[Subura] Die Insula des Uland und der Ferun

  • Brix ließ sich umarmen und drückte auch Siv kurz an sich. Nicht zu fest, denn sie hielt Finn ja noch. Er strich ihr dabei zweimal kurz über den Rücken und ließ sie dann wieder los. Anschließend fuhr er Finn über das Köpfchen und lächelte noch kurz. "Bis die Tage, Ferun." Er zerwuschelte Sonnwinn das Haar und winkte Lioba grinsend zu, dann machte er sich auf den Heimweg. Was Brix dachte, behielt er für sich. Die unausgesprochenen Fragen in Sivs Augen hatte er nicht beantwortet. Das würde er auch beim nächsten Mal nicht tun, bis sie ihn danach fragte. Sofern sie das jemals tat vor ihrer Heimreise.

  • Siv genoss die kurze Berührung, genoss es, im Arm gehalten zu werden. Sie gab das nicht gerne zu, aber am liebsten hätte sie Brix aufgehalten und sich von ihm noch länger so halten lassen, so lange, bis das Gefühl der Einsamkeit endlich verschwunden war, und wenn es nur für ein paar Stunden wäre. Aber es ging nicht, das wusste sie, und es war ohnehin fraglich, ob Brix’ Gegenwart das überhaupt bewirken konnte. Also ließ sie ihn bald wieder los, zwang ein Lächeln auf ihre Züge, als er sich von den drei Kindern verabschiedete. Denk noch einmal über meine Worte nach. Siv unterdrückte abermals ein Seufzen. Brix hatte leicht reden. Er war es nicht, der das hinter sich lassen musste, was er sich in den letzten Jahren aufgebaut hatte. Der eine Reise vor sich hatte, von der er nicht wusste, wie sie enden würde. Der ein Ziel vor Augen hatte, von dem er nicht wusste, was ihn dort erwarten würde, das so schwammig war, dass er es nicht mal genau ausmachen konnte, und das ohnehin nur zweite Wahl war… Aber hier zu bleiben, einfach nur um hier zu bleiben, war keine Option. Siv wusste nicht genau, was sie wollte, aber sie wusste, dass sie das nicht wollte: in Rom bleiben, wenn er sie nicht hier haben wollte. Wenn er sie nicht bei sich, in seiner Nähe wissen wollte. Wenn sie ihr Leben so fristen musste wie hier, ohne irgendwelche Vorzüge, weder die, die ein Leben in den germanischen Wäldern hatte, wenigstens für sie, noch die, die das Leben in einer Stadt bieten konnte. Für das Leben, das sie im Augenblick führte, war sie nicht gemacht. Und sie wollte es auch nicht für ihren Sohn. Da war es weit besser, wenn er eine Hälfte seines Seins, seiner Herkunft, seiner Abstammung verdrängte, vergaß und sich erst spät, wenn überhaupt, damit beschäftigte. So wichtig schien ihr der römische Teil seines Erbes dann auch nicht zu sein, dass sie dafür das hier in Kauf genommen hätte, für ihn und für sich.


    Einen Augenblick lang stand Siv so da, in Gedanken versunken, dann hörte sie einen Aufschrei, und als sie sich umdrehte, sah sie, wie Sonnwinn versuchte Lioba einen Klotz wegzunehmen, den sie ihm offenbar gerade geklaut hatte. Siv machte kurzen Prozess, griff sich den Klotz und legte damit den Grundstein für einen weiteren Turm, und es dauerte nicht lang, da bauten sie alle drei, gelegentlich unterbrochen von Streitereien, die Siv zu schlichten versuchte, bis Uland nach Hause kam und es Essen gab.

  • Es war eine selten dumme Idee. Unsinnig. Selbstzerstörerisch. Schmerzhaft. Natürlich war es das. Doch das hieß nicht, dass ich mich ihr entziehen konnte, obwohl ich unterwegs zweimal langsamer geworden war, bis ich schließlich angehalten und mich gefragt hatte, was ich eigentlich hier tat. Nüchtern betrachtet war es undenkbar für mich, einen Patrizier und Senator, einer ehemaligen Sklavin hinterherzulaufen, sogar bis in die subura. Allerdings war bei der nüchternen Betrachtung nicht berücksichtigt, dass diese Frau die Mutter meins Sohnes war und dass sie meinetwegen fortgegangen war. Und schon gar nicht, was ich für sie empfand. Jedes Mal, wenn meine Schritte sich wieder verlangsamten, rief ich mir in Erinnerung, dass ich sie nie wieder sehen würde, wenn ich nun umkehrte. Sie nicht und meinen Sohn auch nicht. Das hatte mich zum Weitergehen gebracht. Das und die Lüge, mit der ich mich selbst betrog, um nicht trotzdem umzukehren. ich wollte ihr lediglich eine gute Reise wünschen. Die Wächter, dir Brix mir hinterher geschickt hatte, waren inzwischen zu mir aufgeschlossen. Die Dämmerung war bereits hereingebrochen, und ich war Brix dankbar, dass er mitgedacht und die Sklaven geschickt hatte.


    Und dann stand ich vor der unscheinbaren insula, durch deren Fenster nur wenig Licht nach außen fiel. Unten hatte man selbige mit Brettern vernagelt. Der Anblick des schiefen, dunklen Hauses beschwor ein ungutes Gefühl in mir herauf. Es widerstrebte mir, mir vorzustellen, dass mein Sohn hier lebte. Wann immer meine Gedanken zu Siv schweiften, schob ich schnell das Antlitz des kleinen Junge davor. Es fiel mir dann leichter, meinen Entschluss beizubehalten. Nun fehlte nur noch der letzte Schritt, ich musste eintreten und klopfen. Jeder meiner trägen Schritte fühlte sich an, als ob unter meinen Sandalen Harz kleben würde. Den Sklaven, die zu recht verwundert waren, dass dies mein Ziel sein sollte, hatte ich befohlen, unten im Hausflur zu warten. Uland und seine Familie wohnten unter dem Dach. Langsam stieg ich die windschiefe, schmale Treppe hinauf. Unrat und Dreck sammelten sich in den schlechter einsehbaren Ecken des Hausflures. Es roch nicht gut, eine Mischung aus fauligem Kohl, vergorenem Bier, ranzigem Fisch und den verschiedensten Körperausscheidungen. Ich kräuselte angewidert meine Lippen. Wie konnte man hier hausen? Wohnen konnte man es kaum nennen. Es hätte mich auch nicht gewundert, wäre ich über eine Ratte oder sonstiges Ungeziefer gestolpert. Je weiter ich nach oben kam, desto besser wurde es allerdings. Und schließlich stand ich vor einer Tür, durch die das leise Murmeln von Stimmen zu hören war. Eine tiefe war dabei, Uland vermutlich. Vielleicht saßen sie gerade zur cena. Ich atmete die schlechte Luft tief ein, hielt sie dann an - und klopfte knapp.


    Die Stimmen verstummten. Noch war Zeit. Noch konnte ich herumfahren und unverrichteter Dinge wieder gehen. Das Herz schlug mir bis zur Kehle, ein unangenehmes, angespanntes Pochen. Es rauschte in meinen Ohren, doch statt umzukehren und mich auf den Rückweg zu machen, blieb ich starr stehen wie eine marmorne Statue und wartete, äußerlich ganz der Patrizier, der ich innerlich nicht war.

  • Und wieder war ein weiterer Tag vergangen. Siv hatte das Gefühl, dass sie in einer Art Einheitsbrei alle ineinander zu zerfließen schienen. Sie fühlte sich so… so klein und jämmerlich. Es gab viel, woran sie sich hier nicht gewöhnen konnte – die Enge, die Luft, all das –, und darüber hinaus wurde der Schmerz, den seine Abweisung in ihr verursacht hatte, nicht geringer, aber mehr noch als das war es sie, sie selbst… die sich erbärmlich fühlte. Dabei gab es doch so viel Gutes, sie hatte Finn, und Uland und seine Familie, die wirklich freundlich zu ihr waren… Aber manchmal machte es das nur noch schlimmer, weil Siv das Gefühl hatte – und das war völlig neu für sie –, dem nicht gerecht werden zu können. Sie gab sich ihr Bestes, sich nichts anmerken zu lassen, und zumindest das schien sie gut genug transportieren zu können: dass sie nicht darüber reden wollte. Sie bemerkte die Blicke, die Ferun und Uland ihr zuwarfen, aber sie ignorierte sie, und zumindest für den Moment schienen sie es aufgegeben zu haben, sie darauf anzusprechen. Genauso wie darauf, dass sie nach wie vor schlecht schlief – selbst dann, wenn Finn sie schlafen ließ. Und selbst wenn Ferun eine Anspielung in dieser Richtung machte, dann schob Siv es nur darauf, dass die Subura nichts für sie war, dass vor allem die Enge ihr aufs Gemüt schlug. Und damit log sie noch nicht einmal, denn dass das mit ein Grund war für Sivs eher schlechte Verfassung, stimmte auch. Germanien, hatte ihre Standard-Antwort gelautet, wenn denn die Sprache darauf gekommen war. Wenn wir erst in Germanien sind… Dann würde alles besser werden. Siv redete sich das jedenfalls ein. Sie konnte gar nicht anders, als sich das einzureden. Sie würde verzweifeln, wenn sie sich nicht so fest daran klammerte, dass eine Besserung in Aussicht war. Für sie und für Finn.


