cubiculum Siv | Yield to temptation

  • Ich war nicht gleich nach diesem Gespräch mit Celerina hergekommen. Ich hatte mich zunächst einmal sammeln müssen. Zudem wäre es mir tatsächlich falsch erschienen, wenn ich das eine Zimmer verließ und ein anderes aufsuchte, und das gleichbedeutend mit den Bewohnern war, die sie beherbergten. So war ich eine Weile im Peristyl auf und ab gegangen, darüber sinnierend, was dieser allzu frühe Morgen nun im Einzelnen für mich bedeutete. Ich hatte sogar überlegt, den Moment bis nach Mittag hinauszuzögern, an dem ich Siv begegnen würde. Der Grund war simpel: Ich fühlte mich innerlich wund. Ich glaubte nicht, dass ich noch viel ertragen konnte, auch nach etwas Bewegung im Freien nicht. So wenig Emotionen ich auch zu zeigen imstande war, so verbraucht fühlte sich dieser Teil meiner selbst an, überstrapaziert und aufgerieben. Im Anschluss an den tristen Spaziergang - schließlich war ich nur auf und ab gegangen - hatte ich zumindest die Geistesgegenwart, mir etwas Neues zum Anziehen zu beschaffen. Dina, die seit Sivs Freilassung ihre Aufgaben die Kleidung betreffend weitestgehend übernommen hatte, war zwar irritiert gewesen, dass ich bereits auf war, hatte mir jedoch das Gewünschte gesucht. Ich dankte mit knappen Worten, orderte noch frischen Weidensud gegen den Brummschädel und sagte Alexandros ab, der plötzlich mit dem Rasiermesser und einem frischen Tuch im Zimmer stand. Dina brachte mir das Kopfschmerzmittel, als ich mich gerade umzog. Ich kippte den widerlichen Sud klaglos hinunter, verzog das Gesicht und schüttelte mich.


    Mehr oder minder frisch wie ich war - ich fühlte mich dennoch nicht besser - hatte ich mich dann auf den Weg gemacht. Das würde ebenso wenig ein einfaches Gespräch werden wie das vorangegangene. Ich seufzte tief, klopfte kaum vernehmlich und wartete. Nichts passierte. Ich wartete, runzelte allmählich die Stirn und wollte eben ein zweites Mal klopfen, als der Schrecken in Form einer eisigen Hand mein Herz kalt umschloss. War sie fort? Ich öffente augenblicklich. Die Vorhänge waren noch zugezogen, es roch nach Schlaf im Raum. Das Licht, das durch die Tür und an den Vorhängen vorbei ins Zimmer strömte, offenbarte eine Gestalt im Bett. Ein erleichtertes Seufzen verließ meine Kehle. Ich schloss die Tür und ging zu Siv , die noch da war. Finn lag in dem absturzsicheren Bereich zwischen seiner Mutter und der Wand, an der das Bett auf einer Längsseite stand. Ich setzte mich leise an den Tisch auf einen Stuhl, die schlafende Siv nachdenklich betrachtend, und wartete. Ich wollte sie nicht wecken, selbst im Schlaf sah sie erschöpft aus. Und es kam mir zudem recht gut zupass, dass ich nicht gleich den Kopf anstrengen und nach Worten suchen musste, die hinreichend erklärten, was mich derzeit umtrieb.

  • Siv hatte das Zimmer nicht mehr verlassen, nachdem Corvinus gegangen war. Sie hatte sich verzweifelt bemüht, das Schluchzen unter Kontrolle zu bekommen, nicht zuletzt weil sie wusste, wie sehr Finn das aufregte, wie schwer es werden würde, ihn wieder zu beruhigen, aber es war ihr erst nach und nach gelungen. Und dann hatte sie sich der Aufgabe gegenüber gesehen, sich um ihren Sohn zu kümmern, der, wie erwartet, deutlich aufgeregter war als sonst. Es war schon spät in der Nacht gewesen, als sie ihn endlich, endlich dazu gebracht hatte, das Weinen aufzugeben und einzuschlafen. Und selbst dann war es noch nicht vorbei. Sie hatte gar nicht erst versucht, Finn in der Wiege schlafen zu lassen, weil er ihre Nähe so sehr brauchte wie sie die seine. Dennoch war Finns Schlaf in dieser Nacht unruhig, er wachte öfter als sonst, weinte mehr, brauchte häufiger ihren Zuspruch. Als es schließlich begann, Morgen zu werden, fühlte Siv sich wie gerädert. Selten nur war sie zum Schlafen gekommen, und in diesen wenigen Phasen war sie selbst unruhig gewesen und hatte geträumt, so dass es im Grunde fast einer Erleichterung gleich kam, wenn Finn sie wieder weckte, wäre sie nicht irgendwann so müde gewesen. Erst irgendwann in der zweiten Hälfte der Nacht waren sowohl Finn als auch Siv ruhiger geworden und hatten beide ein bisschen besser geschlafen, und irgendwann vor Morgengrauen hatte sie ihn noch einmal gestillt. Als Siv das erste, schwache Tageslicht zwischen den Vorhängen hereinfallen gesehen hatte, hatte sie überlegt, aufzustehen, aber dann hatte sie sich doch hingelegt, neben Finn, der – friedlich diesmal – wieder eingeschlummert war. Und auch ihre Augen waren wieder zugefallen, ihr Körper abschirmend, schützend vor dem kleinen Bündel Mensch, das ihr Sohn war.


