[Subura] Die Insula des Uland und der Ferun

  • Es war kein Feuer, das in meinen Adern brannte, und doch durchflutete mich eine Wärme, die schmeichelnd und wohlig war und selbst nach dem innigen Kuss noch sanfte Wellen aussandte. Das hier war so anders als das, was ich bisher kannte, dass ich tatsächlich einen Moment dastand und Siv mit leicht verwundertem Blick unter gerunzelter Stirn ansah. Der Riss, der mich zu spalten gedroht hatte, fühlte sich längstens nicht mehr so gravierend an wie noch Stunden zuvor - ebenfalls eine Tatsache, die ich realisierte, doch nicht nachvollziehen konnte.


    Und nun? fragte ich mich selbst. Ich war schwach genug gewesen, nicht von ihr loszukommen, egoistisch genug, um sie nicht ziehen zu lassen. Das an sich war schon ein Armutszeugnis, doch eines, das sich seltsam gut anfühlte. Dennoch wusste ich von diesem Punkt an einfach nicht weiter. Ich konnte sie nicht direkt mit mir nehmen. Ich konnte sie jedoch genauso wenig tagtäglich hier besuchen. Irgendwann würde es auffliegen, und was Celerina dann denken oder tun würde, gerade nach unserem Gespräch, wollte ich mir nicht ausmalen. Nicht jetzt. Irgendwann würde ich mich dem stellen müssen, das war mir durchaus bewusst, doch solange ich mich dieser Situation fernhalten konnte, würde ich es wohl tun. Ich musterte Siv, ihre blauen Augen. Die Zeit schien zäh zu tröpfeln, während ich immer noch überlegte, was ich nun tun sollte. Was ich tun konnte. Mein Sohn war es, der mich ablenkte, denn es tat einen kleinen Nieser und Ferun lachte verhalten. Das lenkte meine Gedanken in eine andere Richtung. Ich nahm Sivs Hände in die meinen und strich sanft mit den Daumen über ihre Haut. "Wie heißt er?" fragte ich leise. "Wie...wie heißt mein Sohn, Siv?" Meine Stimme brach leicht weg, als ich es zum ersten Mal bewusst aussprach. Mein Sohn.

  • Wäre es möglich gewesen, Siv hätte sich noch enger an Corvinus gedrängt in dem Moment, in dem er sie küsste. Sie brauchte seine Nähe, seine Wärme, wie sehr, wurde ihr erst jetzt bewusst, wo sie ihn wieder spüren konnte. Aber sie stand ohnehin schon dicht bei ihm, und als er sich von ihr ein wenig löste, fiel es ihr schwer, nicht einfach seinen Bewegungen zu folgen. Sie wollte ihn nicht loslassen. Sie wollte ihn auch nicht ansehen. Sie hatte Angst vor dem, was dann passieren könnte. Davor, was sie in seinen Augen dann wohl lesen würde, davor, dass er anfing zu reden und nur das Übliche sagen würde. Aber sie wehrte sich nicht dagegen, als er sie ein wenig auf Abstand zu sich brachte, und musste feststellen, dass sie den Ausdruck auf seinem Gesicht nicht zu deuten wusste. War das Erstaunen, was sie sah? Aber er runzelte die Stirn, und das hieß doch eigentlich immer Missfallen bei ihm. Siv strich sich mit einer Hand ein paar Strähnen aus der Stirn. Sie wusste, dass sie nicht allzu gut aussah, unausgeruht und erschöpft, und auch ihr allgemeiner Zustand war schlechter als es in der Villa Aurelia gewesen war. Sie tat, was sie konnte, gerade nachdem sie in den letzten Jahren in der Villa erlebt hatte, was Sauberkeit bedeuten konnte, aber in der Subura waren einem einfach Grenzen gesetzt. Es ging schon los mit der Verfügbarkeit von sauberem Wasser bis hin zu den Dingen, die sie sich einfach nicht leisten konnte, den aurelischen Sklaven aber wie selbstverständlich zur Verfügung gestanden hatten. Vielleicht lag es daran, dass er die Stirn runzelte. Vielleicht lag es aber auch daran, dass er schon wieder bereute, gekommen zu sein.


    Siv kämpfte gegen Kloß an, der in ihrem Hals war. Sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte, sollte letzteres der Fall sein. Sie wusste nicht, wie stark sie noch war, wie viel Kraft sie noch aufbringen konnte. Es tat so gut, dass er hier war, so gut, von ihm gehalten zu werden, so gut, seine Nähe zu spüren… aber es war nicht genug. Diese wenigen Momente waren nicht genug, um ihr die nötige Kraft zu geben auszuhalten, wenn er wieder ging. Und sie allein zurückließ, diesmal womöglich tatsächlich für immer. Ihr Brustkorb wurde eng, und Siv bemühte sich, sich nichts anmerken zu lassen. Und dann hörte sie einen Nieser. Erschrocken sah sie auf, hinüber zu dem Bereich, wo sie Finn wusste, und machte eine Bewegung, als wolle sie beinahe hinüber hechten. Corvinus’ Hände, die sie nach wie vor hielten, und Feruns leises Lachen hinderten sie daran, aber dennoch blickte sie noch einen Moment lang besorgt zu der dünnen Trennwand, und lauschte auf ein weiteres Geräusch, das aber wenigstens vorerst nicht kam. Erst als Corvinus’ Hände zu den ihren glitten, sie nahmen und sacht mit dem Daumen über ihre Haut strichen, sah sie ihn wieder an, und als er plötzlich wieder sprach, da spürte Siv wieder diesen Kloß im Hals. Mein Sohn. Er sagte nicht dein Sohn, oder noch schlimmer der Junge, nein. Er sagte mein Sohn. Er nannte Finn seinen Sohn. Siv atmete zitternd ein. "Finn", murmelte sie, und fragte sich plötzlich, was Corvinus wohl davon halten würde, dass der Junge keinen römischen Namen hatte. Nicht einmal teilweise. Und dann fragte sie sich, was er wohl davon halten würde wenn er wüsste, dass sie ihn eigentlich Raban hatte nennen wollen, der Rabe, nach seinem Vater, sich dann aber doch für einen anderen Namen entschlossen hatte, einen, der ihr passender erschienen war, und der ein ganz eigener war für ihren Sohn. "Er heißt Finn. Der Helle." Hell wie der Tag, wie die Hoffnung, die ihm diesen Namen gebracht hatte.

  • "Finn", wiederholte ich. Das klang seltsam auf der Zunge. Finn. Finn. Das Bedürfnis, ihn anzusehen, wurde übermächtig, gleichsam mit der Beharrlichkeit, dem nicht nachgeben zu dürfen. Wo ich sonst meiner Eingebung ohne zu sie zu hinterfragen gefolgt wäre, fragte ich mich nun allerdings, wieso ich meinen Sohn eigentlich nicht sehen sollte. Ich hatte die Kiefer aufeinander gepresst und sah Siv immer noch an. Hier stand ich nun also, wider besseren Wissens, und war ihr hinterhergelaufen wie ein Plebejer. Ich benetzte meine Lippen. Ich wollte das nicht denken, auch wenn der Zweifel an mir selbst gefährlich war. Ich war hergekommen, weil ich nicht wollte, dass sie ging. Ohne über die Kosequenzen nachzudenken, was mir und meinen Prinzipien nicht gerecht wurde. Ich handelte nicht überstürzt oder gar aus dem Bauch heraus. Normalerweise. Siv mochte etwas von diesen Gedanken bemerken, ich verbarg sie nicht vor ihr.