    Mit dem Jungen beschäftigte sie sich gerade wieder, hatte ihn auf dem Arm und ging auf und ab, während Uland, Ferun und die Kinder gemeinsam aßen. Siv nutzte die Ausrede recht gern, die Finn bot bei solchen Gelegenheiten, egal ob er nun gestillt werden musste, sonst etwas brauchte oder nicht. Heute war nicht der Fall, aber Siv tat trotzdem so, als brauche er sie ausgerechnet jetzt und unbedingt und ohne jedes Wenn und Aber. Wenn die vier zusammen waren, fühlte sie sich einfach überflüssig. Mehr noch, sie fühlte sich wie ein Eindringling. Und sie schottete sich lieber selbst ab, als dabei zu sitzen und sich… fremd und unwohl zu fühlen. Oder den leichten Schmerz, den das in ihr aufwühlte. Der einfache Tisch befand sich direkt beim Durchgang zu der winzigen Küche, so dass Siv, wenn sie sich weiter vorne im Raum aufhielt, durchaus genug Abstand zwischen hatte, um die leise Unterhaltung wenigstens einigermaßen ausblenden zu können. Und so war sie der Tür auch am nächsten, als es plötzlich klopfte. Uland sah hoch und machte Anstalten, aufzustehen, aber Siv schüttelte leicht den Kopf. "Ich geh schon", meinte sie leise, während sie sich bereits umwandte und zur Tür ging. Sie verlagerte Finn in ihren Armen so, dass sie eine Hand frei hatte, und öffnete dann die Tür. Und blieb wie vom Donner gerührt stehen. Finn versuchte bereits nach kurzer Zeit, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, wedelte mit seinen Ärmchen und gab glucksende Geräusche von sich, aber – eines der wenigen, wenn nicht sogar das erste Mal überhaupt – Siv reagierte nicht darauf. Sie reagierte auch nicht darauf, als bereits nach einem winzigen Moment Ulands Stimme ertönte. "Siv? Wer ist da?" Sie stand einfach da und starrte Corvinus an, der vor der Tür stand, während ihr Herz sich mit einem einzigen Satz den Weg in ihre Kehle hineingebahnt zu haben schien und dort wild pochte, während es ihr heiß und kalt zugleich den Rücken hinunter lief und ihre Lunge zu wenig Platz zu haben schien. Ein weiteres "Siv?!" ertönte, dann erklang Stuhlscharren, und Uland tauchte hinter ihr auf. Und blieb erst mal selbst überrascht stehen, als er erkannte, wer da vor der Tür stand. "Cor… Patron! Das ist… das… Es freut mich, dich hier zu sehen, komm doch herein…" Seiner Stimme war die Verwirrung darüber anzumerken, dass der Aurelier hier, in der Subura, in seiner Wohnung aufgetaucht war. "Was…" Sein Blick wanderte zu Siv, die immer noch da stand und Corvinus anstarrte. "Was können wir für dich tun?"

  • Als sich die Tür öffnete, offenbarte sich das schreckliche Spiel der Parzen, die - wie hätte es auch anders sein können - nicht meinen Klienten oder seine Frau zur Tür gesandt hatten, sondern Siv. Die Möglichkeit, dass sie die Tür öffnen könnte, war mir nicht in den Sinn gekommen. Ich hatte automatisch angenommen, dass es um diese Uhrzeit und hier in dieser Umgebung eher Uland sein würde, der nachsah, wer klopfte. Umso versteinerter stand ich nun hier und erwiderte Sivs Starren. Ich war unfähig, mich zu bewegen. Kurios. Erst die Bewegung des Kindes ließ mich blinzeln, und mein Blick glitt hin zu ihm, während Uland das erste Mal argwöhnisch nach dem unerwarteten Besucher fragte, der störend hier eindrang. Ich fühlte....alles. Und zeigte nichts davon. Eine Statue des Göttervaters selbst wirkte vermutlich noch emotionaler als ich. Welch eine Idee, hierher zu kommen! Ich schluckte, als ich in die blauen Kinderaugen meines Sohnes sah. Dass sich die Farbe ändern würde, erwartete ich nicht. Zu wenig kannte ich mich mit diesen Dingen aus. Ein Stuhl scharrte, und ich riss den Blick endgültig von dem Kleinen los und stierte an Siv vorbei den näherkommenden Uland an.


    Er war sichtlich überrascht, mich hier zu sehen. Erst bei seiner Frage fiel mir auf, dass ich keinen Anlass für diesen Besuch hatte, zumindest keinen, den ich ihm gegenüber zu erwähnen gedachte. Nicht einmal einen Vorwand hatte ich mir überlegt. Ganz offensichtlich ließ meine Denkfähigkeit nach. Ich brauchte einen Moment, um auf dem marmornen Antlitz etwas wie ein knappes, aber doch unglaubwürdiges Lächeln entstehen zu lassen, ehe ich lahm entgegnete: "Braucht ein Patron einen Grund, um seinen Klienten zu besuchen?" Ich trat ein und unterdrückte den Impuls, erneut zu Siv zu sehen. Der Kleine fing eben an zu knerbeln, es hörte sich störrisch und unzufrieden an. Als er kurz darauf begann, richtig zu schreien, wandte ich doch den Kopf und sah hin zu ihm. Kurz biss ich mir auf die Unterlippe und zwang meine Hand, die ihm an nächsten war, dort zu bleiben wo sie war. Ob seine Haut wohl weich war? Ob er roch wie Siv? Langsam glitt mein Blick wieder höher, zu Sivs Gesicht. Sie wirkte so entsetzt... Nein, es war definitiv keine gute Idee gewesen, herzukommen. Ich sollte besser sehen, wie ich schnell wieder fort kam, ohne Uland vor den Kopf zu stoßen. "Du warst eine Weile nicht beim Empfang", murmelte ich geistesgegenwärtig und bereitete damit meinen hastig ersonnenen Vorwand vor. "Ich wollte wissen, wie es...euch geht." Erst, als es ausgesprochen war, sah ich von Siv zu Uland und wartete. Ob jemandem das kurze Zögern aufgefallen war, das sich in meine Worte geschlichen hatte?


    Ich fühlte mich seltsam ausgelaugt. Vielleicht wäre es leichter gewesen, wenn Siv nicht dagestanden wäre wie eine Salzsäule, wenn sie mich nicht so fassungslos und entgeistert angestarrt hätte, wie sie es tat. "Ich wollte nicht stören", sagte ich zu Uland. Es roch nach Essen. Und gerade tauchte Ulands Junge hinter ihm auf, hielt sich an ihm fest und linste an ihm vorbei zu mir hin. Sein Mund war mit etwas Rotem verschmiert, vermutlich Reste des Abendessens. Er grinste mich mit seinen kleinen Zähnen an. Und das war der Moment, in dem ich mich einfach nur fehl am Platz fühlte. Wie ein Eindringling, der die abendliche Idylle einer Familie zerstört hatte.

  • Er wirkte so… unnahbar. Kalt. Abweisend. So, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Sie stand einfach da und starrte ihn an, auch noch, als Uland hinter auftauchte und etwas sagte, und auch dann noch, als Corvinus das erste Mal seine Stimme erhob. Ihre Brust fühlte sich… so eng an. Viel zu eng, um ihre Lunge und ihr wild schlagendes Herz zu beherbergen, und erst recht nicht das ganze Chaos, das in ihr gerade tobte und ihren Geist ins Trudeln schickte. Da war… so ein merkwürdiges Gefühl. Wie Eisenketten um ihre Brust. Von dem Klumpen in ihrem Magen und ihrem Hals gar nicht zu reden. Sie wusste nicht, warum er hier war, und sie fragte sich das auch gar nicht, einfach weil sie in diesem Augenblick nicht klar genug denken konnte dafür. Sie wusste nur, was seine Anwesenheit in ihr auslöste, und alles, was sie versucht hatte zu verbergen, zu verdrängen in letzter Zeit, drängte an die Oberfläche und überflutete ihr Inneres, so massiv, dass sie Mühe hatte zu atmen. Ihr Brustkorb fühlte sich so eng an… so eng… und es kribbelte so furchtbar, in ihrem Magen, auf ihrer Haut, überall.


