cubiculum MAC | Schein oder Sein?

  • In meinem jetzigen Zustand bekam ich nicht mehr alles mit, was vor sich ging, aber dennoch genug, wie ich fand. Ich realisierte, dass Siv leicht angesäuert war, doch im nächsten Moment war der Ausdruck schon wieder verschwunden, abgelöst von Überraschung, die kurz darauf ebenfalls getilgt war. Ihre Gedankengänge konnte ich nur erahnen, doch dafür war meine Verfassung ohnehin nicht mehr geeignet, also sah ich sie nur an und sann ergebnislos darüber nach, was sie wohl denken mochte.


    "Übermorgen", entgegnete ich auf ihre Frage, irritiert, dass sie sie so unbeteiligt vorgebracht hatte. Dann sprach sie das Bett an, und nun war ich es, der die Augen schloss. Was sollte ich im Bett, an Schlaf war nicht zu denken. Und wenn ich doch einschlief, dann nur, weil der Wein seinen Tribut forderte, nicht etwa, weil meine Gedanken zur Ruhe gekommen waren. Ich seufzte tief. "Vielleicht... Hast du recht." Mit großer Anstrengung sah ich sie wieder an. Melancholie durchflutete meine Adern, waberte glühend durch sie hindurch. Ich blinzelte und ließ dann den Kopf hängen, indem das Kinn auf die Brust sank. Die Versuchung, erneut die Augen zu schließen, wurde immer größer.

  • Übermorgen also. Siv nahm die Worte wahr, aber dennoch schien es ihr fast so, als erreichten sie sie nicht. Sie fühlte sich sonderbar… distanziert. So als wäre sie nicht sie selbst, als stünde sie neben sich und betrachte eine andere dabei, wie sie ihr Leben lebte. Dinge sagte und tat. Als ginge sie das nichts an. Nicht mehr. Ein Teil ihrer Selbst schien an dieser Kammer zu kleben, schien damit verwoben zu sein. Alles, was sie gewollt hatte, seit sie damals aus Germanien zurückgekehrt war. Dass sie in diesem Zimmer neben dem Gemach Corvinus’ hatte leben dürfen, das symbolisierte für sie mehr als nur die Tatsache, dass sie damit als Sklavin einen besseren Stand bekommen hatte. So viel mehr. Es war das gewesen, was sie gewollt hatte. In seiner Nähe sein zu können. Ganz gleich, welche Schwierigkeiten es noch gab, ganz gleich, wenn er manchmal Phasen hatte, in denen er mit dem haderte, was war – in seiner Nähe sein zu können… das war alles gewesen, was sie gewollt hatte. Mit allem anderen hatte sie fertig werden können, hatte sie geglaubt, und bisher war es auch so gewesen. Ihre Hand, die auf Höhe ihrer Schulter leicht am Türstock ruhte, krampfte sich kurz um das Holz, während Corvinus – wie dieser seltsam unbeteiligte Part von ihr, den nichts zu kümmern schien, bemerkte – ihr zustimmte, was das Bett betraf. Dass sie die Kammer bekommen hatte, war sein Zugeständnis an sie gewesen, an das, was zwischen ihnen war, auch wenn er es nie wirklich laut ausgesprochen hatte. Dass er sie ihr jetzt wieder wegnahm, schien ihr, als könne es doch im Grunde nur eines bedeuten. Dass er die Konsequenzen zog aus seinen Befürchtungen, seinen Zweifeln, die stets da gewesen, niemals wirklich verschwunden waren. Dass er sein Zugeständnis wieder zurücknahm…


    Siv hatte das Gefühl, ins Bodenlose zu fallen. Aber da war immer noch dieser Teil ihrer Selbst, der das alles nur betrachtete – und dieser Teil war es, der in diesem Augenblick das Kommando übernahm. "Ich sorge dafür, dass gepackt wird, morgen." Ihre Stimme klang nun sogar für sie selbst merkwürdig, hohl und so schrecklich fremd, weil sie in Nuancen zu schweben schien, die sonst nicht ihre waren. Sie war sich gar nicht wirklich bewusst darüber, aber Siv verschloss sich in diesem Augenblick, verschloss sich vor weiterem Schmerz, weil ein Teil von ihr, ihr Unterbewusstsein, meinte – oder vielleicht auch ahnte, wusste –, dass sie im Moment nicht mehr ertragen konnte. Aber diese Kühle, die übrig blieb, das war etwas, was sonst Corvinus’ Art war. Nicht ihre. Nie ihre. Nur in diesem Moment… Ein Teil von ihr fiel, und das was zurückblieb, hielt die Fäden zusammen und handelte schlicht. Sie löste ihre Hand vom Türrahmen, betrat nun endlich tatsächlich sein Zimmer und ging auf ihn zu. Ließ sich neben ihm in die Knie sinken. Streckte ihre Hand ein wenig aus, vor ihm, hielt aber dann inne, wartete darauf, dass er sie ergriff. "Komm. Ich helf dir."