    So stand ich also hier und wusste nicht weiter. Ich hatte gesagt, was ich hatte sagen wollen. Und nun? Ein wenig ratlos sah ich Siv an. Ich hatte einfach nicht nachgedacht. Wann das zuletzt passiert war, daran erinnerte ich mich schon gar nicht mehr, so weit lag das zurück. Ich hielt Sivs Hände immer noch, doch ich streichelte sie nicht mehr. Ich dachte nach, fieberhaft. Wie konnte ich sie zurückholen, ohne dass das Gerede groß wurde? Die Erkenntnis, dass das ohnehin nicht möglich war, tröpfelte langsam in mein Bewusstsein ein. Doch was tun? Meine Gedanken wirbelten offenbar sinnlos umher, ohne dass ich einen zu greifen und zu verwenden imstande war. Ich wusste einfach nicht, was die Lösung für dieses neue alte Problem war, über das ich einfach nicht nachgedacht hatte, ehe ich hergekommen war.

  • Er wiederholte den Namen, einmal. Sprach ihn aus. Überlegend, so schien es ihr. Siv wusste immer noch nicht, was sie tun oder sagen sollte. Sie wusste es einfach nicht. Sie hatte keine Ahnung, weswegen er hier war. Er hatte mit ihr allein sein wollen, so allein wie möglich, aber jetzt waren sie hier und er sagte kaum etwas. Er hatte ihr gesagt, dass er sie nicht gehen lassen könne, aber jetzt tat er nichts. Er hatte nach dem Namen seines Sohnes gefragt, aber er schien ihn nicht sehen zu wollen… Er stand einfach nur da und sah sie an, mit diesem zweifelnden Gesichtsausdruck, den sie so gut kannte. Zweifelnd oder abweisend, so sah er häufig drein, wenn er mit ihr zusammen war. Wenn er wieder einmal dachte, es wäre falsch. Siv senkte ihren Blick und schluckte, und sie kämpfte mit sich, während es in ihrem Kopf und ihrem Herzen wild durcheinander tobte. Sie verließ sich in der Regel immer auf ihr Gefühl, aber in diesem Moment schien ihr Inneres ein einziges Chaos zu sein. Er war so deutlich gewesen. Jedes Mal, wenn sie über dieses Thema gesprochen hatten. Er hatte immer gezweifelt, schien es ihr, selbst dann, wenn er nachgegeben und es auf sich hatte beruhen lassen. Er hatte es nie akzeptiert, im Gegensatz zu ihr, hatte immer wieder davon angefangen, und jedes Mal hatte es damit geendet, dass sie sich entweder gestritten hatten oder eine melancholische Stimmung sich breit gemacht hatte. Sie wusste nicht, warum er jetzt hier war, aber was sie sehen konnte auf seinem Gesicht, zweifelte er offenbar selbst daran. Und doch war er hier, und hielt nach wie vor ihre Hände… Sie schloss die Augen und lehnte sich erneut an ihn. Genoss einfach nur seine Nähe, seine Wärme, die Geborgenheit, die es für sie bedeutete von ihm gehalten zu werden. Ein Teil von ihr wusste, wie gefährlich es war, sich darauf einzulassen, denn wenn er ging und sie zurückließ, wenn er ging und nicht wiederkam, würde es für sie nur noch schwerer werden. Aber sie sehnte sich so sehr nach ihm… und es war ihr egal, wenn sie am nächsten Morgen aufwachte und sich noch einsamer fühlte. Jetzt war er hier, bei ihr. Und sie war nicht bereit, ihn zu teilen, nicht mit ihren eigenen Zweifeln, und noch nicht einmal mit ihrem Sohn, denn zu fragen, ob er ihn sehen wollte, auf die Idee kam sie in diesem Augenblick gar nicht. "Geh noch nicht", flüsterte sie. Nur noch ein paar Augenblicke länger seine Nähe spüren. Gehalten werden. "Bitte."

  • Sie wollte nicht, dass ich ging. Ich wollte es ja selbst nicht. Noch stand ich da und hielt sie fest, so fest, als würde ich sie niemals mehr loslassen können. Siv hatte die perfekte Größe. Sie war eine Winzigkeit kleiner als Celerina, ich überragte beide um etwa einen Kopf, und beide passten damit fast perfekt unter mein Kinn, wenn sie standen und sich anlehnten. Doch konnte ich nicht ewig hier bleiben, sie nicht ewig so halten und mich auf seltsame Weise geflickt dabei fühlen. Irgendwann, das wussten wir beide, musste eine Entscheidung getroffen werden. Und ich war derjenige, der sie fällen musste. Siv mochte sich ohnehin längstens entschieden haben. Und ich konnte sie nicht länger in dieser Schwebe lassen. Sie musste wieder zurück kommen. Nach Hause. Ungeachtet der Schwierigkeiten, die mir diese Entscheidung bescheren würden.


    Wieder ließ ich die Arme sinken, und diesmal schob ich Siv an den Schultern eine halbe Armlänge von mir fort, damit ich sie ansehen konnte. Einen Moment lang versuchte ich, meine Gedanken zu sammeln. Ich sah sie dabei nicht an, sondern blinzelte, mit dem Blick auf ihre Schulter geheftet, vor mich hin. "Komm nach Hause", sagte ich dann und sah Siv an. "Komm zurück. Bitte." Ich machte ein ernstes Gesicht, als ich das sagte - ohne eine Lösung zu haben, ohne mir Gedanken um die Konsequenzen zu machen. Kopflos und undurchdacht, etwas, das ich nicht schätzte und selbst sonst nicht tat. Doch es war mir einfach nicht möglich, sie gehen zu lassen. Oder es Celerina zu sagen. Bei dem Gedanken an meine Frau riss ich den Blick von Sivs blauen Augen, schloss die meinen dann. Das war ein unhaltbares Gefühl, nicht zu wissen, was das Richtige war. Oder es zu wissen, doch nicht tun zu können, denn das Richtige wäre gewesen, Siv zu vergessen und mich an meine Frau zu halten.

  • Er hielt sie einfach fest, als sie sich wieder an ihn schmiegte, und Siv genoss den Moment einfach. Mehr wollte sie nicht. Nur das. Nur das… Sie atmete tief ein und rührte sich nicht, und erst, als Corvinus sie wieder von sich schob, hob sie den Kopf und sah ihn an. Und spürte schon wieder diese Traurigkeit, gepaart mit Verzweiflung. Er war hier, bei ihr, er war gekommen, und doch schien er es jetzt nicht einmal zu schaffen, ihr in die Augen zu sehen. Nach all den Erfahrungen, die sie in den letzten Wochen, Monaten gemacht hatte, schien es ihr nun selbstverständlich zu sein, dass er sich jetzt verabschieden würde. Dass er sie wieder verlassen würde. Umso überraschter war sie, was sie dann zu hören bekam von ihm. Komm nach Hause. Nach Hause. Zurück. Nach Hause. Siv starrte ihn an, so intensiv, dass er offenbar schon wieder ihrem Blick nicht standhalten konnte – sie ahnte nicht, dass er in ausgerechnet diesem Augenblick an die Flavia gedacht hatte. Und wenn sie es geahnt, gewusst hätte, hätte sie vermutlich nicht die geringste Ahnung gehabt, wie sie hätte reagieren sollen. Sie wollte es ihm nicht noch schwerer machen, als es war. Sie wollte… kein Problem für ihn sein. Aber zugleich sehnte sie sich danach, einmal wieder seine volle Aufmerksamkeit zu haben, ohne dass er an sie dachte, die Flavia, oder an all die anderen Schwierigkeiten, die er sah. Und schon gar nicht daran, dass es richtig wäre, sie, Siv, zu vergessen.


