Langsam öffnete Marei ihre Augen, blinzelte schlaftrunken zum Fenster. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, also konnte sie sich umdrehen und weiter schlafen. Ich muß Pipi, dachte Marei düster. Vielleicht kann ich es noch unterdrücken? Bis morgen früh warten, wenn es nicht mehr so dunkel ist? Oder nach Frija rufen? Eigentlich bin ich ja schon alt genug um alleine Pipi zu gehen, schließlich bin ich ja schon acht! grübelte Marei. Auch wenn es nachts und dunkel ist! Unruhig wand sie sich im Bett, schlug die Bettdecke zurück und streckte vorsichtig den rechten Fuß nach draußen. Schnell zog sie ihn wieder zurück unter die Decke. Kalt! Marei ärgerte sich. Was bin ich doch für eine Memme? Es war ja nicht nur die Kühle, die sie daran hinderte das Bett zu verlassen. Nein, es war mitten in der Nacht. Zu dieser Zeit wird aus jeder Schatten an der Wand ein Monster oder sogar Dämon.
Marei streckte wieder ihren Fuß hinaus und kniff ihre Augen zusammen, hielt die Luft an und wartete. Wartete, daß vielleicht eine Hand ihren großen Zeh packte und nach unten zog oder ein Zwerg unterm Bett hervorspringt und seine spitzen Zähne in ihren Fuß schlug und mit einem Bissen abbiß. Nichts von alledem geschah. Marei wackelte mit den Zehen und wartete wieder. Es geschah immer noch nichts, also war keine eiskalte Hand oder ein Zwerg in der Nähe. Erleichtert atmete sie auf. Kein noch so hinterlistiges Monster kann so einen auffordernden Zehenwackeln wiederstehen. Ihre Blase meldete sich wieder. Dann gehe ich eben aufs Klo, dachte sie und schwang die Füße aus dem Bett. Ach ja! Das hieß ja nicht Klo, sondern Plumpsklo! Marei tastete im Dunkeln nach der Zimmertür. Langsam drückte sie die Klinke nach unten und öffnete sie. Ich könnte ja eine Kerze anzünden, dachte Marei, aber dann wecke ich alle Frauen auf. Die Männer auch. Leise und auf Zehenspitzen schlich sie den Flur entlang. Die Toilette lag ganz am Ende. Endlich war sie da, drückte die Tür auf, drehte die Öllampe auf und schloß schnell die Tür, damit der Lichtschein nicht in den Flur fiel, und die anderen aufweckte. Marei's Füße spürten die Kälte der Fliesen. Das Plumpsklo stand am Ende des Badezimmers, direkt unter dem Fenster, was ihr logisch erschien. Wegen den Düften. Marei tippelte über die kalten Fliesen in Richtung Schüssel und schaute dabei flüchtig in den übergroßen Spiegel an der Badezimmerwand.
Mitten in der Bewegung erstarrte sie. Wie vom Blitz getroffen, unfähig die Luft, die sie eingeatmet hatte, wieder auszuatmen. Sie starrte auf die Hände, nein Klauen, die behaarten Klauen, die sich langsam durch das Glas des Spiegels schoben. Den Gang zur Schüssl konnte er sich sparen. Ihre Blase entleerte sich in dem Augenblick, indem ihr Gehirn realisierte, was ihre Augen sahen. Marei riss die Augen auf und starrte auf die Klauen die sich ihr langsam entgegenstreckten. Kein Laut drang über ihre Lippen. Sie keuchte und sah das Ungetüm, das sich langsam von hinten dem Spiegel näherte. Als ob eine Welt jenseits des Glases lag, eine Welt die Ungeheuer gebar. Eine milchige Dimension, aus der sich langsam eine scheußliche Fratze näherte. Gelbe Augen ohne Pupillen inmitten einem fast menschlichen Gesichts. Aber nur fast menschlich. Entstellende Narben verunstalteten die Gesichtszüge, die eine vergangene Schönheit vermuten ließ. Alles war irgendwie vergrößert, verzerrt und unwirklich. Die Haare hatten ein schmutziges Braun und wirbelten um seinen Kopf, als würde auf der anderen Seite ein kräftiger Wind blasen.
Das Wesen schien Marei's Angst zu spüren, zu riechen, denn es verzog seinen Mund zu einem teuflischen Grinsen. Es fletschte regelrecht die Zähne und Sam roch den verfaulten Atem. Das tiefe Grollen das dumpf und drohend, wie durch Watte an ihr Ohr drang, jagte ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken. Es schüttelte sie regelrecht durch. Sie zitterte, sie schluckte und sah die Klauen immer näher an ihr Gesicht kommen, das selbst zu einer angstvollen Fratze entstellt war. Ich muß weg, muß schreien! Los ihr verfluchten Beine! Bewegt euch! dachte Marei verzweifelt während ihre sie Angst noch immer in der lähmenden kalten Faust umklammert hielt. Die Klauen kamen immer näher, sie konnte sie regelrecht riechen und der entstellte Kopf gebar sich vollständig durch den Spiegel. Da, in dem Moment, als die schmutzigen Nägel ihr Gesicht zerkratzen wollte, ließ sich Marei nach hinten fallen. Endlich, endlich konnte sie sich bewegen. Sie fiel gegen die gegenüberliegende Wand, rutschte an ihr herunter, weil ihre Beine sie nicht mehr tragen wollten. Hauptsache nicht mehr in der Reichweite dieser Krallen, zuckte es durch Marei's Gedanken. Auf Knien kroch sie Richtung Tür. Hinter ihr erklang ein dumpfes Beben. Das Wesen hatte den Siegel verlassen. Marei wollte sich nicht umdrehen, wollte nicht hinschauen und tat es doch!
Ihre kindlichen Gedanken konnten nicht realisieren was sie sahen. Kein Werwolf, kein Zwerg, erst recht kein Dämon. Ein Etwas. Schwarze zerrissene Kleidung schlotterten an dem Körper des Wesens. Eigentlich schien er ein Mensch zu sein, wenn da nicht die außergewöhnlichen riesigen Hände und Füße gewesen wären. Obwohl Marei diese Hände mehr als Klauen bezeichnen würde. Die Finger überlang und globig, behaart und mit dunkler hornigen Nägeln. Klauen eben. Marei kroch weiter, sie war schon kurz vor der Badezimmertür. Das Menschtier kam immer näher. Sie spürte schon den warmen übelriechenden Atem in ihrem Nacken und ihr war, als würde es kichern. Kichern, weil es seine Beute sicher war. Marei krallte sich an die Türklinke, drückte sie runter und riss die Tür auf. Dann endlich schrie sie. Schrie und warf sich auf den Flur. Warf die Tür zu. Stemmte die Füße dagegen, im Irrglauben so das Untier aufhalten zu können. Marei schrie immer noch. "Mami, Mami! Ein Ungeheuer! Im Plumpsklo!"