Bibliotheca | Dicetur merita Nox quoque nenia

  • Schon kurz nachdem er sich aufgrund des herbstlichen Gewitters von Axilla getrennt hatte, trat Flaccus, nunmehr in eine dunkelblaue Tunika, die an den Rändern kunstvoll mit Goldfäden durchwirkt war, gekleidet, in die Bibliothek. Ganz wie erwartet, war Axilla noch nicht hier, sondern vermutlich noch mit dem Ankleiden und der Beseitigung der feuchten Spuren des Gewitters beschäftigt, wobei ihr Aglaia, die griechische Sklavin, die Flaccus damit betraut hatte, Axilla zur Hand zu gehen und für ihr Wohl zu sorgen, hoffentlich tatkräftig zur Seite stand. Der junge Flavier trat an die Bücherregale und fuhr mit der Hand sachte über die Kapseln, in denen die Schriftrollen aufbewahrt wurden. Die flavische Bibliothek war gut ausgestattet und ließ selbst für so anspruchsvolle Leser, wie Flaccus zweifelsohne einer war, kaum Wünsche offen. Von den Epen Homers bis hin zu den jüngsten epistolographischen Publikationen eines C. Plinius Caecilius Secundus war die Bibliothek Hort nahezu aller bedeutender griechischer und römischer Literatur. Ein Menschenleben mochte kaum ausreichen um die unermesslichen Schätze allesamt gründlich zu studieren, so überwältigend war allein die Quantität der Werke. Nachdem er ein wenig den Atem der alten Schriften geatmet, den einen oder anderen Papyrus kurz aus seiner Kapsel befreit hatte, um nachzusehen, ob der Beginn des betreffenden Werkes noch richtig in seinem Kopf verankert war, ließ Flaccus sich auf der Sitzgruppe im hinteren Teil des Raumes, die lediglich zwei Klinen um einen kleinen runden Tisch ausmachte und in ihrer Position mitten zwischen den Bücherregalen einer kleinen Lichtung in einem dichten Wäldchen glich, nieder und machte es sich bequem. Einige Pflanzen, die in kleinen Töpfen geschmackvoll um die Sitzgruppe gruppiert waren, verfeinerten den Anblick und vermochten noch einen Hauch der Atmosphäre des Hortus widerzuspiegeln.

  • Flaccus musste eine ganze Weile warten, denn es dauerte, bis Axilla trocken und umgezogen war. Die arme griechische Sklavin brachte ihr zwar sehr schnell eine Tunika, aber Axilla war bis auf die Knochen durchweicht und konnte nicht nur eben schnell etwas anderes anziehen. Um ihre Haare trocken zu rubbeln, mussten zunächst alle Haarnadeln aus der Frisur entfernt werden, und die filigranen Sternchen wehrten sich ein wenig. Ihr Kleid klebte auch am Körper, und weil Axilla kalt war, musste auch ein Feuer in einer der Kohlebecken entzündet werden. Die Sklavin war so zuvorkommend und fragte sogar, ob Axilla baden wollte, um sich aufzuwärmen, aber das wäre doch zuviel geworden.
    So trocknete sie sich nur sehr, sehr, SEHR gründlich ab und ließ sich dabei auch selbstverständlich helfen. Allerdings mussten danach ihre Haare, die wild in alle Richtungen nun abstanden, zumindest gekämmt werden. Und das war es, was die meiste Zeit in Anspruch nahm, obwohl Axilla sich noch nicht einmal neu frisieren ließ. Die neue Tunika dann anzulegen und der Sklavin ihr Kleid zum Trocknen mitzugeben war dann schnell erledigt.