    In jedem Fall schloss er nun die Augen, während sie ihn immer noch ansah, überrascht und sprachlos über das, was er gesagt hatte. Sie stellte gar nicht in Frage, was er mit nach Hause gemeint haben könnte. Es war für sie so klar wie ein Herbsttag, wenn der Morgennebel verschwunden war und man meinte, der Blick würde in die Unendlichkeit reichen, so rein schien die Luft zu sein. Ihr Zuhause war bei ihm. Und er sah das doch genauso, sonst wäre er doch kaum hier… sonst hätte er nicht noch ein komm zurück angefügt. Und doch… Er hatte immer Zweifel gehabt. Was war jetzt anders? Und er konnte ihr schon wieder nicht in die Augen sehen. "Du… du… wirklich?" In dieser Frage, diesem einen Wort lag alles, was Siv nicht zu formulieren vermochte, was sie in diesem Augenblick noch nicht einmal tatsächlich denken konnte, verletzt, aufgewühlt und empfindsam wie sie gerade war. Wie es funktionieren sollte, in Zukunft. Ob sich etwas ändern würde – nicht viel, aber wenigstens etwas, wenigstens das, dass er sich keine Vorwürfe mehr machte, sondern einfach akzeptierte, was war. Dass sie ihn nicht nur flüchtig zu Gesicht bekam, und dass er wenigstens dann ihr gehörte, wenn sie beide allein waren. Dass sie ihm nicht aus dem Weg gehen musste. Und vor allem anderen, ob er wirklich wollte, dass sie zurückkam. Aber eines wusste sie mit Sicherheit: sie wollte zurück zu ihm. Alles andere… würde sich klären. Warum sonst war er denn dann hier, wenn er nicht wenigstens diese eine Entscheidung getroffen hatte? Dass er sie wollte. Komm nach Hause. "Ja", wisperte sie, das Chaos in ihr ebenso ignorierend wie die leise Furcht, erneut verletzt zu werden. Stattdessen hob sie eine Hand und legte sie ihm auf die Brust. "Ja."

  • Ich reagierte nicht, als sie nachfragte. Ich sah sie nur weiterhin an. Ein klein wenig kränkte mich diese Frage zunächst, so vollkommen ungläubig, wie sie sie gestellt hatte. Wäre ich denn hier, wenn ich mir lediglich einen Scherz erlauben wollte? Würde ich mich denn selbst damit gängeln, wenn ich nicht wollte, dass sie wieder in meiner Nähe lebte? Ich blinzelte kurz und ließ den Blick abgleiten, musterte die schäbige Einrichtung flüchtig, ehe ich Siv wieder ansah. Sie hatte ja doch recht. Ich hatte lange gebraucht, um mich für einen Weg zu entscheiden. Die Wahl war auf den weitaus schwierigeren gefallen, der zugleich jedoch weniger schmerzhaft zu sein versprach. Wieder dachte ich an Celerina. Ich würde Siv nicht gleich mit mir nehmen können. Abgesehen davon, dass ich mit Celerina reden musste - wenn ich es über mich brachte -, hätte es Uland und seine Familie gehörig vor den Kopf gestoßen.


    Ich trat einen kleinen Schritt zurück und fing Sivs Rechte ein. "In ein paar Tagen", sagte ich und sah sie an. "Ich muss erst noch..." Blinzelnd hoch ich die linke Hand und fuhr mir abgespannt übers Gesicht, die Stoppeln kratzten leise. "Titus zieht aus, es ist ein wenig chaotisch derzeit im Haus", wich ich aus und sah Siv erst danach wieder an. Die Hand ließ ich langsam sinken. "Er wurde zum Legaten ernannt. Und ich muss mit ihr reden. Mit Celerina." Ein Gespräch, auf das ich mich nicht freute. Es wäre angenehm gewesen, Siv einfach zurückzuholen, ohne im Vorfeld große Erklärungen abzugeben. Vielleicht würde ich mich auch für diese Variante entscheiden. Vielleicht hatte ich auch genügend Achtung vor ihr, um Rede und Antwort zu stehen. Ich musste es herausfinden, und im Idealfall tat ich das, bevor Siv wieder einzog. Sie und mein Junge - und als ich an ihn dachte, wurde das Schweigen meiner Frau gegenüber immer verlockender. Und doch wäre es wohl feige gewesen. Obgleich es das Privileg eines römischen Mannes war.

  • Er antwortete nicht auf ihre Frage, aber das hinderte Siv nicht daran, dennoch ihre Zustimmung zu geben. Sie war ohnehin eher rhetorischer Natur gewesen, jedenfalls in diesem Augenblick noch, war mehr Ausdruck des Chaos’ gewesen, das nach wie vor in ihr herrschte. Er wollte, dass sie zurückkam. Mehr noch, er bat sie darum, zurück zu kommen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass das passieren würde, nicht nach allem, was bereits gewesen war. Nicht nach ihrem letzten Aufeinandertreffen. Oder dem davor. Oder den scheinbar unzähligen davor, die so oder ähnlich geendet hatten. Nein, sie hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass das hier geschehen würde. Und doch war er hier… Gemessen daran war das Chaos in ihrem Inneren wohl kein Wunder.


    Und dann trat er einen Schritt zurück. Klein nur, aber groß genug, dass ihre Hand sich von seiner Brust löste und hinabfiel – fiel, bis er sie auffing und mit seiner umschloss. Siv betrachtete ihre beiden Hände kurz, aber kaum hörte sie Corvinus wieder sprechen, ruckte ihr Kopf wieder hoch. Sie starrte ihn an, und zu dem Chaos in ihrem Inneren gesellte sich plötzlich wieder der Druck auf ihrer Brust, dieser Druck, der nur allzu vertraut war inzwischen, viel vertrauter als es Siv Recht war. Sie hatte das Gefühl, wieder Schwierigkeiten mit dem Atmen zu haben, und unwillkürlich beschleunigte er sich. In ein paar Tagen. Er würde sie also doch nicht mitnehmen. Er würde wieder gehen, und sie würde hier bleiben, einsam, obwohl sie nicht allein war, würde sich einsam schlafen legen und einsam aufwachen und sich dafür schämen, dass sie nichts dagegen tun konnte, dass sie Finn keine bessere Mutter sein konnte, eine Mutter, die sich vollständig fühlte, der es reichte, für ihr Kind da zu sein… Siv schluckte mühsam, während Corvinus weiter sprach. Von Ursus erzählte. Ihre Hand fühlte sich plötzlich merkwürdig an in seiner, merkwürdig kalt und fremd, so, als wäre es nicht mehr ihre. Sie machte schon Anstalten, ihre Hand der seinen zu entziehen, als Corvinus dann die Flavia erwähnte. Dass er mit ihr reden würde. Musste. Sivs Hand blieb, wo sie war, und sie sah ihn an, aufmerksam und verunsichert. Sie zwang sich, wieder ruhiger zu atmen, auch wenn es ihr schwer fiel, weil der Druck immer noch da war und ihren Brustkorb einengte. Ein Teil von ihr verstand, was er meinte. Warum er das tun wollte, das Gefühl hatte, es tun zu müssen. Ein anderer Teil freute sich, freute sich darüber, dass er nun endlich auch vor anderen zu ihr stand – sie hatte das nie von ihm gewollt, nie gefordert, und sie konnte auch gut ohne das leben, aber das hieß nicht, dass sie sich nicht dennoch darüber freute. Natürlich freute sie das. Aber da war noch ein Teil in ihr, ein Teil, der die Gefahr sah, die ein solches Geständnis barg. Der Teil, der sich fragte, wie ein Leben – ihr Leben – in der Villa Aurelia aussehen sollte, wenn die Flavia erst mal Bescheid wusste. Der Teil, der sich fragte, was Corvinus damit bezwecken wollte, was er zu erreichen hoffte damit… außer seiner Frau die Wahrheit gesagt zu haben. Der Teil, der befürchtete, der Einfluss der Flavia könnte groß genug auf ihren Mann sein, dass er Siv doch wieder fort schicken würde, weil seine Frau es von ihm verlangte. Sie hatte keine Ahnung, dass Celerina ihn betrogen hatte, dass sie ihm einen Bastard hätte unterschieben können, dass sie nicht wirklich in der Position war, Forderungen zu stellen.