    Erst als Finn tatsächlich anfing zu weinen, schaffte er es, Sivs Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sie wandte den Blick ab von dem Mann, der ganz wie der Senator wirkte, der er war – und den sie völlig anderes kannte. Sie wandte den Blick ab und Finn zu, legte eine Hand an seinen Hinterkopf und stützte ihn so, während sie sein Gewicht verlagerte, ihn von einer liegenden Position auf ihrem Arm in eine aufrechte brachte und ihn so an ihrer Brust hielt. Ihre Finger an seinem Köpfchen streichelten ihn sacht, strichen über die feinen Härchen, während sie ihren Sohn – seinen Sohn – sanft auf und ab wippte ihren Armen und beruhigende Laute machte. "Ssschschsch…" Ihre Aufmerksamkeit war jetzt auf Finn gerichtet, und sie dankte ihm im Stillen dafür, dass er sie so in Anspruch nahm. Corvinus’ plötzliches Auftauchen hatte sie schockiert, so sehr, dass sie nach wie vor nicht wirklich reagieren konnte. Sie fühlte sich wie in eisiges Wasser gestoßen, das Geist und Körper gleichermaßen lähmte, weil der Unterschied, der Schock, zu groß war. Es war zu viel für sie. Nach all den vergangenen Wochen, nach allem, was war, nach der Gewissheit, unerwünscht zu sein, nach der Entscheidung, zu der sie sich durchgerungen hatte, und dem Wissen, dass es das war, war es in diesem Augenblick zu viel für sie, ihn nun doch hier stehen zu sehen. Sie sehnte sich danach, aufzusehen, ihn anzusehen, und hatte doch Angst davor. Angst davor, wieder den Senator zu sehen, den Patrizier, den Römer, und nicht den Mann, den Mensch, der er war. Schmerz, über Vergangenes, Verlorenes, Erhofftes und nie Erlangtes blühte in ihr auf und verringerte den Raum in ihrer Brust nur noch mehr, und zugleich Hoffnung, verzweifelte Hoffnung, der sie nicht nachgeben konnte, weil sie zu große Angst hatte enttäuscht zu werden – und der doch ein winziger Teil ihrer Selbst wider besseren Wissens nachzugeben begann.


    Uland unterdessen bemerkte durchaus, dass hier etwas nicht ganz so war, wie es sein sollte. "Natürlich nicht", versicherte er mit einem Lächeln, das dennoch ein wenig unsicher war – und dachte natürlich trotzdem, dass ein Patron wie der Aurelier einen Klienten wie ihn nicht besuchte. Nicht einfach so, und schon gar nicht um diese Tageszeit. "Ich… verzeih mir bitte. Ich versuche gerade so viel zu arbeiten wie möglich, um… Geld zu verdienen. Für Germanien. Es tut mir leid, dass ich zusätzlichen Arbeitsmöglichkeiten den Vorzug gegeben habe in der letzten Zeit, vor dem Empfang…" Uland hatte das zwar abgesprochen, dass er nicht mehr regelmäßig kommen würde zur Salutatio, war sich jetzt allerdings nicht mehr so ganz sicher, ob er nicht tatsächlich zu viel Zeit hatte vergehen lassen. "Es geht uns gut." Er lächelte erneut, offener diesmal, und sah dann kurz zu dem Blondschopf hinunter, der sich halb hinter, halb neben ihn geschoben hatte und den Senator kurz anstarrte, bevor ein Grinsen über sein Gesicht zog. Uland legte ihm eine Hand auf den Kopf und verwuschelte seine Haare. "Du störst überhaupt nicht. Komm doch herein, bitte. Meine Frau würde sich freuen, dich einmal wieder zu sehen."

  • Das Weinen des Kleinen wurde zu einem Wimmern. Siv sagte nichts. Dennoch ließ der Klang ihrer Stimme einige Worte in meinem Gedächtnis wiederauferstehen. Ich konzentrierte mich voll und ganz auf Uland. Er war nervös, und wie konnte ich ihm das verdenken? Ganz gewiss hatte er mit etwas vollkommen anderem gerechnet an diesem Abend. Vermutlich mit allem, nur nicht mit einem Besuch von mir. Bis vor einer Weile hatte ich schließlich selbst nicht damit gerechnet. Offensichtlich hatten meine Worte ein schlechtes Gewissen ausgelöst, denn er beeilte sich, sich zu erklären. Ich hob kurz die Hand, machte eine flüchtige Bewegung und deutete ein Kopfschütteln an. "Keine Sorge. Ich weiß das, und ich bin nicht gekommen, um dir einen Vorwurf zu machen", versicherte ich ihm. Aber das beruhigende Lächeln meiner Worte schien sich partout nicht auf mein Gesicht projizieren zu lassen. Uland strich seinem Sohn durchs Haar. Bei dieser beiläufigen Geste wäre mein Blick um ein Haar abgeglitten zu Siv und dem Jungen auf ihrem Arm. Ich konnte das eben noch verhindern und nickte stattdessen. "Gern." Bona Dea, ich hatte keine Ahnung, worauf ich mich hier überhaupt einließ.


    Uland griff nach einem prüfenden Blick schlichtweg an Siv vorbei und schloss die Tür. Der nächste Blick, den er ihr zuwarf, war besorgt. Er fragte sie leise, ob es ihr gut ging - vermutlich nahm er an, dass ich es entweder nicht hören oder es nicht beachten würde. Aber ich hörte die Frage sehr genau, und ich warf verstohlen einen Blick auf die drei, als Uland eine Antwort erwartete. Dann legte er kurz seine Hand an Sivs Oberarm, drückte kurz zu und widmete sich mir wieder. "Entschuldige", sagte er. Ich nickte nur. "Ferun! Der Senator Aurelius ist hier", sagte er laut, während er voran ging in den hinteren Teil der...übersichtlichen Behausung. Sie hatte mich ob dessen bereits gesehen und gab sich Mühe, Kleinigkeiten aufzuräumen, ohne dabei herumzulaufen. Wenn sie nur gewusst hätte, wie gleichgültig es mir war, ob die Schüsseln akkurat nebeneinander standen oder nicht, und ob sich ein Breiklecks neben dem Teller befand oder nicht. Dies hier mochte nicht meine Welt sein, vielleicht verstand ich sie nicht vollkommen, doch vermochte ich dennoch, mir vorzustellen, wie schwer es sein musste, hier zu leben. Dass Ulands Weib sich nun der Kleinigkeiten wegen verschämt gab, machte mich traurig. Ich hätte nicht herkommen sollen. Diese Erkenntnis schlug sich wieder einmal durch bis zu meinem Bewusstsein.


    Inzwischen stand ich nahe beim Esstisch. Wie ich hergekommen war, wusste ich nicht - es waren mechanische Schritte gewesen. Weg von Siv. Ferun war aufgesprungen und deutete eine Verbeugung an, während Uland sich für die - kaum vorhandene - Unordnung entschuldigte, man hatte nicht mit meinem Besuch gerechnet. "Möchtest du etwas essen?" fragte sie mich, und ich wollte automatisch mit dem Kopf schütteln. "Ich..." Sie hatten wenig, es mochte kaum für fünf Personen reichen. Doch hätte sie das vermutlich vor den Kopf gestoßen. Ich räusperte mich. "Danke. Eine Kleinigkeit vielleicht", erwiderte ich also. Ferun stob davon, auf der Suche nach einer Schale. Auf dem Tisch stand ein kleiner Topf mit Suppe. "Setz dich doch", bot Uland an, wischte mit der Hand ein imaginäres Staubkorn vom Stuhl und deutete dann einladend darauf. Ich nickte dankend und ließ mich dann darauf nieder. Und ich bemerkte den Blick, den Ferun und Uland tauschten, und wie Uland anschließend vielsagend zu Siv hinübersah. Feruns Antwort bestand in einem Stirnrunzeln, als sie eine Schale füllte und vor mir platzierte. Ich überlegte fieberhaft, wie ich ein Gespräch in Gang bekommen konnte. Irgendwie musste es gehen.


