Einen Moment lang herrschte Stille, und dieser Moment schien sich für Seianas Empfinden zu einer halben Ewigkeit zu dehnen. Sie war sich beinahe unangenehm bewusst darüber, dass sein Blick auf ihr ruhte, aber sie ließ sich nichts anmerken, sondern wartete, einen höflichen Gesichtsausdruck aufgesetzt, bis er den Namen seines Vorgängers wiederholte, in einem Tonfall, der zu implizieren schien, dass ihm dieser Name überhaupt nichts sagte. Aber bevor sie sich darüber wundern konnte, erklärte er schon, was mit Orosius passiert war – und gleich darauf, wer er war. Ein Bekannter von Faustus. Aus Alexandria. Für einen Augenblick erlaubte sie sich, in Gedanken abzuschweifen, hin zu jener Zeit, als sie selbst dort gelebt hatte für ein paar Jahre... aber was davon übrig war, war nur noch ein schwacher Nachhall. Leichter war ihr Leben dort gewesen, mit Archias. So seltsam locker, wie es weder davor noch danach je wieder gewesen war, nicht einmal in jener Phase in Rom, als die Verlobung mit Archias noch angedauert hatte. Weniger rigide war ihr Leben gewesen, weniger von Zwängen bestimmt. Und davon war sie mittlerweile so weit entfernt, dass sie sich das nur noch schwer vorstellen konnte. „Ich freue mich, einen Freund meines Bruders kennen zu lernen. Falls es dir in diesem Haus an irgendetwas mangeln sollte, kannst du dich in seiner Abwesenheit gerne jederzeit an mich wenden, Aton“, erwiderte sie, und in ihrer Stimme lag Ehrlichkeit. Wo sie jedem anderen Hausgast dasselbe aus purer Höflichkeit angeboten hätte, ohne es jedoch wirklich ernst zu meinen, ohne zu erwarten, dass der Gast tatsächlich zu ihr kam – bei diesem meinte sie es ehrlich. Sobald ihr Bruder ins Spiel kam, war es anders... nicht nur weil es ihre Pflicht war, sich als nächste Verwandte so gut es ging um seine Angelegenheiten zu kümmern, sondern weil sie es wollte. Weil sie ihn liebte. Und weil es im Moment so ziemlich das einzige war, was sie für ihn tun konnte.
„Ich habe davon gehört... es aber nicht gelesen bisher.“ Und sie würde es wohl auch nicht so bald lesen, weil sie offenbar gar keine Abschrift hier hatten. Der Bibliothecarius klang irgendwie traurig, als ihm das klar wurde und er es aussprach, und das anschließende Flüstern berührte sie irgendwie. „In welcher Bibliothek?“ fragte sie nach. „Vielleicht ist es möglich, eine Abschrift von dort zu bekommen.“ Sie deutete ein Lächeln an. „Den Schild des Herakles nehme ich aber gerne mit.“ Wie lange war es her, dass sie etwas einfach nur aus Vergnügen gelesen hatte? Sie konnte sich nicht so recht erinnern. Vielleicht wurde es wieder Zeit dafür... auch wenn sie sich nicht sicher war, ob sie dafür Konzentration aufzubringen imstande war, war es trotzdem einen Versuch wert.