Es gab Menschen, und es gab Menschen.
In den langen Feldzügen, in denen sein Vater sich immer wieder anderen Anführern verschrieben hatte, weil ihr vorheriger aus irgendwelchen Gründen den Kampf gegen Modorok nichtmehr fortsetzen wollte, oder schlicht an den unmöglichsten Dingen gestorben war, hatte Vala schon als kleiner Junge feststellen dürfen, dass es starke und schwache Menschen gab. Das war eine der maßgebensten Erfahrungen in seinem Leben gewesen: zu erkennen, dass man Menschen manipulieren konnte wie es einem beliebte, wenn man es nur richtig anstellte. Menschen waren nur so lange schwach, wie es keinen Schwächeren gab, und Starke Menschen nur so lange stark, und so weiter und sofort. Es hatte ihn einige blaue Augen, viele Wunden und viel Blut gekostet zu erkennen, dass es dabei nicht einfach um ein simples Schwarz/Weiss-Muster ging. Es ging um ein komplexes System an Zwischenmenschlichkeit, das man nur meistern konnte, wenn man die verschiedenen Zwischenstufen beachtete, und genau daran maß sich Stärke: wer es schaffte, das Netzwerk an Stärken und Schwächen zu meistern und für sich einzunehmen, der besaß wahre Macht.
Genau aus diesem Grund war das römische Kaisertum, und der römische Staat an sich, allem überlegen, was es zur selben Zeit bei anderen Völkern zu beobachten gab: es hatte den Zenit der Macht mit dem Kaisertum erreicht. Rom war das perfekte Netzwerk, und das in Gesetze und sakrales Brauchtum gefestigte Kaisertum war DER Starke schlechthin.
Das, was sich in diesem Moment vor Vala auftat war ein Abgrund an Schwäche. Der nach unten gerichtete Blick, diese offen zur Schau gestellte Unsicherheit, und das fatale Bestreben sich zu einer Reaktion zu zwingen, die vollkommen dem entgegengesetzt war, was man eigentlich fühlte. Ja, die junge Römerin war schwach. Was Vala zu einer Reaktion verleitete, die er seiner Mutter verdankte: Mitleid, Mitgefühl, Mit... Mitleben.
Vala fand Schwäche nicht per se verachtenswert. Er war keiner dieser Fundamentalisten, die sich in einem "Survival of the fittest" dem überlegen sahen, was in ihren Augen Schwäche war. Schwäche war für Vala das Resultat aus einer vergleichenden Konfrontation. Kein permanenter Zustand, der in Blei gegossen das Hier-und-Jetzt mit dem Wird-noch verwob. In diesem Moment war Vala absolut im Vorteil.. er hatte das Gefühl, die junge Frau an die Wand klatschen zu können wie ein Puppenspieler eine seiner Marionetten. Für viele wäre dies die perfekte Einladung, genau das zu tun: Macht ausüben. Egal wie flüchtig sie war.
Vala dachte etwas langfristiger: wenn man keine Macht besaß, bedeutete das noch lange nicht, dass man es auch nie tun würde. Wenn er sie wirklich genommen hätte, wie er es noch wenige Augenblicke zuvor im Eifer des Rauschs in Erwägung gezogen hätte, oder sie jetzt einfach nur ihrer selbst überlassen.. wer sagte ihm, dass sie nicht in einem Jahr Frau eines wichtigen Senators werden würde, und sich darüber bitter an ihm rächen würde? Und auch wenn man die Rachemöglichkeit außer Acht ließ: es war eine der grundlegensten und wichtigsten Lektionen des Griechen gewesen, die ihm sagte, dass Vernunft und Selbstbeherrschung der wahre Schlüssel zur Macht seien. Was nützt es einem, einen Hund zu treten und ihn zu ersäufen, nur weil man es kann, wenn man ihn gleichsam für die Jagd benutzen kann, die einen lange nährt?
Beschwert von diesen Gedanken ließ Vala sich auf den Sims eines der steinernen Brückengeländer sinken, die in die Straße des Ufers übergingen, und sah die junge Römerin müde an. Wie oft würde er sich noch täuschen? Zweifeln, um letztendlich bis zur Wahrheit doch noch viele Schritte tun zu müssen? Er wusste es nicht... allerdings nahm sein Eifer ihm die Möglichkeit, einfach aufzugeben.
"Was mach ich bloß mit dir...?", fragte Vala daher mehr sich selbst als die Frau, die immernoch betreten vor ihm stand. War dies nicht eine einzige Farce, in die er sich letztendlich ohne jedes Zutun der Frau hereingesteigert hatte? Auf einmal kam ihm sein Verhalten unglaublich lächerlich vor.. wie ein Hahn hatte er reagiert, der seinen Stolz von einer Henne verletzt sah. Er raffte sich wieder auf, zu seinem ursprünglichen Plan zurückkehrend. Der Wille, sich weiter mit dieser Frau zu beschäftigen hatte ihn zwar nicht zurück, aber dafür die Möglichkeit, diesen Ausbruch doch noch zu einem guten Ende zu treiben.
"Zeig mir den Weg, Axilla.", er zwang sich zu einem auffordernden Lächeln, und winkte knapp mit der Hand, um hir zu deuten, dass er tatsächlich vor hatte, sie zuhause abzuliefern.