    Der Weg in die Bibliothek war dann aber doch irgendwie außerordentlich lang. Zumindest für jemanden, der ungeschminkt, unfrisiert und in einer Männertunika gekleidet durch ein patrizisches Haus schlich und die ganze Zeit zu sämtlichen Weggottheiten der Welt betete, nicht unfrisiert, ungeschminkt und in einer Männertunika gekleidet von einem patrizischen Hausbewohner getroffen zu werden. Vielleicht war die Idee, die eben noch gut geklungen hatte, doch ein klein wenig zu unorthodox, und sie hätte vielleicht doch eher nach Hause gehen sollen. Und sobald der Regen aufgehört hätte, würde Axilla auch genau das tun und ihr Glück nicht weiter herausfordern. Aber jetzt huschte sie erst einmal in die Bibliothek, wo Flaccus bereits auf sie wartete.
    “Ich hoffe, du musstest nicht zu lang warten“, begrüßte sie ihn unsicher. Sie wusste, wie sie aussah. Und auch, wenn es sie absolut nicht störte, nicht fein frisiert zu sein – ihre leicht lockigen Haare gingen ihr halbtrocken einfach bis in den Rücken – und nicht fein gekleidet – auch wenn Flaccus eine sehr schöne Tunika für sie hergegeben hatte. Er war einfach doch mindestens einen Kopf größer als sie, so dass man sah, dass die Tunika zu groß war. Auch wenn er nicht muskulös war, so dass sie nicht in dem Kleidungsstück schwamm. Auch wenn es Axilla also nicht störte, sie wusste beim besten Willen nicht zu sagen, ob es auf Flaccus nicht einen falschen Eindruck machen würde.

  • Was auch immer im Empfinden der Iunia ein falscher Eindruck gewesen wäre, den ihr Erscheinungsbild auf den jungen Flavier, der, auf einen Ellbogen gestützt, ihr Kommen schon gespannt erwartet hatte, machen hätte können, Flaccus fand sie, ungeschminkt, unfrisiert und in eine Männertunika - in seine Tunika! - gekleidet, wie sie war, immernoch entzückend. Wiewohl auf ganz andere Weise als zuvor, waren die ehemals offenkundigen Parallelen zur überirdischen Erscheinung etwa einer Nymphe mittlerweile doch eher latent (und doch blieben ihre grünen Augen!), fand er ihren Anblick in gleichen Maßen bezaubernd wie, auf geschwisterliche Weise, liebenswert.


    "Oh nein ... Und wie du siehst...", er wies mit einer allumfassenden Geste um sich, " ... war ich ja in bester Gesellschaft." Mit einem freundlichen Lächeln lud er Axilla ein, näher zu treten. "Und jetzt lass dich mal ansehen!", er ließ seinen Blick an ihr hinunterwandern - wie erwartet war ihr seine Tunika um einiges zu groß, wiewohl es ihr hier zum Vorteil zu gereichen schien, dass Frauen ohnehin pflegten die Tunika länger als Männer zu tragen - insgesamt war ihr Erscheinungsbild allerdings tatsächlich akzeptabel und somit besser, als Flaccus bei ihrer Forderung, eine seiner Tuniken zu bekommen, erwartet hatte. Langsam ließ er seinen Blick wieder zu ihrem Antlitz wandern, das durch den Regenguss zwar die Schminke verloren, aber dafür ein ordentliches Maß an natürlicher Schönheit, die im Grunde ja viel mehr wert war, als alle Schminke der Welt, gewonnen hatte. Insgesamt schien es ihm, als ob die Iunia durch das Gewitter noch einige andere Hüllen fallen gelassen hätte. So war ihm im Garten, am Beginn des Nachmittags eine Dame gegenübergestanden, in ihrer Erscheinung noch an die Nymphe von ihrer ersten Begegnung erinnernd, wiewohl bereits in scheinbar gezähmten Rahmen gepresst, während nun, in der Bibliothek, lediglich, ausschließlich und nur mehr eine junge Frau vor ihm stand, fast noch ein Mädchen: Axilla.


    "Oh, entschuldige, setz' dich doch!", für einen Moment in solcherlei Gedanken versunken, schien Flaccus ganz seine Zuvorkommenheit als Gastgeber vergessen zu haben. "Ich hoffe Aglaia hat sich ordentlich benommen?", im Grunde erwartete er nichts anderes von seinen Sklaven, aber einmal nachzufragen konnte nicht schaden.