    Ich nahm den Löffel, tauchte ihn in die dünne Suppe und aß. Die Suppe schmeckte mehr nach Wasser denn nach etwas anderem. "Das schmeckt gut", lobte ich. Selbst auf mich machte es einen hölzernen Eindruck. Uland wirkte ratlos. Es war offensichtlich, dass ihm die ganze Angelegenheit seltsam anmutete. Ferun konnte dieses Gefühl besser überspielen. Sie reichte mir ein Stück Brot und setzte sich dann wieder neben das Mädchen, dem sie einen kleinen Stuhl gezimmert hatten, aus dem sie nicht herausfallen konnte. "Ich hoffe, deine Geschäfte laufen gut?" war es schließlich mein Klient, dem ein Thema einfiel. Ich war ihm dankbar dafür, legte den Löffel ab und begann damit, Brot in die Suppe zu krümeln. "Es ist viel Arbeit", erwiderte ich. "Aber ich habe einen guten Stab." Uland nickte. Dann breitete sich erneut Stille aus. Ich wandte langsam den Kopf, sah zu Siv und dem Kind. Es wurde zunehmend dunkler. Die einzige Lampe, die brannte, stand auf dem Esstisch. Sivs Züge waren mehr zu erahnen als zu sehen. Ihre Gestalt wirkte unförmig, weil sie den Jungen hielt. Ich stierte in die Suppenschale hinunter. Ferun tauschte nun ganz offen einen besorgten Blick mit Uland. Ich holte tief Luft, legte das Brot neben den Teller. Dann sah ich auf, blickte über den Tisch hinweg zu Uland, der mir gegenüber saß, und zu Ferun neben ihm. "Könntet ihr einen Moment auf..." Ein Stirnrunzeln verriet, dass ich kurz angestrengt nachdachte. Ich wusste nicht, ob mein Sohn einen Namen trug. Nicht einmal, ob er einen besaß. "...auf den...auf...ihn aufpassen?" fragte ich rundheraus und nickte flüchtig in Richtung von Siv und dem Knaben. Uland runzelte die Stirn und folgte meiner Geste mit dem Blick, dann vertiefte sich sein Stirnrunzeln, doch als er wieder zu mir sah, nickte er. Ferun war es, die antwortete. "Natürlich." Sie klang taktvoll. Blut rauschte in meinen Ohren. Die Suppe hatte ich kaum angerührt, als ich nickte. Ich musste allein mit Siv sprechen. Die Örtlichkeiten würden es wohl kaum hergeben, tatsächlich allein zu sein. Und Uland mit seiner Familie aus ihrer Wohnung zu verbannen, nur weil ich keine weiteren Ohren dabeihaben wollte, kam nicht infrage. Doch daran dachte ich kaum. Ich fragte mich, warum ich dieses Gespräch wollte. Ich hätte umgehend nach Hause gehen sollen.

  • Das Gespräch zwischen den beiden Männern rauschte an Siv vorbei. Sie hörte die Worte, sie verstand sogar den Sinn, aber sie hatte trotzdem Mühe, wirklich zu begreifen, über was sie da eigentlich sprachen. Sie stand einfach nur da und begann, sich nach einem Fluchtweg zu sehnen, aber Corvinus blockierte den einen und Uland den anderen Durchgang, und so blieb sie einfach stehen, wiegte Finn in ihren Armen und tat sonst nichts. Als Uland sie ansprach, nickte sie nur nach einem Moment. Sie traute ihrer Stimme nicht. Sie traute ihr ganz und gar nicht. Genauso wenig wie sie ihren Augen traute, weswegen sie Ulands Blick auswich und sich auf Finn konzentrierte, und obwohl der Germane eine Antwort zu erwarten schien, die etwas ausführlicher war, drückte er schließlich nur kurz ihren Arm und wandte sich dann wieder ab von ihr. Und dann setzte er sich in Bewegung, ging wieder zurück, und er ging ebenfalls – nicht nach draußen, sondern an ihr vorbei, in die Wohnung hinein. Sivs Mund wurde staubtrocken, während sie ihn sah, nicht sein Gesicht, aber seine Schulter, seinen Arm, der sich an ihr vorbeischob, und für einen winzigen Moment war sie versucht, etwas zu tun, etwas zu sagen, ihn am Arm zu fassen, irgendetwas. Aber der Augenblick verstrich. Corvinus ging zu dem Tisch hinüber, und Siv selbst blieb stehen wo sie war, bis Sonnwinn plötzlich bei ihr auftauchte und sie ein Stück weit in den Raum hineinzog. Als Siv danach Ulands Blick begegnete, wusste sie, dass der Junge auf diese Idee nicht allein gekommen war.


    Und dann blieb Siv wieder stehen. Sie lächelte Sonnwinn flüchtig zu und schüttelte kurz den Kopf, und der sprang zurück zu seinem Vater. Siv selbst blieb auf Abstand. Abstand zum Tisch, Abstand zu Corvinus. Sie schaffte es immer noch nicht, einen klaren Gedanken zu fassen. Das Chaos in ihr tobte weiter und verhinderte effektiv, dass sich strukturiertere Gedankenstränge bilden konnte, verhinderte aber ebenso, dass Schmerz und Sehnsucht – obwohl sie ein Teil des Chaos waren – einen zu großen Platz für sich reklamierten. Sie stand da und wartete, ohne zu wissen worauf, und währenddessen entspann sich ein unbeholfenes Gespräch am Tisch, durchsetzt mit großen Pausen. Siv kam das Ganze immer absurder vor, aber dennoch stellte sie sich nicht – nicht bewusst – die Frage, die lauerte: warum um alles in der Welt war er hier? Sie stellte sie sich nicht, sie gestand sich nicht ein, dass sie Angst vor der Antwort hatte, sie gestand sich noch nicht einmal ein, dass sie diese Frage hatte. Und dann geschah etwas, was ihre Aufmerksamkeit erregte. Corvinus sagte wieder etwas, und Siv hörte es, wie schon die Male zuvor – aber diesmal sickerte nach einem Augenblick in ihr Bewusstsein, dass er von Finn sprach. Mit einem Mal schien ein eisiger Klotz in ihrem Magen zu sein. Er wollte, dass jemand Finn nahm. Er wollte… Er… Und dann war Ferun schon da, bevor Siv einen klaren Gedanken fassen konnte, und bevor sie etwas tun konnte, hatte sie ihr Finn schon abgenommen. Und Siv… fühlte Panik. Was sollte das? Was wollte er? Finn war ihr Schutzwall, ihre eine und einzige Ablenkungsmöglichkeit. Finn konnte sie einfach immer vorschieben. Dass Corvinus wollte, dass jemand Finn nahm, konnte doch nur zwei Dinge bedeuten: er wollte etwas von ihr, und er hatte durchschaut, wie hilflos sie sich fühlte ohne Finn.


    "Ferun, du… warte…" Siv machte eine Handbewegung, aber Ferun, die das Übliche vermutete, lächelte ihr nur beruhigend zu. "Mach dir keine Sorgen, Siv. Ich weiß wie ich ihn halten muss", sagte sie leise, bevor sie Siv einen leichten Schubs gab, in die Richtung, in der die Schlafgelegenheiten waren. Die Wohnung machte an dieser Stelle einen Knick, um das Treppenhaus herum. Eine einfach gezimmerte Wand war dort und trennte den abgeknickten Teil noch einmal zusätzlich etwas ab. Eine einfache Schlafstelle am Boden an der diesseitigen Wand wies darauf hin, wo Siv für gewöhnlich schlief. Es war nur improvisiert und noch einmal ein Stück schlechter als das, was in dem Schlafbereich vorzufinden war, aber Siv hatte es so gewollt – so merkten die anderen wenigstens nicht gar so sehr, wie schlecht sie wirklich schlief. Und Finn wachte immer noch regelmäßig in der Nacht auf und hatte Hunger oder brauchte Beschäftigung. Es war angenehmer für sie alle, wenn wenigstens eine gewisse Trennung da war. An dieser Schlafstelle vorbei schob Ferun Siv nun, während Uland unterdessen Corvinus auf diese Möglichkeit hinwies.

  • Uland blieb sitzen, während seine Frau aufstand und zu Siv ging. Sie sprachen kurz miteinander, doch zu leise, als dass ich es hätte verstehen können, selbst wenn mir die germanischen Worte wieder eingefallen wären. Allerdings machte ihr Blick deutlich, dass es ihr nicht gefiel, den Kleinen abzugeben. Ferun gewann, und kurz darauf hatte sie den Knaben auf dem Arm und schob Siv auf eine gezimmerte Wand zu. Vieles hier war aus Holz. Das war nicht verwunderlich, immerhin war Uland Zimmermann. Und welch hervorragendes Talent er bewiesen hatte, war auch in der Wiege zu erkennen, die er in meinem Auftrag gearbeitet hatte.