    Siv atmete tief ein. "Marcus…" Sie wusste nicht so recht, was sie nun sagen sollte. Aber was gab es schon, das sie sagen konnte? So sehr sie sich – trotz aller Zweifel – bereits darauf gefreut hatte, endlich wieder mit ihm zusammensein zu können, die Nacht mit ihm verbringen zu können, bei ihm, an ihn geschmiegt einzuschlafen und am nächsten Morgen wieder aufzuwachen… Es gab nichts, was sie sagen oder tun konnte. Wenn Corvinus sie jetzt zurücklassen wollte, würde sie ihn nicht umstimmen können, so gut kannte sie ihn. Und das bisschen Stolz, das ihr geblieben war, hinderte sie daran es wenigstens zu versuchen. "Tu das", murmelte sie, während sie seinem Blick nun auswich. "Du… du kommst dann? Ich meine, wenn…" Siv biss sich auf die Unterlippe und hob leicht die Hand, die immer noch in seiner lag, ohne den Satz zu vollenden.

  • Sivs Gesicht war eine Mischung aus Unsicherheit und Skepsis, mit Trauer und Angst vermengt zu einer Maske die ihr nicht stand und die ich an ihr nicht mochte. Erst recht nicht, wenn ich nicht die Augen davor verschließen konnte, dass ich es war, der den Auslöser dafür darstellte. Gepaart mit dem Zustand, in dem sie sich befand, flößte mir dieser Ausdruck Sorge ein und ein denkbar schlechtes Gewissen, dass ich sie nicht sofort mitnahm, zurück in das Leben, das um so vieles angenehmer sein musste als, nun ja, dieses hier, auch wenn Uland und Ferun sich nach Kräften bemühten. Doch was diese Mühe wert war, bewies wohl auch die Tatsache, dass der Germane mit seiner Familie zurück in die Heimat wollte.


    Ich hob die Hand bis unter Sivs Kinn, berührte sie flüchtig mit Zeige- und Mittelfinger, um sie zum Aufschauen zu bewegen. Mein Gesicht verriet nun nicht mehr viel, abgesehen von der Zuneigung darin. "Versprochen", sagte ich und hatte keine Ahnung, wann es soweit sein würde. War mein Vorhaben eben noch so unerschütterlich gewesen, Celerina am selben Abend noch alles offenzulegen, dachte ich nun eher an den morgigen Tag. Das mochte in der Tat feige sein und ausweichend, doch musste ich meine Worte schließlich mit Bedacht wählen. Wie sehr die Gedanken dabei an eine Ausrede grenzten, erschloss sich mir in jenem Moment nicht. Meine Gedanken waren auch recht schnell an einem ganz anderen Ort, nämlich hier. Wenn ich schon Tabula Rasa machte, dann fehlte etwas ganz Entscheidendes. Ich wandte den Kopf nach rechts, wo das Licht aus einer kleinen Öllampe inzwischen spärliche Sicht ermöglichte. "Ich möchte ihn halten", sagte ich unvermittelt und blickte Siv wieder an. Denn wenn nicht hier, wo sonst sollte mir das möglich sein, ohne mir selbst gegenüber das schlechte Gewissen zu haben, ihn anerkannt zu haben? Natürlich war das Humbug, denn es gab weder aussagekräftige Zeugen, noch konnte und wollte ich ihn tatsächlich annehmen. Doch wenn mich in der villa jemand mit Finn sehen würde - sehen würde, wie ich ihn hielt - so wäre das Gerede groß. Denn warum sollte sich ein patrizischer Senator um das Kind einer Freigelassenen scheren?

  • Er antwortete nicht gleich, und nach einem Augenblick spürte Siv kühle Finger unter ihrem Kinn, die sie mit sanftem Druck dazu brachte, aufzusehen. Sie erwiderte seinen Blick, und es fiel ihr schwer, schwerer als zuvor, in seinem Gesicht zu lesen. Sie meinte Zuneigung zu sehen, die gleiche Zuneigung, die sie für ihn empfand, aber sonst… Versprochen. Siv schluckte erneut. Versprochen… Corvinus würde das nicht sagen, wenn es ihm nicht ernst damit war, das wusste sie. Und doch entging ihr nicht, dass er keinen Zeitpunkt nannte. In diesem Augenblick hätte sie sich am liebsten in seine Arme geworfen und angefangen zu heulen, um all die wirren Gefühle, Trauer, Angst, Wut und Schmerz endlich, endlich hinaus lassen zu können. Wenigstens diese wenigen Augenblicke noch auskosten, die ihr blieben… Sie glaubte ihm, aber es fiel ihr schwer, gegen die Angst anzukommen, die Angst vor neuerlicher Enttäuschung. Sie wollte diesen Moment genießen, so lange er noch hier war, bei ihr. Wollte seine Nähe spüren, seine Arme um ihren Körper, wollte einfach nur gehalten werden und dieses Loch gefüllt haben, das in ihrem Inneren zu sein schien.


    Aber sie konnte nicht. Sie konnte nicht all das heraus lassen, was in ihr tobte. Sie hatte so hart darum gekämpft, es in sich zu verschließen – sie konnte das Risiko nicht eingehen, den Damm jetzt eigenhändig einzureißen, der verhinderte, dass ihre Gefühle herausbrachen. Ließ sie das zu, tat sie es selbst, bezweifelte sie, dass sie sie wieder würde einsperren können, und spätestens wenn Corvinus ging, würde sie das müssen. Weil sie dann wieder allein war. Und weil sie ein Kind hatte, für das sie sorgen musste, einen Sohn, für den sie da sein musste, und der ihre volle Aufmerksamkeit nicht nur brauchte, sondern auch verdient hatte. Und so nickte sie nur stumm, während sie seinem Blick standhielt und die Stille sich ausbreitete – bis Corvinus plötzlich erneut das Wort ergriff. Und Sivs Augen weiteten sich ein wenig. Er wollte Finn halten? Sogar für sie selbst unverständlich zögerte sie einen winzigen Moment, bevor sie nickte. Er war Finns Vater, er hatte jedes Recht, ihn zu sehen, ihn zu halten. Und sie freute sich, dass er das wollte. Wie sehr hatte sie sich nach der Geburt gewünscht, er möge vorbei kommen, um seinen Sohn wenigstens einmal zu sehen? Aber sehen war etwas anderes als halten, und Finn gehörte ihr. Er war ihr Sohn.