  • Vor allem war es wohl dann eine sehr ungesprächige und von toten Geistern beseelte Gesellschaft gewesen. Auch wenn Axilla Bücher wirklich mochte, und auch, wenn sie die Größe der flavischen Bibliothek jetzt schon bewunderte. Hier hatte sich jemand wirklich Mühe gegeben, viele Werke zu sammeln.
    Als er sie aufforderte, sich einmal anschauen zu lassen, sah Axilla ihn ein wenig unsicher an. Einen Moment schien sie schüchtern zu erstarren, dann aber zuckte sie die Schultern und machte auf den Fußballen eine langsame Pirouette. Wenn er sie schon bewundern wollte, dann sollte er sie von allen Seiten begutachten. Die Tunika ging ihr bis knapp über die Knie, ihre Unterschenkel waren blank. Ihr linker zeigte noch das Efeumuster, das sie sich wenige Tage vorher für die Sponsalienfeier hatte machen lassen. Und der Ausschnitt war ein wenig zu groß, so dass immer wieder eine Schulter leicht freirutschte, ehe Axilla das Kleidungsstück wieder zurechtziehen konnte. Aber Axilla machte sich nichts daraus und ergab sich der Perfektion des Unperfekten. Ändern konnte sie sowieso nichts daran, und Flaccus schien es, zumindest im Moment, auch nichts auszumachen. Warum sich also den Kopf unnötig darüber zerbrechen?


    “Ja, sie war mir wirklich eine große Hilfe. Sehr nett und freundlich.“
    Nach seiner Aufforderung setzte sie sich, und diesmal vergaß sie ganz den gesitteten Eindruck, den sie eigentlich hatte machen wollen. Angetan in einer zu großen Tunika und mit offenen, nicht gänzlich trockenen Haaren fiel es einfach schwer, etwas zu sein, was man nicht war. Und Axilla war nunmal niemand, der allzu streng mit sich selbst war, was die Etikette anging. Sie setzte sich bequem auf ein untergeschlagenes Bein und ließ ihren Blick durch die Bibliothek gleiten. “Du hast nicht übertrieben, ihr habt wirklich viele Schriften hier.“

  • So ungesprächig und tot die sich auf den Regalen stapelnden Papyri der Iunia auch erscheinen mochten, Flaccus selbst konnte sich tatsächlich kaum bessere Gesellschaft wünschen, wer schließlich vermochte schon mit Recht von sich zu behaupten, mit Homer, Vergil, Cicero, Ovid, Horaz und all den anderen klugen Köpfen der letzten Jahrtausende in einem Raum zu verweilen? Auf seine freundliche Aufforderung hin, sich doch etwas begutachten zu lassen, schien Axilla zunächst fast schüchtern zu erstarren, ein Umstand, den Flaccus bei dem aufgeweckten Geist der jungen Frau und dem blöden Herumalbern von vorhin gar nicht mehr erwartet hätte, schließlich kam sie seiner Aufforderung allerdings doch nach und vollführte eine langsame Pirouette, die wohl, ebenso wie ihr gesamtes Auftreten und Erscheinungsbild, ein gewisses Maß an scheinbar übernatürlicher Grazilität zugunsten einem gehörigen Maß an liebenswerter Natürlichkeit verloren hatte. Alles in allem schien die Tunika wohl ein wenig zu groß, machte aber dank der ohnehin schlacksigen Figur des jungen Flaviers auch an Axilla keinen allzu schlabbernden Eindruck. Ganz im Gegenteil besaßen die etwas zu großen Stoffteile die angenehme Eigenschaft, immer wieder den einen oder anderen Teil von Axillas Körper, vornehmlich ihre zarten Schultern, zu entblößen und somit anregende Anblicke zu bieten. Auch das, wiewohl mittlerweile verblasste, ihren linken Unterschenkel zierlich emporrankende Efeumotiv, war noch erkennbar und unterstrich den auf süße Weise anziehenden Gesamteindruck der jungen Frau. Die Unperfektion in ihrem äußeren Erscheinungsbild, ihre Haare waren noch nicht einmal gänzlich trocken, sondern fielen lockig bis in den Rücken herab, würde wohl auch, so hoffte Flaccus zumindest, den Rahmen in einen freundschaftlicheren, einen vertrauteren, wandeln und die Stimmung lockern. Auch er selbst hatte natürlich die Toga, die er zuvor, wohl einfach aus praktischen Gründen, war er doch vor dem Treffen im Garten direkt vom Capitol und seinem Unterricht in kultischen Belangen gekommen, sozusagen aus den Händen der einen Iunia in die der nächsten laufend, noch getragen hatte, abgelegt und gegen die einfache, wiewohl in ihrer Ausführung durchaus ansehnliche dunkelblaue Tunika getauscht, um auf diese Weise die nunmehr gelockerte Atmosphäre zu unterstützen.


