würde. Sie stand noch einen Moment an der Türe, schaute zu ihm herüber, dachte über alles nach, was sie tun sollte, was sie fühlen sollte, und wie elend es von ihr war, das alles nicht zu tun und nicht zu fühlen. Vielleicht stimmte es ja doch und sie war ein schlechter Mensch.
    Sie zupfte noch einmal die Palla zurecht, zog sie vor bis vor Nase und Mund wie einen Schleier, hinter dem sie niemand erkennen sollte, und huschte leise hinaus. Durch den Schankraum, ohne irgendwen anzublicken oder sich ansprechen zu lassen, und weiter hinaus auf die Straße und schleunigst nach Hause. Am besten da gleich ins Bad und die letzte Nacht abwaschen. Sich rein waschen, schrubben, jede Verfehlung wegwischen. Ja, genau das wollte sie tun. Und wenn jemand fragen würde, wo sie so lange war, lügen. Darin, die Wirklichkeit zu ihren Gunsten zu verbiegen, selbst vor ihr selbst, war sie gut.

  • Piso schlief wie ein Murmeltier, während Axilla sich davonmachte. Laut war sie eh nicht, aber selbst, wenn sie einen Rabatz geschlagen hätte, dass die Wände gewackelt hätten, hätte ihn dies vermutlich auch nicht aufgeweckt. Als die Türe zugeschlagen wurde, wachte er auch nicht auf.
    Er wusste nicht, wie lange er schlief, und somit war es ihm auch unmöglich, festzustellen, wie spät es war, als er es das zweite Mal mit Axilla getrieben hatte.
    Er wusste nur, dass er irgendwann aufwachte. Tief in ihm drinnen regte sich wieder die Hoffnung, alles wäre nur ein Traum gewesen, und er würde nun wohl behütet in seinem Zimmerchen in der Villa Flavia aufwachen. Dem war aber nicht so, und das erkannte er sofort, als er neben sich griff und das Bett ertastete. Das war nicht sein Bett.
    Unendlich langsam setzte er sich auf. Axilla war weg. Es verwunderte ihn nicht. Er hatte es kommen sehen. Er begann, splitternackt durch die Dunkelheit zu tapsen, und ertastete sich irgendwann den Weg zum Fenster. Mit fast schon zittrigen Händen öffnete er dia Absperrung, und wäre fast hinausgefallen, als sich die Läden plötzlich öffneten.
    Das Tageslicht blendete ihn, und er kniff die Augen zu, hielt sich dabei eine seiner Hände über das Gesicht, wandte jenes ab und verzog sein Gesicht zu einem Ausdruck von Wehleidigkeit. Erst nach ein paar Sekunden wagte er es wieder, hinauszublicken.
    Tag. Hellichter Tag. Dem Sonnenstand nach zu urteilen, war es sicher schon die 5. oder die 6. Stunde oder so. Als er nach unten blickte, erschlossen sich seinen Augen eine kleine Schar von Kindern, die sich unten versammelt hatten und staunend auf den nackten Mann, der in die Welt hinausschaute, als ob ihn das Zimmer geboren hätte, hinaufblickten.
    Piso grunzte und trat einen Schritt zurück, um nicht noch von einem anderen der Passanten, dero es viele unten gab, oder von einem Betreiber einer der vielen Wäscheküchen da unten gesehen zu werden. Er zog die Läden zu, jedoch nicht vollständig. Ein wenig Licht sollte durchdringen. So ließ er den rechten Laden ein wenig angelehnt und überblickte das Zimmer.
    Es war kleiner, als er es sich gedacht hätte. Das Bett war in einem elenden Zustand. Herrje, und hier hatte er orgasmische Orgien gefeiert wie ein verfluchter Junkie! Aulus, du elende Kreatur! Er erbleichte ein bisschen, als er das Bett ein wenig genauer inspizierte und lauterlei unästhetische Verfärbungen und Wurmstiche im Holz erblickte. Nichts wie weg, dachte er sich.
    Er klaubte seine Tunika vom Boden auf und zog sie sich über, und fand auch noch seinen Gürtel, an dem noch der Geldbeutel hing, wie auch seinen Amictus, den er hastig aufnahm und sich umwarf.
    Leise tappte er aus seinem Zimmer, amchte die Türe hinter sich zu und schlich sich nach unten.
    Der Plan, keinen Wirbel zu verursachen, scheiterte.
    „Guten Nachmittag, Meister!“, dröhnte der Wirt heraus, als er den Flavier sah. „5 Sesterzen macht das! Ich hoffe, das war es wert!“ Piso blickte auf. „5 Sesterzen? Das ist Gaunerei.“ Unwillig zog er 5 einzelne Sesterzenstücke aus seinem Beutel und legte sie dem Wirt vor. Der Wirt grinste und strich das Geld frohen Mutes ein. „Eine fesche Katze war sie allemal, dein Mädel.“ Piso blickte den Kerl finster an. „Vale.“ Der Wirt grinste. „Vale auch!“
    Piso zog den Amictus enger um sich und schritt mit all dem Rest seiner patrizischen Würde, die er noch aufbringen konnte, hinaus.

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