    Siv schob die leicht irrationalen Gedanken beiseite. Sie hatte ein Problem damit, Finn aus der Hand zu geben, das fiel jedem auf, der nur ein wenig mehr Zeit mit ihr verbrachte. Ferun beispielsweise machte sich inzwischen, wie vorhin, gar nicht mehr die Mühe zu fragen, weil sie die Antwort kannte – und weil sie wusste, dass sie ihr Finn nur abnehmen konnte, wenn sie ihn einfach holte. Und es war… es freute sie tatsächlich, dass Corvinus seinen Sohn halten wollte. Es bedeutete etwas. Es war ein weiterer Stein, der ihr bröckelndes Vertrauen in ihn wieder festigte. Er würde ihn nicht sehen, geschweige denn halten wollen, wenn es ihm nicht ernst damit war, sie zurück zu wollen. "Warte kurz", murmelte sie und verschwand für einen Augenblick in den größeren Teil der Wohnung, nur um kurze Zeit später wieder aufzutauchen, Finn in ihren Armen. Jetzt war auf ihrem Gesicht ein zärtlicher Ausdruck zu sehen, während sie ihren Sohn ansah – bis sie vor Corvinus stehen blieb und ansah, zögernd, ohne zu wissen, was sie nun tun sollte, und mit widerstreitenden Gefühlen in sich.

  • Ich zog einen Mundwinkel hinauf, als ich merkte, dass mein Versprechen nicht sonderlich viel an der Situation änderte. Und es machte mich einerseits ein wenig traurig, dass Siv mir nur so zögerlich vertraute, andererseits musste ich mir gegenüber nun einmal eingestehen, dass ich in der Vergangenheit nicht eben viel getan hatte, dass ein blindes Vertrauen diesbezüglich verdiente. Gar nichts, um genau zu sein. Diese Gedanken bescherten mir einen scharfen Beigeschmack, noch mehr Würze zu der ohnhin abenteuerlichsten Suppe aus Erkenntnis und Vorwürfen, Schmerz und Chaos, die ich je gekostet hatte. Ich hätte ihr gern mehr versprochen, doch dass ich überhaupt etwas versprach, was in diese Richtung lief, grenzte für mich selbst schon an ein Wunder, wie auch immer Siv es geschafft hatte, das zu bewerkstelligen. Zu mehr Zugeständnis war ich in diesem Moment einfach nicht fähig, nicht dazu, mehr von mir offenzulegen und nicht dazu, ein paar Tage näher zu spezifizieren.


    Gewiss bemerkte ich das Erstaunen, das Siv ergriff, als ich nach dem Jungen fragte, ihn vielmehr verlangte. Das war ein weiteres Pfefferkorn, und allmählich wurde die Brühe ungenießbar - und ich selbst damit weniger experimentierfreudig, was meine emotionale Belastung anging. Ich wünschte mir fast, nichts gesagt zu haben, nur um ihren irritierten Blick nicht länger ertragen zu müssen. Doch Siv verschwand und ließ mich allein zurück. Sie ging nur ein paar Schritte, doch während sie ihren Sohn holte, fuhr ich mir abgespannt durchs Haar und strich mir durchs Gesicht. Ich atmete tief durch. Und dann war sie zurück und trug den Knaben auf dem Arm. Sie war hübsch, wie sie ihn ansah, trotz der Augenringe und des strähnigen Haars. Ich sah Siv jedoch nur kurz an, dann glitt mein Blick zu dem Kind auf ihren Armen. Er hatte ein kleines Köpfchen mit wenig Haar und winzige Finger, nicht einmal halb so dick wie der kleinste an einer Männerhand. Alles an ihm war eine Miniatur, selbst die Wimpern, die ich entdeckte, als ich ein wenig näher an Siv heran trat und auf das Kind in ihren Armen hinunter sah. Ich schwieg, schlagartig befallen von einer bisher ungekannten, beklemmenden Nervosität - was, wenn er fiel? Wenn ich etwas falsch machte, und seine kleinen Extremitäten sich verbogen und brachen, weil ich ungewollt zu grob war? Ich sollte ihn besser nicht halten. Es war gut, wenn er bei Siv blieb. Besser, als wenn ich etwas falsch machte. Zögerlich hob ich eine Hand, näherte sie seinem Kopf und verhielt unschlüssig schwebend in der Luft. Wie damals. Wie in ihrem Zimmer, als ich nachts gekommen war, um ihn zu sehen. Dasselbe Gefühl schnürte mir die Kehle zu, ließ einen erwzungen ruhigen Ausdruck auf meinem Gesicht entstehen. Ich blickte aus den Augenwinkeln in Sivs Gesicht, sah die Liebe, die dort stand, wenn sie den Knaben ansah...und berührte dann mit aller nötigen Vorsicht die wirr abstehenden Haare Finns, die sich seidig wie eine Feder anfühlten. Schließlich legte ich ihm die Hand auf den kleinen Kopf, verbarg ihn damit fast vollständig. "Finn." Ich fühlte mich, als berührte ich ein rohes Straußenvogelei, nur dass es warm war und Haare hatte und sich bewegte. Denn Finn nieste in jenem Moment, ein hohes, beinahe raschelndes Geräusch, dass mich sofort veranlasste, hastig die Hand fortzunehmen und Siv erschrocken anzusehen.

  • Wie sehr ihr Verhalten Corvinus wiederum belastete, bemerkte Siv in ihrem Zustand gar nicht. Natürlich war ihr – im tiefsten Inneren – klar, was es ihn gekostet haben musste, hier aufzutauchen. Und nicht nur das, sondern gar zu sagen, dass er sie zurück wollte, dass sie zurück kommen sollte. Sie kannte ihn ja, kannte ihn so gut… Aber die letzten Wochen, Monate, waren hart für sie gewesen – wie hart, zeigte die Tatsache, dass sie überhaupt hier war, bei Uland. Sie wäre nicht gegangen, wenn sie auch nur die geringste Hoffnung gehegt hätte, dass etwas wie das hier möglich gewesen wäre. Wenn sie die Hoffnung gehabt hätte, dass es mit Corvinus noch glückliche Momente hätte geben können… Wenn sie geglaubt hätte, dass er sie und Finn, ihre Anwesenheit, nicht nur noch als Belastung empfand. Sie war zu sehr mit sich und dem Chaos in ihr beschäftigt, als dass sie im Augenblick großartig hätte wahrnehmen können, was in ihm vorging, oder sich darüber Gedanken machen konnte, was es ihn wohl gekostet hatte. Und auch als er Finn wollte, entging ihr, wie er ihr Zögern auffasste. Wie falsch im Grunde, denn diesmal hatte ihr Verhalten nicht das Geringste mit ihm zu tun, aber alles mit Finn – und mit der Tatsache, dass sie über ihn mit Argusaugen wachte, wie eine Wölfin über ihr Junges.