    Dass Aglaia sich offenbar von ihrer besten Seite gezeigt hatte, freute Flaccus und veranlasste ihn, der jungen Sklavin noch ein paar Worte zu widmen. "Ja, sie war sicherlich ein wahrer Glücksgriff. Du musst wissen sie stammt aus einer griechischen Sklavenfamilie und hat schon früh für eine Sklavin ungewöhnlich viel Bildung erhalten. Sie kann auch ausgezeichnet singen und tanzen. Außerdem, doch da musst du wohl eher die Frauen im Haus fragen, scheint sie ein wahrhaft geniales Händchen im Umgang mit Stoffen zu haben. Auch wenn ihr Geschmack was Frisuren betrifft ...", mit gespielt skeptischem Blick und einem schelmischen Lächeln musterte Flaccus die ungekämmten Haare Axillas, wohlwissend, dass für eine kunstvolle Frisur schlichtweg keine Zeit gewesen war, und die Iunia sie wahrscheinlich auch gar nicht verlangt hatte, " ... etwas ausgefallen zu sein scheint."


    Axilla hatte es sich mittlerweile, der Aufforderung des jungen Flaviers nachkommend, bequem gemacht, was Flaccus erfreut zur Kenntnis nahm, kam sie damit doch seiner Intention entgegegen, die Etikette nun endgültig zu lockern, wenngleich natürlich nicht vollständig aufzuheben, schließlich war Flaccus in manchen Dingen durchaus konservativ, sodass er zum Beispiel nie auf die Idee käme, sich selbst, schon gar nicht in Anwesenheit einer Dame, zu betrinken. Bacchus war ein schelmischer Gott, der den Menschen, die ihm allzu sehr zusprachen, oft überaus böswillige Streiche spielte. Außerdem war es doch barbarisch, sich zu betrinken, und widersprach dem so hellenischen Gemüt des Flaviers von Grund auf. Auf ihre Anspielung hin folgte Flaccus Axillas Blick und ließ jenen um sich schweifen, wenngleich ihm der Anblick, den die Bibliothek bot, natürlich nur allzu bekannt war. "Ja, den Göttern sei Dank, ich hatte schon gefürchtet mich von meinen geliebten Büchern verabschieden zu müssen, als ich nach Rom aufgebrochen bin." In der Tat wäre ihm der Verlust all der teuren Freunde, die er mittlerweile unter den Literaten gefunden hatte, wohl schlecht bekommen.