    Ich war erstaunt, dass Ferun und Uland beinahe augenblicklich wussten, was ich mit meiner Bitte bezweckt hatte. "Hinten seid ihr ungestörter", bemerkte Uland und deutete in Richtung der behelfsmäßigen Abtrennung. Ich nickte und erhob mich, gleichzeitig fragte ich mich, ob es derart offensichtlich war. Ob ich so offensichtlich war. Langsam ging ich am Esszimmertisch vorbei und auf ein provisorisches Lager auf dem Boden zu. Ferun kam mir entgegen, den Kleinen auf dem Arm, lächelte kurz und deutete an der Abtrennung vorbei. Ich folgte ihrem Wink. Die Schlafstätten waren winzig. Hier drinnen war kaum Platz für zwei, geschweige denn vier, zählte man die Kinder mit dazu. Ich hätte ein Leben wie dieses nicht führen können. Ich wäre mir erdrückt vorgekommen. Eingeengt, regelrecht eingekesselt. Selbst mein Arbeitsraum war mehr als doppelt so groß wie diese improvisierte Kammer, die zumindest den Hauch einer Priivatsphäre sicherstellen sollte. Es gab hier drinnen auch kein Fenster. Das einzige Licht, das noch Konturen erahnen ließ, fiel durch den schmalen Durchgang. Ferun schien sich dessen bewusst zu sein, denn sie schickte Sonnwinn mit einer kleinen Öllampe, noch ehe ich weiter in den Raum hineingehen konnte. Er gab mir das Licht. "Mama sagt, du kannst das reinmachen. Da", sagte er und deutete nach oben. Ich sah irritiert auf und entdeckte eine Hängevorrichtung. Dort hängte ich die Öllampe auf. "Danke", sagte ich, aber der Knabe war bereits wieder verschwunden. Ich starrte dorthin, wo er eben noch gestanden hatte, dann fand mein Blick Sivs Füße, und ich sah langsam nach oben. Das weiche Licht offenbarte mehr, als man vielleicht sehen wollte. Ringe unter den Augen, Fältchen um sie herum. Einen harten Zug um die Mundwinkel. Vermutlich sah ich nicht großartig anders aus als sie selbst auch.


    Mit Mühe unterdrückte ich den Impuls, die Arme vor der Brust zu verschränken und damit eine Abwehrhaltung einzunehmen. Meine Hände waren locker geschlossen, die Daumen rieben über die Haut der Zeigefinger. Ich konnte vor mir selbst nicht verbergen, dass meine Nerven zum Zerreißen gespannt waren. Und das war auch nach außen hin deutlich. Ich fuhr mir mit der Zunge kurz über die Lippen und schluckte dann. "Geht...es dir gut?" fragte ich Siv leise. Ich wollte nicht, dass Uland und Ferun mehr mitbekamen als unbedingt nötig. Ich fühlte mich schlecht. Als hätte ich ein schlechtes Gewissen, oder Magenschmerzen. Langsam keimte der Zweifel in mir auf, den Verstand zu verlieren. Ich war ganz offensichtlich nicht mehr Herr über mein Handeln. Allein der Gedanke daran, dass ich Siv am liebsten an mich gezogen und mein Gesicht in ihrem Haar vergraben hätte, ließ doch schon darauf schließen, dass ich ein Problem hatte. Ich dachte wieder an das Gespräch mit Prisca, während ich in Sivs Augen sah, die dunkel waren im Schummerlicht. Die Kehle wurde mir eng. Doch ich blieb standhaft - was mir im Übrigen gerade leicht fiel, denn ich war ohnehin wie versteinert.

  • Siv ging weiter, auch als Ferun sie losgelassen hatte und zurückgegangen war, ging weiter, bis sie in der Mitte der winzigen Kammer stand, in der Uland, Ferun und die Kinder schliefen. Es hatte beides seine Vor- und Nachteile. Hier hatte man wenigstens etwas wie Privatsphäre. Aber die Enge zerrte mehr an Sivs Nerven als es der Mangel an Privatsphäre gekonnt hätte, und so war es zumindest für sie so die beste Lösung, dass sie nicht hier drin schlief. Die Kammer war so klein, dass von der hölzernen Wand bis in die Mitte hinein nur einen Schritt brauchte, und diesen einen Schritt tat Siv noch, bevor sie stehen blieb. Sie hörte leise Bewegung hinter sich, hörte, wie ihr jemand hinterher kam, aber sie drehte sich nicht um, erst, als mehr Licht den Raum erhellte und sie Sonnwinns Stimme hörte. Corvinus nun zugewandt beobachtete sie, wie er die Lampe an den Platz unter der niedrigen Decke hängte, und danach streifte ihr Blick sein Gesicht, für einen kurzen, aber in all seiner Flüchtigkeit doch scheinbar unendlich währenden Augenblick. Er sah… anders aus. Seltsam hart. Müde. Und abweisend, in ihren Augen jedenfalls. Abweisung war das, was sie erwartete, aber es passte nicht zusammen mit der Tatsache, dass er überhaupt hier erschienen war. Er hatte doch, was er wollte. Sie war fort, war gegangen, und das ohne den geringsten Aufstand zu machen, ohne ihn noch einmal zu sprechen, ohne ihm zur Last zur fallen oder ihn zur Rede zu stellen oder gar anzubrüllen. Sie hatte einfach das getan, was er gewollt hatte, und war gegangen. Hatte sich und ihren, seinen Sohn genommen und aus seinem Leben entfernt. Warum war er dann nun hier?


    Siv schlang ihre Hände um den Oberkörper und rieb sich über die Oberarme, weil sie plötzlich fror, bevor ihre Arme wie Blick wieder sinken ließ und nur ihre Hände ineinander verknotete vor ihrem Bauch. Und dann sprach er sie an. Und plötzlich war da wieder diese Klammer um ihre Brust, und es brannte. Sivs Atem ging leise und flach, und für einen Moment verkrampften sich ihre Finger noch mehr. Einen Augenblick schwieg sie, blieb so, dann sah sie wieder auf, sah ihn an. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie wollte nicht lügen, sie konnte es gar nicht, es hätte wohl lächerlich gewirkt unter diesen Umständen, wenn sie auch nur versucht hätte zu sagen gut. Aber die Wahrheit… wollte sie auch nicht sagen. Sie wollte nicht so schwach sein, so schwach wirken. Wollte ihm nicht zeigen, wie sehr er sie verletzt hatte. Wie… sehr… sie ihn vermisste. Und er wollte das auch sicher nicht hören. "Ich…" Ihre Hände lösten sich kurz voneinander, die Finger spreizten sich, die Handflächen nach oben, während sich die Kuppen von Mittel- und Ringfinger noch berührten, bevor sie sie wieder verschränkte. "Es… Uland und Ferun sind sehr nett." Der Ausweichversuch war erbärmlich, das wusste sie selbst. "Und… dir?"

  • Es war seltsam, dass ich mich fühlte wie damals, als ich zum allerersten mal vor dem Senat gestanden hatte, als Kandidat für das Vigintivirat. Aufgewühlt und nervös. Doch es gab hier gar keinen Grund für diese Empfindung. Ich musste mich nicht beweisen. Kein Vertrauen gewinnen, um nicht abgelehnt zu werden. Ich runzelte die Stirn, nachdenklich, bis sie sich plötzlich entspannte, als mir klar wurde, dass sich diese Situation sehr wohl mit der Erfahrung damals vergleichen ließ. Einige Male blinzelte ich, betrachtete dabei Sivs Hände, die verrieten, dass auch sie unruhig war. Wieder hob ich den Blick. Vermutlich wollte sie, dass ich verschwand und sie wieder in Ruhe ließ. Meiner Frage wich sie aus. Meine Mundwinkel zuckten kurz, ich nickte verspätet. Vermutlich sah sie es gar nicht, denn sie schaute auf ihre Finger. Erst als sie die Gegenfrage stellte, trafen sich unsere Blicke wieder. Ich hielt nur einen Augenblick stand, dann betrachtete ich die Lagerstatt zu meiner Linken. Meine linke Gesichtshälfte lag im Schatten. Ich hätte darauf bestehen können, dass sie mir antwortete, aber da war keine Wut in mir, nur Chaos. Und ich konnte einfach keine Ordnung hinein bringen. Als stünde Prisca neben mir, hörte ich ihre Worte wieder. Sie und dein Sohn werden gehen, wenn du sie nicht zurück hältst. Das hatte sie gesagt. Es war egoistisch, wenn ich das von ihr verlangte. Sie hatte hier keine Zukunft, von einem Dasein im Schatten Celerinas einmal abgesehen. Und das sollte sie nich wollen - nicht, wenn sie bei klarem Verstand war. Für sie gab es hier nichts.