    Was sie dann allerdings bemerkte, war sein Zögern, als sie wieder da war. Wie er abwartete. Wie er innehielt. Wie er nur zaudernd das Köpfchen seines Sohnes berührte. Wie vorsichtig er war… Und wie er erschrak und zurückzuckte, als Finn plötzlich nieste. Siv konnte nicht anders, sie musste leise lachen, als sie Corvinus’ Gesichtsausdruck sah. "Keine Sorge. Macht er ab und zu." Sie strich sacht mit ihren Fingerkuppen über Finns Stirn und den winzigen Nasenrücken entlang, bis sie zur Spitze kam, die sie leicht anstupste. Vorhin noch war sie leicht zusammengezuckt, als Finn geniest hatte, aber da war er auch bei Ferun gewesen, nicht bei ihr. Finn schmatzte leise und gab ein fast fröhlich klingendes Glucksen von sich. Jetzt strahlte Siv beinahe. "Ich glaub er wird ein Frecher. Hm, Finn?" Natürlich war das Blödsinn, aber Siv war felsenfest davon überzeugt, dass sie bereits jetzt erste – und ausgeprägte! – Charakterzüge an ihm feststellte. Dann sah sie wieder auf, sah Corvinus an, versuchte zu erkennen, was in ihm in diesem Moment wohl vorging. "Ehm. Du… wolltest…" Sie hob den Kleinen leicht hoch und sah ihn fragend an. Ihr war nicht wohl dabei, Finn aus der Hand zu geben, wie üblich, aber Corvinus war sein Vater, und so sehr ein Teil von ihr dagegen protestierte, so sehr wünschte sich ein anderer, dass er seinen Sohn endlich auch in den Arm nahm.

  • Beim Klang ihres Lachens fühlte ich mich unwissend. Natürlich hatte der Junge nur geniest. Jetzt im Nachhinein erschien es mir absurd, mich überhaupt erschreckt zu haben ob dessen. Ich lächelte, ein klein wenig peinlich berührt vielleicht, ließ die Hand jedoch, wo sie war. Siv war zärtlich mit dem Kind, ganz so, wie ich es auch vermutet hätte. Ihr Strahlen und die darauf folgende Bemerkung allerdings ließen die Situation zu glücklich erscheinen. Das war ein wenig zu viel des Guten, zumindest für mich und in jenem Moment. Ob er nun frech werden würde oder nicht, bestimmte meiner Meinung nach die Erziehung. So viel Verstand hatte ich selbst in dieser Situation noch. Ich lächelte nun schief und wollte bereits bemerken, dass ich mich nun besser auf den Heimweg machte, als Siv mir das Kind leicht entgegen hielt und erwartungsvoll ansah. Ich sah zurück, im Blick die stumme Frage nach Bestätigung. Gleichzeitig war mir unwohl bei dem Gedanken daran, meinen Sohn zu halten. Zögerlich streckte ich dennoch die Hände nach ihm aus, richtete den Blick von Siv nun auf ihn. Auf die kleinen, etwas abstehenden Ohren, das wenige Haar und die verhältnismäßig großen Augen.


    Als Siv ihn mir gab, überkam mich eine leichte Panik, vermengt mit Stolz - immerhin hielt ich hier meinen Sohn in den Händen! Unwissend hielt ich ihn nicht richtig und ein wenig steif. Sein Köpfchen kugelte zur Seite, woraufhin ich das ganze Kind ein wenig entgegengesetzt neigte, freilich alles etwa zwei Handspannen vor meiner Brust. Er war gar nicht so schwer, nur seltsam unhandlich, was dadurch erschwert wurde, dass er sich bewegte. Die Beinchen strampelten in der neugewonnenen Freiheit, die Ärmchen winkten wie zum Gruße, und wenn man mich gefragt hätte, so hätte ich felsenfest behauptet, er würde mich angrinsen. Hilfesuchend sah ich zu Siv.

  • Siv bemerkte nichts von dem, was in diesem Moment in Corvinus vorgehen mochte, einfach weil sie – in diesem Moment – nicht auf ihn achtete. Wie so häufig, wenn Finn bei ihr war, hatte der Junge auch den größten Teil ihrer Aufmerksamkeit sicher. Erst als sie sich wieder besann und sich in Erinnerung rief, weswegen sie ihn überhaupt geholt hatte, sah sie wieder auf. Ein wenig zögernd, hob sie ihre Arme etwas, so dass Corvinus seinen Sohn nehmen konnte, wenn er denn wollte – aber der machte zumindest im Augenblick keine Anstalten dazu, sondern sah sie nur an, ein wenig fragend, wie ihr schien. Siv wusste nicht so recht, was sie tun sollte. Ein Teil von ihr wünschte sich, er würde seinen Sohn tatsächlich nehmen, ein Teil von ihr behauptete steif und fest, dass nach wie vor nur sie fähig war, Finn richtig zu halten, und dass Corvinus, genau wie jeder andere auch, ihren Sohn sicherlich fallen lassen würde und es quasi lebensgefährlich für den Kleinen war, ihn auch nur einen Moment aus ihrer Obhut zu lassen. Absolut höchst lebensgefährlich. Es grenzte an ein Wunder, dass ihm bisher noch nichts passiert war! Aber so sehr Siv seit der Geburt geneigt war, dieser Stimme tatsächlich Gehör zu schenken, war sie sich doch im Klaren darüber, dass das pure Übertreibung war. Sie wollte ihren Sohn ja nicht verwöhnen, ganz im Gegenteil, wenn er stark und robust werden sollte, konnte sie gar nicht früh genug damit anfangen, ihn abzuhärten. Und Corvinus war sein Vater. Es war etwas lächerlich, behaupten zu wollen, es wäre Abhärtung für Finn, wenn ihn – Wochen nach seiner Geburt! – sein Vater auch endlich mal zu halten bekam.


    Corvinus machte schließlich doch Anstalten, ihn zu nehmen, und Siv legte ihm den Kleinen in den Arm. Und hätte am liebsten angefangen nervös um ihn herumzuwedeln, weil er in ihren Augen alles falsch machte. „Nein, du-“ Noch bevor Finns Köpfchen sich zu weit drehen konnte, hatte sie ihre Hand schon darunter geschoben und stützte ihn, während ihre andere an Corvinus Händen und Armen herumdrückte und -schob, bis er ihn richtig hielt. „Du musst den Kopf stützen, er kann ihn noch nicht halten“, murmelte sie, dann drückte sie Corvinus’ Arme näher an seine Brust heran. „Und näher zu dir.“ Am Ende ließ er ihn doch noch fallen… Siv hätte am liebsten nervös auf ihren Fingern herumgebissen, so musste ihre Unterlippe herhalten. Finn machte das Ganze auch nicht gerade leichter, denn anstatt still zu sein und sich einfach halten zu lassen, schien er beschlossen zu haben, dass es Zeit war für ein wenig Gezappel. Aber Corvinus schien ihn nun einigermaßen sicher zu haben, und Siv sah endlich hoch und begegnete seinem Blick, der seltsam perplex wirkte. Oder hilfesuchend? Siv wusste es nicht genau. „Ehm. Ja.“ Sie lächelte schief, jederzeit bereit, wieder zuzugreifen.

  • Es brauchte eine Weile, bis ich ihn so hielt, dass seine Bewegungen eingeschränkter waren und ich ihn sicher hatte. Das Ganze schien mir eine Wissenschaft für sich zu sein, und man musste nicht nur auf, sondern auch für den Kleinen aufpassen. Sein Kopf war ganz offensichtlich noch viel zu schwer für ihn - kein Wunder, war er doch das größte Teil an ihm. Als Siv schließlich nickte und offensichtlich mit der Haltung, die ich eingenommen hatte, zufrieden war, wagte ich kaum, einen tieferen Atemzug zu nehmen und damit etwas an der Art und Weise zu verändern, wie ich stand oder die Arme hielt. Ich sah von ihr zu meinem Sohn und zurück, und ganz allmählich zeigte sich ein vages, unsicheres Lächeln. Das Kind gluckste, eine Mischung aus einsetzendem Geplärr und einem Grinsen, da war ich mir ganz sicher. Bevor er mit dem Weinen anfangen konnte, wollte ich ihn lieber wieder loswerden. ich sah Siv auffordernd an und hob ihr eine Winzigkeit die Arme entgegen. "Ehm. Nimmst du ihn wieder?" fragte ich ein wenig zaghaft und war dann froh, als sich das Kind wieder in Sivs Armen befand. Das war schon ein seltsames Gefühl, das ich hatte. Einerseits war ich stolz, andererseits froh, dass ich ihn nicht mehr hielt. Dieser kurze Ausflug in die Vaterschaftsgefühlswelt war vorerst genug für mich.