  • Flaccus erzählte von Aglaia und ihrer Bildung, und Axilla hörte zu, während sie ihre Gedanken schweifen ließ. Die meisten Sklaven, die sie je besessen hatte, hatten schon immer zum Hause Iunia gehört, und Axilla hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, ob das nun Glück oder weniger war, dass sie da waren. Sie gehörten zur familia. Sie beteten zu den iunischen Ahnen und opferten am Hausaltar. Sie hatte sich nie darum Gedanken gemacht, ob das nun gut oder eher weniger gut war. Egal, ob es nun die gebildeteren oder die ungebildeteren betraf. Sie waren... einfach da. Schon immer da gewesen. Axilla hatte nur zwei Sklaven in ihrem Leben selber gekauft. Den ersten hatte sie verschenkt, und der zweite war ihr Custos Corporis. Sie wusste nichtmal, auf was sie achten sollte, sollte sie noch Sklaven benötigen. Aber da war es auch mal ganz bequem, dass sie sich darauf hinausreden konnte, eine Frau zu sein, und solche Entscheidungen notfalls auf die Männer abzuwälzen. Oder aber mit dieser Entschuldigung zu kommen, wenn sie sich vergriffen hätte. Wobei eher letzteres als ersteres, und beides bislang nicht vorgekommen war.
    Bei seiner Bemerkung zu ihrer Frisur brauchte es einen kurzen Moment, bis sie den Scherz verstanden hatte. Dann aber bekam Flaccus einen Klaps vor die Brust und ein gespielt eingeschnapptes Gesicht zu sehen. “Ach, ihr Männer habt davon doch absolut keine Ahnung. Das trägt man heutzutage so!“ Das auf die Worte folgende Lächeln aber machte jede gespielte Empörung wieder zunichte.


    Dann aber sagte Flaccus etwas seltsames. “Hast du deine Bücher denn nicht mitgenommen?“ Man reiste ja nicht so oft, und wenn man es tat, nahm man das, was man liebte, doch dann mit sich?

  • Die gespielte Empörung Axillas auf Flaccus' scherzhaften Kommentar zu ihrer Frisur quittierte jener nur mit einem breiteren Lächeln. Tatsächlich hatte er relativ wenig Ahnung von der aktuellen Mode in Rom. Bei genauerem Überlegung hatte er noch nicht einmal Ahnung von der aktuellen Mode in Athen und da hatte er immerhin die letzten drei Jahre verbracht. Es war wohl nicht die Sache, der Flaccus die meiste Aufmerksamkeit zuteil werden ließ. Bei seinem eigenen Erscheinungsbild achtete er lediglich darauf, einen angemessenen und würdigen Eindruck zu erzeugen, sodass er in modischen Belangen, sich selbst betreffend, wohl durchaus als konservativ zu bezeichnen war. In schrägen Outfits, dem letzten Schrei der Mode folgend, würde man einen Flavius Flaccus wohl kaum antreffen.


    "Die Bücher mitgenommen?", natürlich hatte er einige Werke, die wichtigsten, aus Paestum nach Rom gerettet, denn unter der Obhut seiner Mutter in Campanien würden sie wohl früher oder später verkommen. Aber die wenigen, die er mit sich genommen hatte, waren ja nur ein Bruchteil aus seiner großen Bibliothek, die bereits Nikodemos aufgebaut, und die er selbst durch kostbare Werke aus Griechenland ergänzt und erweitert hatte. Aber der Transport aller Bücher nach Rom hätte sich als gewaltige logistische Herausforderung dargestellt, außerdem war bei seinem Aufbruch in die Stadt ja noch gar nicht klar gewesen, ob er in Rom und bei der Familie würde bleiben können, schließlich hatte er es vorgezogen, gleich selbst vorzusprechen, anstatt einen Boten vorauszusenden. "Eigentlich nur die wichtigsten....", meinte er also und fügte noch hinzu: "Aber ich könnte die restlichen bei Gelegenheit holen, es sind ein paar ganz außergewöhnliche Werke darunter..." In der Tat waren es vor allem die philosophischen Schriften der Gegenwart, die er in Athen erworben hatte, und die in Italien zweifellos noch weitgehend unbekannt waren, die er als die möglicherweise exquisitesten Schätze seiner Bibliothek ansah. "Eigentlich wäre es ohnehin längst fällig, wieder einmal nach Hause zu reisen, schließlich sollte ich meiner Mutter ja auch persönlich erzählen, was für bezaubernde Bekanntschaften ich in Rom schon machen durfte ...", lächelnd blickte er in das dunkle Grün der Augen Axillas.