    Das Schweigen dehnte sich aus. Priscas Worte hallten in meinem Kopf wider. Schwollen mit dem Rauschen des Blutes zu einem Crescendo an, das mich schier wahnsinnig machte. Ich atmete gezwungen gleichmäßig, und doch gepresst. Und als ich selbst zu antworten versuchte, wusste ich, warum sie der Frage ausgewichen war. Es war zu schmerzhaft, die Wahrheit preiszugeben. Es legte das Innerste auf ein Silbertablett und lieferte es schutzlos aus. Wie ein Schraubstock fühlte es sich an. Einer, der sich langsam feststellte, immer enger und enger wurde. Ich keuchte leise, presste die Zähne fest aufeinander. Die Hände waren inzwischen zu Fäusten geballt. Es war als....wäre ich ein pilum, so starr und steif und angespannt wie ein römischer Wurfspeer. Doch all das ging mir nicht um Kopf herum. Im Gegenteil, ich dachte nur an Priscas Worte, und war doch unfähig zu sprechen. Der Ausdruck, mit dem ich das einfache Lager anstarrte, zeugte von innerem Kampf, von Pein, von einer Spur Angst und dem Gefühl, dass ich nicht hatte herkommen, sondern versuchen sollen, mich mit dem quälenden Riss in meiner Brust abzufinden. Irgendwie. Ich war zum Zerbersten angespannt. Und ich konnte sie nicht ansehen, ihr nicht ins Gesicht sehen. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dort Ablehnung zu lesen, und als wäre das nicht schon kümmerlich genug, fürchtete ich, mich schneller in ihrem Haar zu vergraben, als ich sie auf ihre simple Frage hin würde anlügen können.

  • Er sagte nichts dazu, dass sie auswich. Und er antwortete auch nicht auf ihre Frage. Sivs Finger verschränkten sich noch mehr, kneteten einander, verknoteten sich. Sie konnte ja sogar verstehen, dass er nicht antwortete. Es ging sie nichts an. Es war sie wohl nie etwas angegangen, auch wenn es eine Zeit gegeben hatte, in der sie die Illusion gehabt hatte es sei anders. Und doch war er jetzt hier. Er war hier, er stand ihr gegenüber, und er war sicher nicht gekommen, um sie einfach nur zu fragen, wie es ihr ging. Sonst hätte er doch auf einer Antwort bestanden. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, warum er hier war. Siv schluckte mühsam und wartete, wartete darauf, dass er etwas sagte, aber es kam nichts, er sagte nichts, und das Schweigen schien immer unerträglicher zu werden, wurde es, für sie.


    Sie sehnte sich nach Finn. Sie hatte sich so daran gewöhnt, dass der Kleine da war, dass sie ihn in den Arm nehmen konnte, wenn sie ihn brauchte, dass sie ihre Aufmerksamkeit auf ihn konzentrieren und sich von allem ablenken konnte, was da noch war, dass sie sich jetzt völlig schutzlos fühlte, wehrlos… und auf merkwürdige Weise entblößt. Ein wenig erschreckte sie das… dass sie sich ohne Finn beinahe so fühlte, als fehle ihr ein Teil. Sie sah weg von Corvinus, sah dann wieder hin, sah wieder weg… und fühlte sich so schrecklich hilflos. Sie ertrug dieses Schweigen nicht, und sie ertrug nicht, wie er dastand, so steif, so angespannt. Warum war er hier, wenn es ihm so offensichtlich schwer fiel, zu tun weswegen auch immer er gekommen war? Ob er sich nun entschuldigen wollte oder verabschieden oder sonst etwas, warum… warum war er gekommen, wenn es ihm so viel abverlangte. Und er sprach immer noch nicht. Siv presste ihre Hände aneinander, und schließlich hielt sie es nicht mehr aus. "Warum bist du hier?"

  • Das Schweigen dehnte sich. Es schien die Luft im Raum zu verdrängen. Etwas wie Panik stieg in mir auf. Ich fühlte mich wie damals. Wie vor ein ein paar Wochen, als ich bei ihr und dem Kind gestanden hatte und meine eigene Unfähigkeit mir den Atem geraubt hatte. Sivs Gesten mit den Händen, die am Rande meines Sichtfeldes nervös miteinander spielten, machten es nicht besser. Ich musste die Hände so fest zu Fäusten bauen, dass die Knöchel weiß hervortraten. Doch diesmal floh ich nicht, sondern zwang mich, stehen zu bleiben.


    Ich schlug die Lider nieder, und als ich die Augen nach einer Weile wieder öffnete, sah ich Siv an. Mein rechter Mundwinkel zuckte, zweimal, dreimal, dann deutete ich ein Kopfschütteln an und holte tief Luft, um sie leise, langsam und zittrig wieder auszustoßen. Mein Kopf fühlte sich ein wie ein übergroßer, mit heißer Luft gefüllter Ballon. Meine Lippen teilten sich, verhielten, versiegelten sich wieder. Ich biss mir auf die Unterlippe. Aus dem großen Raum drang die leise Stimme von Uland, man hörte nur ein sonores Brummen. Dann schloss ich die Augen wieder. Ich musste das tun, anders ging es nicht. Ich musste mir vorstellen, dass ich allein war. Ich musste alles ausblenden. Wie damals, wie vor dem Senat, wie vor über zehn Jahren. Ich musste die Ruhe erzwingen und festhalten. "Deinetwegen." Meine Stimme klang falsch. Brüchig und befremdlich unsicher, aber gefasst. Der Kloß in meinem Hals löste sich etwas, was mich erstaunte, wenngleich er nicht vollends verschwand. Auch die Anspannung wich zu einem kleinen Teil. Ich hatte die Augen immer noch geschlossen. Die Erfahrung, die ich machte, war weitaus weniger schlimm als befürchtet. Ich benetzte erneut die Lippen, schluckte. Dann wagte ich es und sah Siv an. Am liebsten hätte ich begonnen, auf und ab zu gehen.

  • Siv wartete erneut. Wartete darauf, dass er etwas sagte. Aber wieder dröhnte nur das Schweigen in ihren Ohren, unterbrochen von leisen Geräuschen aus dem Hauptraum, die Siv aber gar nicht so wirklich auffielen, weil sie wartete. Darauf, dass er etwas sagte. Dass er reagierte. Ihre Hände begannen nun zu zittern, und Siv schalt sich innerlich selbst für ihren Mangel an Selbstbeherrschung, während sie ihre Hände zugleich nur fester packte, gegenseitig. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, das sah sie durchaus, aber was sie davon halten sollte, wusste sie genauso wenig wie von der ganzen Situation. Und dann sagte er doch endlich etwas. Und raubte Siv damit für Momente nicht nur die Sprache, sondern auch den Atem.


    Deinetwegen. Es war nicht das Wort an sich. Dass er ihretwegen hier war, das war klar gewesen. Es war, wie er es sagte. Seine Stimme klang so… merkwürdig. Nicht abweisend, nicht so, als ob er sich zwang etwas zu tun, was er nicht gern tat, aber von dem er dachte dass es richtig wäre, sondern… So… zerbrechlich. Als ob er mit diesem einen Wort etwas eingestand, was ihn zerstören könnte. Siv starrte ihn an, bis er schließlich seinen Blick hob und dem ihren begegnete. In ihren Augen spiegelte sich Schmerz, Verwirrung und Unsicherheit. Deinetwegen, echote es in ihrem Kopf. Das Wort an sich sagte nichts. Und der Klang seiner Stimme… war nicht mehr als Klang. Sie wusste doch, wie er dachte. Er hatte ihr gesagt, was er dachte. Was er wollte. Und er hatte es ihr gezeigt, mit jedem Tag, an dem er sie geschnitten hatte, mit jedem Tag, an dem er ihr aus dem Weg gegangen war… Siv biss sich auf die Unterlippe. Dann machte eine ihrer Hände eine Bewegung, fast als wollte sie ihn berühren – führte sie aber nicht zu Ende aus, sondern sank wieder herab. "Warum?" flüsterte sie. "Warum meinetwegen?"

  • Ihr Gesicht war nicht schwer zu lesen. Ich machte mich sofort auf den Rückzug. Aufhalten konnte ich das nicht, nur verlangsamen. Zumindest dachte ich das. Ich blinzelte und wandte den Blick ab, schloss dann die Augen wieder und hob die Fäuste kurz an, als ich mich sammelte. "Das..weil... Ich..möchte, dass du wieder zurück kommst", sagte ich und sah Siv an. Es war leichter, als ich gedacht hatte, das zuzugeben. Die Verwirrung darüber konnte ich nicht ganz verbergen, sie äußerte sich in angestrengtem Blinzen, während ich Siv aufrichtig ansah. Verwunderung spiegelte sich in meinem Blick wieder. Schmerz, aber auch Aufrichtigkeit. Ich hatte nicht geplant, diese Worte zu sagen. Ich hatte ihr eine gute Reise und viel Glück wünschen wollen. Das war es, was ich hätte tun sollen. Aber was ich letztendlich gesagt hatte, tat mir gut. Ich fühlte mich besser, auch wenn diese Formulierung höhnisch daherkam, denn es ging mir immer noch schlecht. Ich verzog einen Mundwinkel und brachte damit ein schiefes, fast peinlich berührtes Lächeln zustande, das in beinahe demselben Moment wieder verschwunden war. Erneut entstand eine Pause.


