Unser Leben war nie einfach gewesen. Jeder Tag forderte von uns aufs Neue, um unser Überleben zu kämpfen. Sei es, damit wir genug zu essen hatten und den nächsten Winter überstanden , oder immer ein Dach über dem Kopf hatten. Oder damit wir in Freiheit leben konnten, so wie es schon unzählige Generationen vor uns getan hatten.
Beschaulich konnte man unser Leben dort unten im Tal gewisslich nicht nennen. Auch wenn wir vieles hatten und in unseren Traditionen lebten, so war es dennoch vom Erfolg der Jagd abhängig, ob das Leben nur mäßig gut oder überschwänglich war. Wenn alle satt und zufrieden und die Vorräte für den Winter gesichert waren, dann sah man gelassener auf das, was sich weiter südlich schon seit einigen Jahren abspielte, dort, wo die Fremden waren. Ab und an waren sie auch ihrem Dorf gefährlich nah gekommen. Doch bis zu jenem Tag hatten sie es nie gewagt, ernsthaft ihren Frieden zu stören. Dann aber kamen sie, mit all ihrer Macht und ihrem Willen zu zerstören.
Wir wehrten uns erbittert gegen eine Streitmacht, der wir zahlenmäßig unterlegen waren. Wir kämpften um unser Land, unser Leben und das Recht, so zu leben, wie unsere Ahnen es schon zuvor getan hatten . Nicht zuletzt kämpften wir für und unsere Freiheit, damit uns nicht das gleiche Schicksal traf, wie die unterjochten Stämme des Südens. Alle, die gesund und stark waren, griffen zu den Waffen. Selbst die Frauen. Selbst auch ich.
Aber an diesem Tag hatten uns die Götter verlassen. Sie ließen uns allein, im Blut und Elend. Nichts blieb übrig. Die Fremden töteten das Vieh, brannten unsere Hütten nieder, zerstörten unseren heiligen Ort und töteten all die, die ihnen nicht mehr nützlich sein konnten...
Der alte karierte Fetzen, der mir bisher als Decke gedient hatte, war von meiner Schulter gerutscht. Als ich zu frieren begann, schlug ich doch wieder die Augen auf. Immer noch war es Nacht. Es kam mir vor, als nähme sie kein Ende mehr, diese Nacht. Die fahlen Gesichter der Toten, selbst bis hier hin verfolgten sie mich. Jede Nacht kamen sie aufs neue. Dann sah ich sie wieder vor mir. Niemand war zurückgeblieben, der sie hätte bestatten können. Ihre Gebeine waren dazu verdammt, zu vermodern. Ihr Fleisch ein Fraß für die Krähen. Und mir war nichts mehr geblieben, außer meinen Erinnerungen an jenen schrecklichen Tag. Alles andere war zerstört oder geraubt worden.
Meine Finger zupften den Stoff wieder über meine Schultern. Dann schlang ich den Fetzen noch dichter um mich, damit er mehr Wärme abgab. Ich brauchte meinen Schlaf. Morgen musste ich wieder präsent sein. Denn dann würde über meine Zukunft entschieden werden.
Allzu viele Hoffnung machte ich mir nicht, was die betraf. Eigentlich war ich schon tot. Mein Körper war nur eine leere Hülle, die man seit Monaten kreuz und quer durch das ganze Reich unserer Feinde geschleppt hatte.
Ich wusste, was auf mich erwartete. Oft genug hatte ich die Prozedur von weitem beobachtet. Man wurde auf ein paar erhöhte Holzbretter gezerrt und wurde von der umstehenden Menge begafft. Letztendlich musste man mit dem gehen, der am meisten bot.
Vor dem Augenblick, wenn sie mich holen würden, hatte ich Angst. So sehr, dass ich nächtelang nicht schlafen konnte. Bisher hatte ich immer Glück gehabt. Doch ich spürte es, morgen würde es mich treffen. Morgen…
Schon kurz nachdem die Herbstsonne aufgegangen war, herrschte schon ein reges Treiben in der Stadt. Einige Stunden später hatte man die ersten von uns hinaus gezerrt. Nahezu gleichgültig sah ich zu, wie aus einst freien Menschen, Sklaven wurden. Solange sie da draußen standen, war ich in Sicherheit. Aber dann kamen sie, um mich zu holen.
Das letzte Flämmchen Widerstand leuchtete in mir auf, bevor es für immer erlosch. Ich wehrte mich, lehnte mich auf, schlug um mich und zerkratzte alle, die mir zu nahe kamen. Aber auch das konnte mich nicht davor bewahren, dort oben zu landen.
Einem verängstigtem Tier gleich, sah ich auf die Menge und die Menge sah auf mich. Noch nie hatte ich so viel Angst, wie in diesem Moment.