  • Axilla nickte eifrig bei seiner Rückfrage. Natürlich meinte sie das, sonst hätte sie nicht gefragt. Aber Flaccus antwortete ein wenig seltsam. Warum hatte er nur die für ihn wichtigsten mitgenommen, wo er doch umgezogen war? So hatte sie das zumindest verstanden bei allem, was er bislang erzählt hatte. Er hatte in Griechenland gelebt und gelernt, und jetzt, wo er fertig war, war er nach Rom gekommen, um seiner Familie zu Ehren zu verhelfen. Indem er den Cursus Honorum beschritt oder sowas. Bestimmt hatte sie ihn das schon gefragt, aber es war ihr wieder entfallen. Aber seine Aussage jetzt passte da irgendwie nicht so ganz dazu.
    Axilla war noch am nachgrübeln, als Flaccus ein Kompliment anbrachte. Zumindest glaubte Axilla, dass es eines war. Es klang fast, als wollte er mit ihr flirten. Und ganz automatisch wurde sie ein wenig rot.
    “Ach, du willst wirklich deiner Mutter von mir erzählen? Meinst du nicht, dass sie dir dann die Ohren lang zieht, weil sie etwas falsches denken könnte?“ Und so scherzhaft Axilla das auch sagte und so scherzhaft sie das im ersten Moment auch meinte, so unerbittlich traf sie im zweiten Moment die Erkenntnis, dass Flaccus vielleicht genau das hätte meinen können, was sie so angedeutet hatte. Ihr Lächeln gefror die Winzigkeit einer Sekunde, in der sie sich gleich ein wenig abwandte um die Bücher anzusehen. Und gleich darauf stand sie auch noch immer lächelnd auf – und nur die, die sie sehr gut kennen mochten, würden den Unterschied zu einem echten Lächeln sehen. Sie schlenderte zum nächsten Regal und ließ ihre schlanken Finger über die aufgestapelten Schriftrollenkapseln gleiten, einfach um abzulenken.
    Und wie immer, wenn sie sich mit einem schwierigen zu befassen gezwungen war, wechselte sie schleunigst das Thema. Bislang hatte sie damit nur gute Erfahrungen gemacht. “Und welche Werke hast du dann mitgenommen? Als ich umgezogen bin von Tarraco nach Alexandria, hab ich ja alle meine Bücher mitgenommen und stand nicht vor der Qual der Wahl.“ Allerdings hatten alle ihre Bücher auch in eine einzige Truhe gepasst.

  • Was fast so klang, als wollte Flaccus mit der jungen Frau, die ihm da in einer, ein paar Nummern zu großen Tunica, und mit langen braunen Haaren, die gewellt bis in ihren Rücken hinabfielen, gegenübersaß, und den jungen Flavier aus etwas naiv dreinblickenden smaragdgrünen Augen grübelnd musterte, flirten, mochte wohl ein Kompliment sein, war von Flaccus jedoch nicht mit auch nur irgendeinem so oder so gearteten Hintergedanken ausgesprochen worden, sondern stellte einfach eine, nun von Seiten des Flaviers etwas naive, Feststellung dar, dass er die Begegnung mit Axilla als eine bereichernde und sie selbst als eine bezaubernde junge Frau empfand. Nicht mehr und nicht weniger, wenn das nicht ohnehin schon genug war. Ihre Bemerkung, die auf seine eigene einging, die Flaccus Mutter ins Spiel gebracht hatte, ließ Flaccus lächeln. Gerade dann, wenn sie es falsch verstünde, würde sie ihrem Sohn wohl kaum die Ohren lang ziehen, sondern ihn vielmehr darin bestärken und ihm verkünden, dass er nun endlich zu einem richtigen Mann geworden war, und in Zukunft doch gefälligst seine langweiligen Bücher beiseite lassen sollte. Und doch ließ diese Überlegung das zuvor fast automatisch gformte Lächeln auf den Lippen des jungen Mannes erstarren. Glücklicherweise wandte sich Axilla in diesem Moment ab, um die Bücher anzusehen. Denn ihm war der ungeheuerliche Gedanken gekommen, dass seine Mutter es womöglich gar nicht falsch verstehen würde, sondern genau richtig... Konnte das sein? Flaccus musterte nachdenklich die Iunia, die sich mittlerweile erhoben hatte und an den Regalen vorbeischlendernd, ihre schlanken Finger über die Schriftrollenkapseln gleiten ließ. Natürlich war sie attraktiv und selbst von hinten, wo ihr Po sich deutlich unter dem Stoff der Tunica abzeichnete und die glatten Waden durchaus Lust auf mehr machten, sah sie umwerfend und in höchstem Maße begehrenswert aus. Doch sollte das wirklich der Grund gewesen sein, weswegen die junge Frau ihm nach der Sponsalia, bei der er sie das erste Mal getroffen hatte, nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte? Sollte das der Grund sein, der ihn dazu getrieben hatte, sie erneut einzuladen, um sie besser kennen zu lernen? Sollte das der einzige Grund sein, wieso er ihr gemeinsames Gespräch im Garten so anregend und erfrischend gefunden hatte?