    Ich räusperte mich. "Ich sollte... Ich werde jetzt gehen, Siv." Immerhin hatte ich einen Teil meiner Entschlossenheit wiedergewonnen, was das Emotionale betraf. Nun musste ich es nur noch Celerina beibringen und dann weitersehen. Ich dachte an meine Frau und seufzte leise. Dann hob ich die Hand und strich Siv über die Wange. "Ein paar Tage", wiederholte ich und nickte kurz dabei. Anschließend machte ich ein paar Schritte hinaus aus dem kleinen, abgetrennten Bereich und wandte mich nach einem kurzen Blick hin zu Uland und Ferun - die beide augenblicklich aufstanden und mehr als verwundert in meine Richtung sahen - wieder Siv zu. Sollte sie vorausgehen, ich würde mich noch verabschieden und dann gehen.

  • Corvinus folgte Sivs drückenden und fordernden Bewegungen widerspruchslos, ließ zu, dass sie seine Arme so hinschob, dass er den Jungen sicher hatte. Und danach standen sie da. Corvinus schien sich nicht zu trauen, sich auch nur eine Winzigkeit zu bewegen. Er tat nichts, hielt Finn einfach nur, und Siv stand davor und wusste auch nicht so recht, was sie sagen oder tun sollte. Sie konnte ihm zeigen, wie er ihn halten musste – aber sie konnte ihm nicht sagen, wie er mit seinem Sohn umgehen sollte. Der Moment war irgendwie merkwürdig für sie, und sie war erleichtert, als Corvinus ihr Finn wieder zurückgab. Sie griff ihn mit beiden Händen und hielt ihn so, dass er an ihrem Oberkörper lag, die Haltung aufrecht, der Kopf an ihre Schulter gelehnt. Ob es nun daran lag, dass er wieder bei ihr war, dass sie ihn – fast schon unbewusst – sanft wiegte und über seinen Kopf strich oder nur Zufall war, er fing nicht an zu weinen, sondern gluckste nur weiter vor sich hin.


    Als Corvinus sich dann räusperte, sah Siv auf. Einen Moment lang musterte sie ihn, schweigend, unschlüssig, was sie sagen sollte. Er ging. Er ließ sie allein, wieder. Etwas in ihrem Magen zog sich zusammen, und Siv spürte wieder das dumpfe Loch in sich, das für Momente gefüllt gewesen zu sein schien, als er sie vorher gehalten hatte. Für einen winzigen Moment schloss sie dann die Augen, als sie seine Finger auf ihrer Wange spürte, genoss die Berührung und erlaubte sich, sich der Vorstellung hinzugeben, dass er sie tatsächlich holen würde. Erlaubte sich, daran zu glauben, dass er sie nicht nur zurückholen, sondern dass sich etwas ändern würde. Nicht viel, nicht in ihrem Status, nicht in ihren Tätigkeiten oder sonst etwas allzu Ersichtlichem – aber in seinem Verhalten ihr gegenüber. Dass er sie nicht mehr von sich wegstoßen würde, egal welche Gründe ihn nun dazu brachten. Ein paar Tage. Siv öffnete die Augen wieder, und während sie das tat, verdrängte sie diese Gedanken, verdrängte die Hoffnung. Ein paar Tage. Dann würde sie es erleben, so oder so. Bis dahin aber… bis dahin war es besser, sich nicht der Hoffnung hinzugeben, so gut sie es konnte jedenfalls. "Ja." Sie nickte ebenfalls leicht, in Erwiderung zu seinem. Und als er sich dann umdrehte und hinausging in den größeren Bereich, folgte sie ihm nur bis zur Schwelle des Durchgangs und blieb dort stehen. Corvinus wandte sich noch einmal zu ihr um und sah sie an, und Siv sah zurück, nichtahnend, dass er dachte sie würde vorausgehen. So wie er stehen blieb und zu ihr zurücksah, wirkte es vielmehr auf sie, als wolle er sich hier verabschieden. Was sie davon halten sollte, wusste Siv nicht so recht, aber andererseits wusste sie ohnehin nicht, wie sie sich nun von ihm hätte verabschieden sollen, gleich ob sie allein waren oder ob Uland und seine Familien zusahen. Am liebsten wäre es ihr gewesen, er würde gar nicht gehen. Oder würde sie gleich mitnehmen. Sie gestand es sich nur ungern ein, aber jetzt, wo sie ihn wieder gesehen hatte, wo er sie gehalten und geküsst hatte, hatte sie Angst vor der kommenden Nacht, wenn sie wach auf dem Boden lag und allein war. Schlimmer noch: sich einsam fühlte. "Also…", murmelte sie. "Dann… bis dann."

  • Nichts ahnend von den Gedanken, die Siv zum Abschied mit sich trug, wartete ich, dass sie mir folgte. Sie blieb jedoch auf der Schwelle stehen und sah mich nur an. Der Kleine an ihrer Schulter war still, lutschte an seiner Faust, und Uland, Ferun und die Kinder sahen aufmerksam in unsere Richtung. Siv bewegte sich keinen digitus weiter, und schlussendlich gab mich mir den Ruck, nickte ihr zu und verabschiedete mich auf diese Weise von ihr.


    Uland und seine Frau erhielten noch ein paar freundliche Worte, sowie Dank für das einfache Mahl, dass ich kaum angerührt hatte. Gern hätte ich noch ein paar Münzen dagelassen, doch ich war so überhastet aufgebrochen, dass ich mit leeren Händen gekommen war und mit ebenso leeren Händen wieder ging. Die Kinder liefen vor ihrem Vater her zur Tür, ehe er sie für mich öffnete und mich hinaus ließ, und als ich die schmale, dreckige Stiege hinunter ging, fühlte ich mich um viele librae leichter. Zumindest, solange ich nicht an Celerina dachte.

  • Brix stieg die Stufen hinauf. Dass die dritte knarrte, wusste er, also übersprang er diese. Kurz darauf klopfte er an die Tür und wartete. Drinnen waren Schritte zu hören, dann öffnete Uland die Tür. "Brix?" grüßte er verwundert und mehr fragend als einladend. Trotzdem machte er seinem Landsmann die Tür auf und winkte ihn hinein. Sonnwinn sprang um Ferun herum, die am Herd stand, und de Kleine saß auf dem Boden und spielte mit ihrer Puppe. "Heilsa Uland. Ferun", grüßte Brix und suchte nach Siv, die er kurz darauf auch entdeckte. "Heilsa Siv", grüßte er auch sie. Uland schloss die Tür hinter sich und Brix. Sonnwinn hatte Brix inzwischen erfasst und zog eine Flunsch. Sie alle wussten, dass sein Besuch bedeutete, dass er Siv mitnehmen würde.