    Sie hörte das leise Klopfen nicht, noch bemerkte sie, wie sich die Tür daraufhin öffnete und jemand eintrat. Erst nach und nach wurde ihre Atmung leichter, oberflächlicher, verriet, dass sie langsam aufwachte. Ein leises Seufzen hob ihre Brust, als sie schließlich ganz aus den Tiefen des Schlafs auftauchte. Einen Augenblick lang musterte sie ihren Sohn, und ein angedeutetes Lächeln huschte über ihre Züge, während sie ihm sacht über den Kopf strich. Dann drehte sie sich um und hob gleichzeitig den Oberkörper an – und erstarrte, als sie die Gestalt sah, die an dem Tisch saß. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie Corvinus, aber auch diese Erkenntnis trug nicht dazu bei, dass ihr Herzklopfen geringer wurde. Corvinus. Sofort fiel ihr der gestrige Abend wieder ein. Wie er gekommen war. Wie sie sich umarmt hatten. Wie sie angefangen hatten zu diskutieren. Zu streiten. Mal wieder. Siv setzte sich ganz auf, darauf bedacht, keine zu großen Bewegungen zu machen, die Finn stören könnten, angelte sich den Becher Wasser, der neben ihrem Bett bereitstand, zog dann die Knie an ihren Körper und schlang ihre Arme um die Beine. "Morgen", murmelte sie, bevor sie einen Schluck trank. Verzeih mir, hatte er gestern gesagt, bevor er gegangen war. Was wollte er nun hier? Ihr mitteilen, dass er sich getäuscht hatte? Dass er einen Fehler gemacht hatte, als er sie zurückgeholt hatte? Dass sie doch gehen musste? Siv wurde kalt. Immerhin, es musste etwas Wichtiges sein, wenn er hier war, anstatt zu arbeiten. Oder hatte er sich diesen Tag ohnehin frei genommen? "Was…" Irgendetwas musste sie sagen, irgendetwas fragen. Aber jedes Wort, jede Frage kam ihr irgendwie… blöd vor. "Wie lange bist du hier? Du hättest mich wecken können."

  • Als Siv erwachte, saß ich mit ausgestreckten Beinen in meinem Sessel, das Kinn auf die Hand gestützt, und beobachtete sie. Verschlafen und müde sah sie aus, wie sie sich aufsetzte und meiner gewahr wurde. Sie nahm, ob bewusst oder unbewusst, eine Abwehrhaltung ein. Ich sah sie mit unbewegter Miene an, wie sie trank, den Becher dann in den Händen hielt und mich nicht länger ansehen konnte. "Eine Weile", sagte ich. Genau genommen hatte ich keine Ahnung, seit wann ich da war, wusste nur, dass diese Ruhe, das einfache Sitzen und Beobachten, mir gut getan hatte. Ich selbst war nun ruhiger - und merkte die Müdigkeit.