  • Die Versuchung hatte obsiegt, ehe Siv noch etwas erwidern konnte. Ich hatte die Augen geschlossen und hockte einem Schluck Wasser gleich neben der Tür auf dem Boden, an die Wand gelehnt und mit wirren Gedanken im Schädel. Bona Dea, ich war so müde, so unendlich müde, was dieses mentale Tauziehen mit mir selbst anbelangte! Und doch konnte ich nicht die Ruhe finden, die ich so dringend gebraucht hätte. Wenn ich Gelegenheit zum Schlafen hatte, lag ich wach bis mitten in der Nacht oder wachte noch vor dem Morgengrauen auf. Mich in meinem Arbeitszimmer zu verkriechen, bedeutete die einzig adäquate Ablenkung für mich, sah man von den Gelegenheiten ab, bei denen ich mich mit freiem Kopf in der Öffentlichkeit blicken lassen oder im Senat sitzen musste. Und selbst dann fiel es mir schwer, mich nur auf diese Sache zu konzentrieren und nicht meine heimische Situation, zwischen selbst platzierten Stühlen sitzen zu müssen, zu verfluchen. Oh sicherlich, ich hatte darüber nachgedacht, Celerina in Kenntnis zu setzen. Es wäre vermutlich das kleinere Übel, ihr gegenüber zuzugeben, dass Siv mehr als meine Leibsklavin für mich gewesen war. Und noch immer war. Doch kreisten die Gedanken sogleich um die damit verbundenen Verschiebungen der Zukunftsbahnen: Für mich, wenn Celerina sich aus verletztem Stolz heraus scheiden lassen wollte, und für die Familie, was die politischen Konsequenzen aus dieser möglichen Scheidung heraus bedeuteten. Ich saß sozusagen in der Zwickmühle, und die beiden einzig richtigen Entscheidungen konnte ich nicht guten Gewissens treffen, ohne mich schlecht zu fühlen: Siv abzuweisen und fortzuschicken - oder Celerina so bewusst zu hintergehen, dass ich die Konsequenz einer Scheidung mehr als nur bewusst verdient hätte. Vielleicht hatte ich mit ihr als Ehefrau eine schlechte Wahl getroffen, vielleicht hätte eine andere darüber hinweggesehen, doch war ich mir sicher, dass Celerina ihre ganz eigene Meinung dazu hatte. Und wie die mit aller unerschütterlichen Härte aussah, hatte sie mir bereits mit ihrem plötzlichen Aufbruch nach Ostia verraten.


    Dass Siv das Packen veranlassen wollte, dachte ich zunächst daran, ihr zu widersprechen. Ich hatte bereits dafür gesorgt, dass sich jemand darum kümmern würde. Siv würde dies selbst merken, also sagte ich nichts und dachte stattdessen darüber nach, wie seltsam sie klang. Aber das lag wohl nur am Wein, dem ich in letzter Zeit wissend viel zu oft fröhnte. Doch die dumpfe Betäubung in sich verschlungener Gedanken erschien mir weitaus angenehmer als direkt und mit vollem Bewusstsein über die Misere nachdenken zu müssen, in die ich mich verfrachtet hatte.


    Plötzlich kniete sie dann neben ihm und hielt mir ihre Hand vors Gesicht. Als ich Schritte gehört hatte, hatte ich schweren Herzens die Lider gehoben und sah erst zu ihrem Gesicht hin und dann, als die Hand in den Vordergrund rückte, diese an. Erneut rang ich mit mir. Ich ahnte, wohin das führen mochte. Doch wenn sie jetzt bei mir lag, würde das alles nur noch komplizierter werden, für sie, für mich, für alle, die auch nur einen Teil der Konsequenzen tragen mochten. Ich hob matt die Hand und schob ihre beiseite. "Nein", sagte ich und ließ sie dann, angestrengt blinzelnd, wieder fallen.

  • Siv ahnte nichts von dem, was in seinem Kopf vor sich ging. Welche Möglichkeiten ihm vorschwebten. Es hätte vermutlich auch keinen großen Unterschied gemacht, für sie, denn seine Entscheidung traf er letztlich selbst. Das hatte er immer getan – und er hatte es immer getan, ohne sie dabei in irgendeiner Form mit einzubeziehen. Ihre Meinung spielte keine Rolle für ihn. Siv war gerade an einem Tiefpunkt angelangt, und entsprechend düster war ihre Gedankenwelt, in der sie sich bewegte. Sie hatte nun nur noch eine Entscheidung zu treffen… und sie fühlte sich im Moment absolut nicht in der Lage dazu. Nicht so, nicht jetzt. Sie musterte ihn eine lange Zeit, und dieser Teil von ihr, der immer noch zu fallen schien, schrie jämmerlich auf, als ihr schmerzhaft bewusst wurde, wie sehr sie diesen Mann liebte. Wie sehr sie bei ihm bleiben wollte, selbst wenn es nur wenige glückliche Momente gab, geben konnte. Aber wenn es von nun an überhaupt keine glücklichen Momente mehr gab? Wollte, konnte sie dann noch bei ihm bleiben?


    Ein winziger Moment nur war es, in dem sie, ihr wahres Ich, das was sie ausmachte, ihre Gefühle, wieder das Zepter an sich rissen, und in diesem winzigen Moment bildete sich ein Kloß in ihrem Hals, schwammen ihre Augen in Tränen, hätte sie schreien und fluchen und weinen mögen. Aber sie fiel weiter, und der Moment verging, ohne dass etwas geschah. Für einen kurzen Augenblick schlossen sich ihre Finger um seine Hand, strichen über seine Haut, seine Finger, brachten sie erneut in Gefahr, an den Rand ihrer Selbstbeherrschung. Dann erhob sie sich, etwas ungelenk und mühsam. "In Ordnung", meinte sie leise. Einen Augenblick sah sie ihn noch an, dann drehte sie sich um, um den Raum wieder zu verlassen.

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