  • So sehr hätte sie sich gewünscht, dass Corvinus noch einmal zu ihr kam. Sie noch einmal in den Arm nahm, so wie vorhin. Aber er tat nichts. Er stand einfach nur da und sah sie an – und schließlich bekam sie nicht mehr als ein Nicken zum Abschied. Als er sich umdrehte, rang sie innerlich mit sich, ob sie die Distanz zwischen ihnen nicht doch überbrücken sollte, aber… aber. Da war dieses Aber, das in ihr vibrierte. Sie wusste nicht, wie er darauf reagieren würde, vor Uland und Ferun, von denen er sich gerade verabschiedete. So häufig sie früher immer die Initiative ergriffen hatte, wenn er gezögert hatte, so schwer fiel es ihr nun, das zu tun. Sie wusste nicht, woran sie war. Sie wusste nicht, wie ernst es ihm war. Sie wusste nicht, wie dünn das Eis war, auf das sich zu begeben sie gerade im Begriff war. Und Siv hatte Angst davor, einzubrechen. Unterzugehen. Als Corvinus die kleine Wohnung schließlich verlassen hatte, mochte er sich leichter fühlen – Siv fühlte sich schwerer. Sie hatte im Grunde schon abgeschlossen gehabt, nicht mit ihren Gefühlen oder dem, was war, aber mit der Hoffnung. Und jetzt war er hier gewesen, und so sehr Siv sich auch dagegen wehren wollte, er hatte die Hoffnung in ihr neu entfacht. Alles, was sie gewollt hatte, war mit ihm zusammen zu sein. Einfach nur das. Ohne Reue, ohne schlechtes Gewissen, ohne dass sich in diesen Momenten Gedanken an seine Frau oder seine Position oder sonst etwas dazwischen drängten und den Augenblick verdarben. Sie verstand, dass er das nicht immer konnte – sie konnte es ja auch nicht. Aber in den letzten Monaten hatte es einfach überhand genommen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie zuletzt Zeit miteinander verbracht hatten, ohne dass es letztlich darin geendet hatte, dass er ihr… fremd vorgekommen war. Fremd und abweisend. Und jetzt… jetzt, wo er hier gewesen war, wo er zu ihr gekommen war, jetzt war sie es, die sich fremd vorkam. Fremd und… auf merkwürdige Art abweisend, abweisend sich selbst gegenüber, der Hoffnung, die irgendwo in ihr wieder aufgeflammt war, wie ein Strohfeuer, das sich kaum unterdrücken ließ, aber beinahe ebenso rasch wieder erlosch, wenn es keine Nahrung bekam.


    Siv ignorierte die fragenden Blicke, die Uland und Ferun ihr zuwarfen. Sie blieb einfach nur stehen und starrte die Stelle an, an der Corvinus verschwunden war. Erst nach endlosen Augenblicken rührte sie sich schließlich. Mit Finn auf dem Arm verließ sie ebenfalls die Wohnung, aber nicht, um die enge Stiege nach unten zu gehen, wie auch Uland feststellte, der ihr hinter gekommen war. Siv wandte sich zu der schmalen Leiter, die am Ende des Treppenvorsprungs im Dunkeln lag, und mit raschen Bewegungen hatte sie sie erklommen und zwängte sich durch die Falltür, die auf das Dach führte. Der einzige wirkliche Rückzugsort, den sie hatte. Es war kühl hier, am Abend, aber das störte sie nicht, noch nicht. Warm angezogen war sie ohnehin, war es doch in der Wohnung nur wenig wärmer gewesen – dennoch kam nur wenige Augenblicke später Ferun nach oben und brachte ihr wortlos zwei Decken, bevor sie wieder verschwand. Wenn Uland und seine Frau eines gelernt hatten in den vergangenen Wochen, die Siv bei ihnen verbracht hatte, dann dass es keinen Sinn machte zu versuchen sie auszufragen. Eine der Decken breitete Siv auf dem Boden aus, in die andere wickelte sie sich und Finn ein, bevor sie sich hinlegte, auf dem Rücken, Finn auf ihrer Brust. Und verlor langsam, aber sicher, die Kontrolle über sich und das Gefühlschaos, das in ihr tobte. Tränen glitzerten schwach im Sternenlicht, und ihre Brust hob und senkte sich tiefer, als sie sich Finns wegen zwang, dennoch ruhig zu atmen, obwohl eigentlich Schluchzer ihre Kehle hinauf drängten. Und so lag sie da und hielt Finn in ihren Armen, während sie in den sternenklaren Nachthimmel hinaufstarrte.



    ~~~ Tage später ~~~


    Siv saß gerade am Tisch und stillte Finn, als Brix kam. Auf das Klopfen hatte sie zunächst kaum reagiert, erst, als sie Uland Brix’ Namen nennen hörte, sah sie auf – und keinen Augenblick später betrat der Germane den Wohnraum und grüßte in die Runde. Siv war wie erstarrt für einen Augenblick. Unwillkürlich, unbewusst, ließ sie ihre Arme sinken, und mit ihnen Finn, dem das gar nicht gefiel – kaum hatte er den Kontakt zu ihrer Brust endgültig verloren, plärrte er los und fing an zu strampeln, stieß ihr seine Füße gegen den Brustkorb und hörte erst wieder auf, als Siv ihn hastig wieder an die Brust legte. "Brix", grüßte sie ihn leise. Jeder hier wusste, was sein Besuch bedeutete – Siv hatte nicht wirklich über das gesprochen, was Corvinus’ Besuch bedeutet hatte, aber Uland und Ferun waren nicht dumm. Und es war nicht schwer, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Dennoch hatte Siv sich so sehr darauf versteift, dass dieser eine Besuch letztlich nichts zu bedeuten gehabt hatte, dass die Hoffnung, die aufgeflammt war, unnütz und töricht war und dass sie sie unterdrücken musste, dass sie nun nicht so recht wusste, was sie denken sollte. Oder fühlen. Und vielleicht war Brix auch nur da, um sie wieder mal zu besuchen… Siv schluckte, wich Brix’ Blick für einen Moment aus und sah ihn dann wieder an. "Ehm. Setz dich doch."

  • Die Selbstverständlichkeit, mit der Siv ihm einen Platz anbot, sollte Brix nicht überraschen, tat es aber dennoch. Sie wirkte befangen und nervös, wie er fand, und er half ihr, indem er es nicht weiter beachtete. "Danke, das ist nett. Aber ich habe heute noch ein paar Dinge zu erledigen", wandte er stattdessen ein und lächelte freundlich in die Runde, bis sein Blick wieder auf Siv und dem Kleinen lag. Sie stillte ihn gerade, und Brix fühlte sich unangenehm an früher erinnert. Er räusperte sich und beschloss, zunächst Ferun und Uland sein Mitbringsel zu übergeben. Es handelte sich hierbei um einen Lederbeutel samt klimperndem Inhalt, sowie einen Brief, in dem sich der Senator dafür bedankte, dass die germanischstämmige Familie Siv aufgenommen hatte. "Uland, ich soll dir das hier geben und dir ausrichten, dass der Senator dich vor eurer Abreise in jedem Falle noch zu einer salutatio erwartet." Brix deponierte den Lederbeutel auf dem gefurchten Esstisch. Er enthielt eine sicherlich willkommene Hilfe für die letzten Reisevorbereitungen. "Wann wollt ihr eigentlich los?" fragte Brix.


    Als er dann wieder zu Siv sah, lächelte er kurz. Finn krallte sich mit seinen kleinen Fingern in ihre Kleidung, um den Kontakt zur mütterlichen Brust auf keinen Fall zu verlieren. Dabei sah er Siv mit seinen großen Kinderaugen immer wieder regelrecht staunend an. "Hast du schon gepackt?" wollte er von ihr wissen. Viel würde sie vermutlich nicht haben, aber das Wenige musste schließlich auch von A nach B gebracht werden.

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