    Von irgendwo her drang ein Lachen von der Straße hinauf. Ich war nun ganz ruhig, zwar immer noch angespannt und unsicher, doch fühlte ich mich der Situation nun eher gewachsen als noch Momente zuvor. Diese neue Zuversicht nahm jedoch rasch wieder ab, als Sekunde um Sekunde verging, ohne dass sie etwas sagte. Ich spürte die Wunde bald wieder deutlicher, die sie hinterlassen hatte, als ich sie zum Gehen gezwungen hatte. Und mir brannten Fragen auf den Lippen. Ich wollte wissen, wie mein Sohn hieß. Wie er war. Ich wollte ihn halten und ganz genau ansehen. Mir jedes Detail einprägen, denn dass Siv dennoch gehen würde, erschien mir nur logisch. Ich hätte es wohl getan, an ihrer Stelle. Und so wartete ich. Und je länger es dauerte, bis sie eine Regung - irgendeine Reaktion - zeigte, desto mehr bröckelte die Zuversicht, bis ich letzten Endes wieder verschossen vor ihr stehen würde. Und dass dieser Moment schneller kam als mir lieb war, davor hatte ich Angst.

  • Dieses Mal antwortete Corvinus schneller, ließ das Schweigen sich nicht derart in die Länge ziehen. Und Sivs Mund öffnete sich, langsam, während sie ihn anstarrte. Das Chaos in ihrem Inneren nahm um ein Vielfaches zu, steigerte sich urplötzlich, so sehr, so stark, dass sie zuerst gar nichts denken konnte. Zurückkam. Er wollte, dass sie zurückkam. Er wollte, dass… er… Siv starrte, während die Worte in ihr Bewusstsein zu sickern begannen, langsam, nach und nach. Zuerst meinte sie, sich verhört zu haben. Dann glaubte sie, dass ihr Bewusstsein ihr etwas vormachte, dass sie sich nur etwas einbildete, dass sie das hörte, was sie hören wollte. Weil sie es sich so sehr wünschte, weil sie sich so sehr danach sehnte, genau das zu hören. Und dann, je länger sie Corvinus ansah und er zurückstarrte, wurde ihr immer mehr klar, dass er tatsächlich das gesagt hatte, was sie gehört hatte. Wie von fern hörte sie plötzlich Brix’ Stimme. Vielleicht, Siv, solltest du nicht nur das Offensichtliche als gegeben annehmen, denn das ist das Einfachste, aber nicht immer das Tatsächliche.


    Das war der Moment, in dem Siv sich zum ersten Mal rührte. Wieder bewegte sie ihre Hand, ganz langsam. Sie wollte das so sehr glauben. Aber sie hatte Angst, Angst, dass es doch nur Einbildung war. Angst, dass er doch wieder einen Rückzieher machen würde. Oder dass ihm erneut klar werden würde, wer sie war, was sie war, und dass es nicht funktionieren konnte, nicht so, wie er sich das vorstellte jedenfalls. Und Corvinus’ Miene trug nichts dazu bei, ihr diese Angst zu nehmen. Aber er war hier. Er war hier… und er hatte gesagt, dass er sie zurückhaben wollte. "Du…" Sie machte einen kleinen, zögernden Schritt auf ihn zu, bis ihre erhobene Hand seine Wange berührte. Einen winzigen Moment lang ließ sie ihre Fingerspitzen dort ruhen, dann begann sie, sacht darüber zu streichen. Zu tasten. Fast so, als berühre sie ihn zum ersten Mal. Sie sehnte sich so sehr nach ihm. Und einem Mal flammte die Hoffnung auf, die sie so massiv unterdrückt hatte. "Du… du willst nicht, dass ich gehe?"

  • Die Situation wurde zunehmend unangenehmer für mich. Es kam keine Reaktion - nicht die winzigste Regung war zu erkennen. Siv starrte mich nur an, als hätte ich sie geschlagen. Fassungslos. Entgeistert. Entsetzt? War sie schockiert über meine Offenheit? Ich war es ja selbst. Nur warum sagte sie dann nichts? Warum blinzelte sie nicht einmal pikiert, weil ich sie hier störte? Meine Fingernägel gruben sich in meine Handflächen. Die Anspannung stieg wieder an, stieg ins Unermessliche und schnürte mir die Kehle zu. Es war falsch gewesen, das zu sagen. Hätte ich nur den Mund gehalten oder etwas anderes gesagt! Ich wich ihrem Blick aus und wollte meinen Kopf aus der Schlinge ziehen. Schon hatte ich mich geräuspert, um zu bemerken, dass sie die Äußerung ob ihrer Irrelevanz schlichtweg wieder vergessen sollte, da sagte sie etwas, und es klang sanft und verwundert, und sie kam näher und hob die Hand. Die Worte steckten ungesagt in meiner Kehle, und wieder einmal war ich unfähig, mich zu rühren.


    Ich sah sie nun wieder an. Wie sie ihre Hand nach mir ausstreckte. Ich musste mich zwingen, den Kopf nicht abzuwenden, als ihre Finger sich meiner Wange näherten. Ich wusste warum. Ich würde dem nicht widerstehen können. So stark war ich nicht. Vielleicht war ich das einmal gewesen, als sie mir weniger bedeutet hatte, doch jetzt nicht mehr. Die Bewegung war sacht wie das Streifen eines Schmetterlingsflügels. Ich zuckte nur kurz zur Seite, schloss dann die Augen und harrte aus. Durch meine Adern rann flüssiges Feuer. Siv klang verwundert, aber ich könnte keine Abneigung heraushören. Vielleicht...wollte sie lieber in der villa bleiben, bis sie nach Germanien aufbrachen? Dort hatte sie es besser als hier. Sogar das wäre mir recht gewesen. Wenn ich sie nur nicht verloren haben würde, und sei es nur für ein paar weitere Wochen. Ich merkte, wie ich allmählich realisierte, wie sehr ich an ihr hing. Es war, als würde ich den Bolzen finden, der eine sonst gut laufende Maschinerie blockiert. Die Lösung war denkbar einfach. Ich hatte mich nur davor verschlossen, ich hatte sie schlichtweg nicht erkennen wollen. Stattdessen hatte ich jedwede Konsequenzen beleuchtet, ausgiebigst bis ins letzte Detail, und alle Eventualitäten abgewägt. Nur eines hatte ich dabei vergessen, und das war ich selbst.


    Es dauerte eine Weile, bis mir das klar war. Es war nicht so, dass mich diese Erkenntnis mit plötzlicher Euphorie erfüllte oder ich ob dessen die bereits getätigten Überlegungen einfach vergaß. Das alles war nach wie vor präsent. Es hielt mich nur nicht mehr davon ab, Siv jetzt an mich zu ziehen, ihr einen Arm fest um die Körpermitte zu schlingen und mit der anderen Hand ihren Kopf so dicht an meine Brust zu pressen, als wollte ich auf diese Weise den Riss kitten, den sie hinterlassen hatte. Natürlich funktionierte das nicht. Aber es tat unendlich gut, sie zu halten. Ich legte die Wange an ihr Haar. Sie duftete anders und doch vertraut. Allein das Gefühl war...unbeschreiblich. Und ich ließ es zu. Worte waren überflüssig. Ich wäre auch gar nicht imstande gewesen, etwas zu sagen. Meine Kehle war nach wie vor so eng geschnürt, dass ich kaum atmen konnte, obwohl meine Sinne so geschärft waren wie sonst selten. Ich stand nur da, presste Siv an mich und genoss das Gefühl, dass es auslöste.

  • Sacht strich Siv über seine Wange. Tastete sanft über die Haut. Als er kurz zurückzuckte, zögerte auch Siv einen Augenblick, verunsichert. Sie wusste nicht, ob er das wollte. Ob er ihre Berührung ertrug. Aber sie sehnte sich so sehr nach ihm. Und als Corvinus wieder erstarrte, fuhr sie fort. Es war so… Sie hatte Angst, dass das ein Traum war. Sie hatte nicht nur Albträume, sie hatte manchmal auch diese Träume, schöne Träume. Nicht so wie in Germanien… Aber sie dennoch schön. Das Problem war nur: wenn sie aufwachte, nach solchen Träumen, in denen er bei ihr war, fühlte sie sich nur noch verlorener als sonst. Sie hatte Angst, wenn sie zu schnell war, zu überstürzt, zu grob, könnte auch dieser Traum platzen wie eine überreife Frucht.