    Tief atmete ich ein, dann stand ich auf und ging zu ihr hin, um mich neben sie zu setzen. Ich nahm ihr den Becher fort und stellte ihn zurück, dann legte ich einen Arm um sie, zog sie zu mir, und schloss sie vollends in eine Umarmung ein, als ich auch den zweiten Arm noch dazunahm und um ihre Schienbeine legte. Finn lag schräg hinter uns und schlief selig. Ich lehnte meinen pochenden Kopf an ihren und schloss die Augen. Eigentlich gab es nicht viel zu sagen. Ich war noch nie der große Romantiker gewesen, denn Romantik war etwas für Verblendete, Liebe etwas für Schwache - zumindest wenn man sie offen zeigte. Ich hatte das bereits gelernt, damals, als ich mich um ein Haar bereitwillig verschenkt hätte. Seitdem waren solcherlei Gefühle tief vergraben, meine Meinung gebildet und endgültig, unumstößlich. Gefühle machten angreifbar. Und so kam nicht das, was Siv vielleicht erhoffte, sich vielleicht auch wünschte. Ich hatte ohnehin stets Probleme damit gehabt, mich dahingehend zu öffnen. Also beschränkte ich mich darauf, sie so zu halten und zu schweigen, auch wenn es vieles gegeben hätte, das sinnig zu sagen gewesen wäre.

  • Eine Weile also. Und er war nur da gesessen und hatte sie angesehen. Das hatte er noch nie getan, nicht dass sie sich erinnern könnte jedenfalls – im Gegensatz zu ihr. Vor allem an eine Gelegenheit konnte sie sich noch gut erinnern, bei der sie sich zu ihm geschlichen hatte, einfach nur um ihn anzusehen… bei der er dann wach geworden war. Siv verscheuchte die Gedanken an jenen Morgen, im Verlauf dessen er ihr mitgeteilt hatte, dass sie von nun an seine Leibsklavin sein würde. Sie hatte gewusst, was das hieß, damals, zumal es sich an die langen Wochen nach ihrer Rückkehr aus Germanien anschloss, in denen er kein Wort mit ihr geredet hatte. Sie verscheuchte den Gedanken und konzentrierte sich auf das kühle Nass, das ihre Kehle hinunterrann, bevor sie den Becher ein wenig absetzte und Corvinus wieder ansah, der sich in der Zwischenzeit erhoben hatte und sich auf sie zu bewegte. Siv rührte sich nicht, sagte nichts und tat nichts, als er sich dann neben ihr auf das Bett setzte, ließ ihm den Becher widerstandslos, als er ihn nahm um ihn abzustellen. Im nächsten Augenblick spürte sie seinen Arm um sich, spürte, wie er sie an sich zog, und allzu bereitwillig gab sie nach. Ihre Haltung lockerte sich ein wenig, während sie zugleich tief einatmete, ihre Hände legten sich auf seine Brust, und sie ließ sich halten. Einfach nur halten. Die Flavia kam ihr in den Sinn, und sie fragte sich, was mit ihr war. Was mit dem Versprechen war. Und dann verdrängte sie auch diesen Gedanken. Sie taten nichts. Corvinus hielt sie einfach nur fest, das war alles, das konnte doch unmöglich gegen dieses – so unsinnige und zugleich auch, vom Standpunkt der Flavia wohl, zugleich so sinnige und damit perfide – Versprechen, das er gegeben hatte, verstoßen. Sie bewegte sich ein wenig, verlagerte ihre Arme so, dass sie nun auch ihn halb umarmte, so gut das möglich war in ihrer augenblicklichen Haltung, während ihr Kopf an seiner Brust lag, eingebettet unter seinem Kinn, und ihre Beine halb auf seinem Schoß. Sie genoss diesen Augenblick, sie würde ihn am liebsten festhalten. Anfangen zu sprechen hieße wohl nur wieder, die nächste Diskussion anzuzetteln, und das wollte Siv nicht. Sie wollte nicht schon wieder mit Corvinus diskutieren, darüber, wie es weiter gehen würde, wie es überhaupt weiter gehen konnte so, oder über dieses Versprechen, das ihnen jede auch noch so winzige Möglichkeit raubte, zusammen zu sein und die Flavia dabei wenigstens einmal zu vergessen. Selbst jetzt konnte Siv nicht anders, als an sie zu denken, daran, ob nicht vielleicht doch diese Form von Beisammensein, von Berührung, zu weit ging angesichts des Versprechens, das Corvinus gegeben hatte. Siv wollte darüber nicht diskutieren. Sie wollte einfach nur bei ihm sein, und diesen Moment genießen, so lange er auch währen mochte.

  • Ohne es zu wissen, ging es mir nicht anders als ihr. Ich schwieg, weil ich es leid war, mit ihr zu streiten. Zumal über Dinge, die ich nicht zu ändern imstande war. Auf der anderen Seite hatte der Verlauf des heutigen Morgens alles verändert. Ich fühlte mich ob dessen immer noch wie gerädert und kaum zu einem klaren Gedanken fähig. Es tat gut, sie an meiner Brust zu wissen, zu wissen, dass ihr diese kleine Geste ebenso gut tat wie mir selbst. War dort zuvor noch dieser zerfaserte Krater gewesen, so verschloss Siv ihn schlicht mit ihrer bloßen Anwesenheit. Und doch war es mir bald ein Bedürfnis, etwas zu sagen.


    "Sie ist hinfällig", sagte ich. "Die Abmachung." Kurz überlegte ich, ob ich den Rest ebenfalls erzählen sollte, entschloss mich dann jedoch dagegen. Siv hatte gestern schon alles andere als glücklich gewirkt, und war es nicht besser, wenn man alles daran setzte, geliebten Personen Leid zu erparen, wenn man es konnte? Solange sie keine dahingehende Frage stellte, würde ich diesen Teil vorerst für mich behalten, auch wenn sie mich vielleicht hinterher dafür umso mehr verachtete. Ich berührte mit den Lippen flüchtig ihren Schopf, zog sie noch etwas näher zu mir heran. "Bleib bei mir." Denn was geschehen würde, wenn sie ging, konnte ich erahnen. Ich würde wohl den letzten Rest Emotion verlieren, ihn so tief in mir wegsperren, dass ich ihn selbst nicht mehr wiederfinden würde.

  • Hinfällig. Die Abmachung sei hinfällig, sagte er. Siv rührte sich nicht, blieb an seine Brust gelehnt sitzen und starrte ins Nichts, während sie die Worte auf sich wirken ließ. Sie lauschte in sich hinein und hörte das Echo, das sie in ihr hervorriefen… aber es traf auf keinen Widerstand. Es schien einfach nur zu hallen, ins Leere. Sivs Augen begannen, ein wenig trocken zu werden, weil sie so lange ohne zu blinzeln vor sich hin starrte. Es war nicht die Abmachung an sich, realisierte sie. Es war die Tatsache, dass er sie überhaupt getroffen hatte – noch dazu ohne offenbar dabei an sie, Siv, zu denken. Es war die ganze Situation, die dahinter stand, die überhaupt dazu geführt hatte. Er war nun einmal verheiratet. Daran gab es nichts zu rütteln, und daran würde sich nichts ändern. Er würde auf seine Frau Rücksicht nehmen müssen, und mehr als das, wie die Tatsache zeigte, dass er sich auf diese Abmachung eingelassen hatte. Und sie… sie würde die Flavia niemals aus dem Kopf bekommen. Dieses unselige Versprechen, das sie gefordert hatte, war nur das deutlichste Zeichen gewesen, aber dass es nun hinfällig war, änderte nichts daran, dass Siv die Flavia nicht würde vergessen können. Als sie noch Sklavin gewesen war, als sie noch nicht hatte gehen können wie es ihr beliebte, und als die Flavia noch nicht Bescheid gewusst hatte… da war es ihr noch möglich gewesen, Celerina zu verdrängen. Die Flavia hatte nichts davon gewusst, dass Siv und Corvinus mehr verband, und davon abgesehen war es letztlich normal, dass Römer nicht nur das Bett mit ihren Frauen teilten, das wusste Siv. Und sie hatte Corvinus geholfen, hatte ihre Pflichten als Leibsklavin erledigt, die naturgemäß dazu geführt hatten, dass sie Zeit miteinander verbrachten. Aber nun… war es anders. Wenn sie nun Zeit miteinander verbrachten, würde es nach keinen Vorwand geben. Mehr noch, wenn sie Zeit miteinander verbringen wollten, würden sie – er vor allem – bewusst diese Entscheidung treffen müssen, jedes Mal. Siv konnte nur ahnen, wie schwer ihm das wirklich fallen würde. Es war ihm ja bisher schon nie wirklich leicht gefallen, Grübeleien und Gewissen beiseite zu schieben und einfach mit ihr zusammen zu sein, und seit er verheiratet war, schien es nahezu unmöglich geworden zu sein. Und jetzt wusste die Flavia Bescheid. Wusste, dass ihr Mann nicht nur das Bett mit ihr geteilt hatte, sondern dass da mehr war. Jetzt war Siv frei, und er hatte sie dennoch zurück geholt und wollte sie bei sich haben. Und so wenig Siv der Flavia tatsächlich ihre Ehe verderben wollte, so wenig sie ihr irgendetwas von ihren Privilegien oder sonst etwas wegnehmen wollte, und so wenig sie glauben konnte, dass dieser Frau tatsächlich an Corvinus gelegen war – dem Mann, nicht dem Senator mit all den Vorzügen, die seine Familie und seine Stellung mit sich brachten –, so sehr wusste sie, dass Celerina sie kaum in Ruhe lassen würde. Wenn diese Abmachung hinfällig war, würde bald die nächste Forderung kommen, und Corvinus würde nachgeben, bis zur Schmerzgrenze und darüber hinaus, weil es in seiner Natur lag. Weil er ein schlechtes Gewissen hatte. Weil er es der Flavia Recht machen wollte. Und weil die Flavia trotz allem, was er für Siv empfinden mochte, einen deutlich höheren Stand hatte als sie. Mehr wert war in dieser Welt. Nein, Siv würde Celerina nicht mehr verdrängen können, wenn sie mit Corvinus Zeit verbrachte. Und er würde das ebenso wenig können, da war sie sich sicher.