    Es musste ein Traum sein. Es ging gar nicht anders. Er konnte nicht real hier sein. Und obwohl Siv wusste, was sie erwarten würde, wenn sie wieder aufwachte, ignorierte sie die Warnung, die ein Teil ihrer Selbst ihr zurief. Es war egal, wenn sie in der Früh aufwachte und ihr nur nach Weinen zumute war. Es war egal. Jetzt war er hier, und sie wollte es genießen, jeden Augenblick. Sie musste nur aufpassen, dass sie den Traum nicht platzen ließ, nicht vorzeitig, nicht bevor der Morgen graute… Ihre Fingerspitzen streichelten sacht über seine Wange, fuhren über den Wangenknochen unterhalb seines Auges, zeichneten die Konturen nach, die sie so gut kannte… blieben aber so sanft wie sie begonnen hatten, und blieben auf diesen Raum begrenzt. Corvinus rührte sich immer noch nicht, hatte nur die Augen geschlossen und verharrte still, und schließlich senkte sich auch ihr Daumen, legte sich auf sein Kinn. Und das war der Moment, in dem er sich doch bewegte. Bevor sie es sich versah, bevor sie irgendetwas tun, irgendwie reagieren konnte, hatte er einen Arm um sie geschlungen und sie an sich gezogen. Seine andere Hand spürte sie plötzlich an ihrem Kopf, in ihren Haaren, und wie ihr Körper an seinen wurde ihr Kopf an seine Brust gedrückt. Und Siv ließ es nicht nur zu, sie vergrub ihr Gesicht in den Stofffalten und presste sich an ihn. Ihre Hände lagen links und rechts von ihrem Kopf auf seiner Brust, und zum ersten Mal seit langem fühlte sie sich wieder… geborgen. Sie atmete seinen vertrauten Geruch ein, spürte seinen Körper an ihrem, fühlte seine Arme um sich. Das war besser als jeder Traum, den sie bisher gehabt hatte. Einfach nur gehalten zu werden von ihm, war so viel mehr, als sie erwartet hätte. Und Siv stand einfach da, mit geschlossenen Augen, genoss seine Nähe und ließ sich halten.

  • Ich wusste nicht, ob Siv strategisch vorging. Ob sie sich fragte, wie sie den Augenblick hinauszögern konnte, in dem ich mich von ihr löste, und ob sie nur deshalb nichts sagte, weil sie mich nicht bedrängen und dadurch keinen Rückzug einläuten wollte. Denn wenn sie etwas gesagt hätte, etwas wie damals, dann hätte sie mich unter Druck gesetzt, unbewusst vielleicht, aber das hätte wohl nichts an der Tatsache geändert, dass ich mich gleich wieder verschlossen hätte. Es fiel mir auch so schon schwer genug, derart offen zu zeigen, dass sie mir fehlte. Ich war dessen nur fähig, weil sie mich nicht mehr ansah. Weil ich die Augen geschlossen und mich in ihrem Haar vergraben konnte. Und weil sie mir nicht sagte, was ich bereits wusste, spätestens seit dem Moment, in dem sie mich nicht von sich gestoßen hatte. Deswegen - und nur deswegen - war ich in der Lage, überhaupt auszusprechen, weshalb ich hergekommen war. "Ich kann dich nicht gehen lassen", flüsterte ich in ihr Haar. Ihre Hände lagen warm auf meiner Brust. Ich hätte es sagen können. Ich hätte ihr sagen können, wie sehr sie mich berührt hatte, und dass ich mich ihr einfach nicht mehr entziehen konnte und es auch gar nicht wollte. Doch ich machte kleine Schritte. Ich musste mich erst noch daran gewöhnen, dass es half statt schmerzte, dass es mir gut tat statt schlecht, wenn ich mich öffnete. Vielleicht erinnerte sich Siv an den Tag im tablinum und daran, wie schwer mir solche Dinge fielen. Wie unmöglich sie eigentlich waren.


    So schwieg ich eine ganze Weile, bis es mir vor kam, als schwankte der Raum um uns herum. Erst dann nahm ich den Kopf etwas zurück und drehte ihn, um Siv auf den Scheitel zu küssen. Sie fehlte mir so sehr. Niemals würde Celerina das ersetzen können, selbst wenn Siv nach Germanien ging und mich niemals wieder sah.


    Ich war kein sentimentaler Mensch. Ich machte mir stets zu viele Gedanken, sah das allerdings meistens anders. Ich wägte zu viel ab und tat es zu oft, und ich lebte mit den römischen Sitten und Gebräuchen, nach unseren Traditionen. Ich war nicht emotional - und wenn doch, so hatte ich es zu verbergen, wie es sich gehörte. War ich verärgert, fiel mir das schwer. Sonst war ich annähernd routiniert. Die Erfahrung, die ich gerade machte, war neu. Sie tat gut, aber ich traute ihr noch nicht. Und deswegen sagte ich sonst nichts, sondern schob meine Hand nur an Sivs Kieferknochen entlang und zwang sie sanft, den Kopf zu drehen, um sie küssen zu können.

  • Er war hier. Und er hielt sie. Ohne etwas zu sagen, ohne irgendwelche… Einwände vorzubringen, was alles dagegen sprach, warum es falsch war, warum es nicht sein sollte. Siv sah gar keine Veranlassung, etwas zu sagen, zu argumentieren, solange er nicht damit anfing aufzuzählen, weswegen sie sein lassen sollten, was sie gerade taten. Sie wollte es nicht sein lassen. Sie wollte ihn. Ihr war egal, was sonst noch war, aber das wusste er, das hatte sie oft genug gesagt… Sie atmete tief ein, atmete seinen Geruch ein. Sie liebte seinen Geruch. Und sie wusste nicht, wie lange sie das hier haben würde. Vielleicht würde er sie jeden Moment wegschieben und anfangen zu reden, all die Nachteile aufzählen, all das was dagegen sprach, und dann… würde er gehen. Und sie würde wieder allein sein. Oder sie würde aufwachen, was auf dasselbe hinauslief: sie würde allein sein. Allein mit Finn. Aber sie wollte nicht daran denken, und es fiel ihr leicht, allzu leicht, diese Gedanken fortzuschieben, sogar den an ihren Sohn, und seine Nähe zu genießen. Seinen Geruch, seine Umarmung, seinen Atem, der sacht über ihre Haare und ihren Hals strich.


    Als sie dann doch seine Stimme hörte, öffneten sich ihre Augen, obwohl sie nichts sehen konnte außerdem Stoff, der seine Brust verhüllte. Ein Kloß war plötzlich in ihrer Kehle. Ich kann dich nicht gehen lassen. Sie traute ihren Ohren nicht so wirklich. Wieder geisterten Brix’ Worte in ihrem Kopf umher, aber sie hatte Mühe, das alles irgendwie in Einklang zu bringen. Sie hatte… immer… geglaubt, sie bräuchte ihn mehr als er sie. Hatte immer geglaubt, genau das wäre ihr Problem. Dass sie ihn mehr brauchte, und dass er ihr nur einen Gefallen getan hatte und dessen, ihrer, dann irgendwann überdrüssig geworden war. Dass sie diejenige, die einzige war, die glaubte ohne den anderen nicht mehr leben zu können. Die nur funktioniert hatte in den letzten Wochen, weil es nicht anders ging. Vor allem, weil es Finn gab, der sie brauchte. Und jetzt das. Ich kann dich nicht gehen lassen. Siv erzitterte für einen winzigen Moment in seinen Armen. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte. "Ich will gar nicht gehen", murmelte sie schließlich, so leise, dass es kaum verständlich war, noch mehr da sie es in den Stoff hineinmurmelte. Konnte das denn sein? Konnte sie sich so sehr geirrt haben, nach allem, was war? Konnte es tatsächlich sein, dass er sie genauso brauchte… Siv schloss wieder die Augen, presste ihre Lider zusammen, während in ihrem Inneren ein Kampf tobte. Sie wollte es glauben, aber zugleich hatte sie Angst davor. Angst vor der Hoffnung, die das bedeutete, wenn sie das zuließ, wenn sie das glaubte. Angst vor der Enttäuschung, die eine Hoffnung wie diese mit sich bringen konnte, sei es nun, weil sie dann doch feststellen musste, dass es anders war, oder sei es, weil es nichts änderte. Und so blieb sie einfach stehen, bei ihm, und spürte seinen Herzschlag unter ihrer Hand, bis die seine plötzlich ihr Gesicht umfasste, ihren Kiefer, und ihren Kopf anhob und zu ihm drehte. Für einen winzigen Moment sah sie ihn an, bevor seine Lippen auf die ihren trafen und er sie küsste, und es dauerte nur einen winzigen Augenblick, bis sie den Kuss erwiderte.

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