    Sivs Hand verkrampfte sich für einen Augenblick in den Stoff über Corvinus’ Brust. Sie musste an den gestrigen Abend denken. Wie soll das gehen, hatte sie ihn gefragt, und sie hatte immer noch keine Antwort darauf. Außer der, die er ihr gestern gegeben hatte, und die gerade deshalb, weil sie im Grunde keine Antwort war, doch eine darstellte. Verzeih. Nun, endlich, schloss Siv die Augen, und für einen Moment kämpfte sie mit den Tränen. Der Grund, warum weder sie noch er eine Antwort auf diese Frage hatten, war der, dass sie die Antwort eigentlich kannten – aber sie nicht hatten wahr haben wollen, begriff sie. Es ging nicht. Es ging einfach nicht. Corvinus würde sich niemals so sehr gehen lassen können, dass er alles andere einfach verdrängte, wenn er bei ihr war. Sie wollte ja gar nicht, dass er ständig für sie da war, das würde ihr sogar sehr schnell zu viel werden – aber sie wollte, dass sie seine Aufmerksamkeit hatte, seine ganze, wenn er denn bei ihr war. Dass er sich dann, in diesen Momenten, nur ihr widmete. Und das konnte er nicht, nicht seitdem klar war, was sie verband. Und sie… sie hatte nichts mehr, hinter dem sie sich verstecken konnte. Sie war keine Sklavin mehr. Sie konnte sich nicht mehr einreden, dass sie gar keine Wahl hatte als zu bleiben und ihn und die ganze Situation so zu akzeptieren, wie sie nun einmal war. Sie konnte sich nicht mehr einreden, dass es keine Rolle spielte, wonach sie sich eigentlich sehnte, dass es keine Rolle spielte, dass sie mehr wollte, von ihm, mehr als er ihr geben konnte… Sie war keine Sklavin mehr, auch nach römischem Recht nicht, sie war frei. Frei. Und das hieß auch, dass sie Verantwortung übernehmen musste für ihre Entscheidungen, und diese nicht abwälzen konnte auf irgendwelche Umstände – oder Vorwände. "Ich kann nicht", wisperte sie schließlich. Sie presste die Lider aufeinander und ihren Kopf gegen seine Brust, dann löste sie sich von ihm, richtete sich auf, zog sich zurück, bis sie sich nicht mehr berührten. "Es geht nicht, Marcus. Ich kann das nicht."

  • Die Zeit, die verging - sie erschien mir endlos. Jede Sekunde des Schweigens dröhnte in meinen Ohren wie laute Paukenschläge. Der Drang, etwas zu sagen, erwuchs mit jedem Atemzug, obgleich ich nicht wusste, was zu sagen war. Siv freute sich nicht. Sie zeigte keine Reaktion. An ihrer statt hätte ich mich wohl auch nicht gefreut, dafür war diese Mitteilung, die ganze Situation schlichtweg zu verdreht und abstrus, und doch hatte ich zumindest mit Erleichterung gerechnet. Doch da war nichts, sie zeigte...nichts, und wenn ich überhaupt sicher sein konnte, etwas auf ihrem Antlitz zu erkennen, so war es Schmerz. Und damit gab Siv mir ein unlösbares Rätsel auf, denn ich wusste nicht, worauf sich dies bezog. War es die Situation? Celerina? Gar ich selbst? Ich lockerte meine Umarmung, unfähig, Sivs Reaktion zu verstehen. Zum ersten Mal bereute ich insgeheim, Siv die Freiheit geschenkt zu haben, obgleich dieser Gedanke egoistischer nicht hätte sein können, denn ich hatte es unseres Sohnes wegen getan und sollte darob nicht bereuen. Und doch tat ich es, und dieses Selbsteingeständnis schnürte meine Kehle zu. Es war um so vieles einfacher gewesen, damals. Früher. Es schien so weit zurück zu liegen, dass ich nurmehr aus vager Erinnerung daran zehren konnte. Der Abend im Garten, als ich Siv das Silberpferchen schenkte. Die gemeinsamen Stunden frühmorgens, wenn sie neben mir aufwachte. Irgendwie mogelte sich dort auch die Erinnerung an das Gespräch mit Prisca hinein, die beschämende Unterhaltung, bei der ich mich vergessen und die dennoch den Ausschlag gegeben hatte für dies hier.


    In jenem Moment zuckte Siv zurück, löste sich allmählich von mir, immer mehr, immer weiter, bis sie neben mir saß und mich nicht anzusehen wagte. Ein aufdringlicher Kloß versperrte meinen Hals, ich fühlte mich, als konte ich nurmehr schwerlich atmen. Das hier fühlte sich nicht richtig an, es war schwerer als alles zuvor, schmerzhafter, als ich jemals in Bezug auf Siv gefühlt hatte. Es war, als hätte sie mir mit dem Fortrücken auch die schwelende Wunde wieder aufgerissen, als sei sie nur notdürftig geflickt, nicht aber geheilt worden. Die Stille brauste, einem Crescendo gleich - bis Siv schließlch etwas sagte und mich diese Worte, äußerlich gefasst, innerlidh doch trafen wie ein Vorschlaghammer. Ich schwieg, blickte sie mit scheinbarer stoischer Gelassenheit nur an, obgleich sich mein Innerstes konfuserweise aufbäumte wie ein bockendes Pferd, das einer Brandmarkung zu entfliehen suchte. Im ersten Moment war ich unfähig zu sprechen. Im nächsten wechselten sich Wut und Aufgebrachtheit ab - hatte ich nicht alles versucht, was mir möglich war? -, im darauf folgenden waren die Wogen geglättet und ich fühlte...nichts. Da war nichts mehr, ich war nichts mehr. Unter größter Anstrengung gelang es mir, zu blinzeln, noch größer schien mir der Kraftaufwand, den ich zum Drehen des Kopfes benötigte, um den Blick dem Tisch zuzuwenden und Sivs Ausdruck nicht sehen zu müssen. Ich kannte sie, und sie kannte mich wohl besser als ich mich selbst so manches Mal. Siv war niemand, der berechnend spielte, sie unterschied sich nicht nur darin von Celerina. Wenn sie also so etwas sagte, dann hatte sie einen Grund. Dann meinte sie es ernst. Ich versuchte, sie zu verstehen, doch ging mir im Kopf herum, dass ich doch alles versucht hatte, um die Situation zu ändern. Jeden einzelnen Streit, jede schier unerträgliche Situation zwischen Celerina und mir hatte ich ihretwegen ausgefochten. Sie wusste das, sie musste sich dessen bewusst sein. Und auch, wenn ich mich selbst so weit unter Kontrolle hatte, ihr nicht zu zeigen, wie sehr es mich wirklich traf, so war ich doch nicht imstande, es gänzlich zu verschleiern. Mein Blick wirkte verkniffen, ich selbst zum Zerreißen gespannt. Kläglich und ärmlich fühlte ich mich dabei, obgleich ich so gewiss nicht aussah. Und doch war es so, wurde ich das Gefühl nicht los, machtlos zu sein, das sichere Halteseil verloren zu haben und mich im freien Fall zu befinden. Es vergingen Momente, die sich zu einer Ewigkeit aneinander reihten, Augenblicke, in denen ich mit mir selbst haderte und doch gedankenlos vor mich hin starrte, bis ich es nicht mehr aushielt, tatenlos zu sitzen und zu starren. Rückzug oder Konfrontation? Die Entscheidung fiel mir unerwarteter Weise regelrecht leicht. Steif erhob ich mich, einem Gladiator auf verlorenem Posten gleich, wandte mich in unendlicher Langsamkeit Siv zu, griff nach ihren Händen und zog sie in den Stand, ohne dass sie eine andere Möglichkeit zur Reaktion hatte, außer aufzustehen. Ich verfluchte mich selbst dafür, für die Art, in der ich ihre Finger hielt, und für den Blick, mit dem ich sie bedachte und der mehr denn je all das ausdrückte, was in mir einen bunten Reigen tanzte, als ich noch nicht einmal jetzt etwas hervorwürgen konnte, das ich Siv noch niemals zuvor gesagt hatte.

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