    Nur nach und nach drangen ihre Worte an die bewussten Sphären seiner Wahrnehmung. Werke ... Tarraco ... Alexandria ... Qual der Wahl. Es kostete Flaccus ein enormes Maß an Gewalt und Willensstärke, seine Aufmerksamkeit hierher in die flavische Bibliothek und auf Axillas Worte zu lenken. "Ähm, nur die wichtigsten eben...", meinte er, noch immer etwas geistesabwesend, "Einige Werke von Xenophanes, einem meiner Freunde in Athen... Die Ilias und die Odyssee ...", es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren und seinen ansonsten so wachen und kristallklaren Geist auf das Gespräch zu fokussieren. "Das waren die ersten Bücher, die ich von Nikodemos bekommen habe, weißt du?" Nikodemos. Würde der ihm Antwort geben können? Würde er erklären können, was genau seine Empfindungen in Zusammenhang mit der jungen Frau zu bedeuten hatten? Resigniert blickte der junge Flavier in die Leere. Vermutlich nicht, der hatte ja genauso wie er selbst sein ganzes Leben den Büchern gewidmet. Außerdem war er tot. Mit seltsamer, beängstigender und bedrohlicher Gewalt drängte eine düstere Ahnung sich in das Bewusstsein des Flaviers. Sollte es der falsche Weg sein, den sein Mentor ihn gelehrt hatte? Sollte das Studium der Schriften ganz im Gegenteil zu der Verheißung, es würde ihm die Augen öffnen, und schließlich zur Erkenntnis der höchsten Dinge selbst führen, den Blick für das Wesentliche verschließen? Flaccus hatte studiert, was ihm in die Finger gekommen war und jetzt sollte ihn seine eigene Empfindung vor ein unlösbares Rätsel stellen?

  • Dass Flaccus kurz mit der Antwort zögerte, merkte Axilla zwar, aber sie schon es auf das andere Teilthema. Dass sie damit sogar recht richtig lag, konnte sie nicht wissen, auch wenn sie Flaccus eher unterstellte, dass es ihm nun peinlich war, dass man seine Worte in diese Richtung auslegen konnte, weil er es selber sicher nur scherzhaft gemeint hatte. Axilla konnte sich einfach nicht vorstellen, dass da auch nur ein bisschen Ernst dabei sein könnte. Oder besser, sie konnte es sich schon vorstellen, aber sie wusste, dass das sicher niemals nicht auch nur den Hauch von Realität haben könnte. Die Flavier würden Flaccus umbringen! Oder eher sie...


    Da war es gut, dass er auf den Themenwechsel einging. Eigentlich hatte Axilla es noch nie erlebt, dass jemand mal nicht mitzog, daher war sie über diese kleine Notlösung jedes Mal aufs Neue dankbar. So auch jetzt.


    “Aber mit Unruh
    Sorg' ich, den mutigen Hektor hab' jetzt der edle Achilleus
    Abgeschnitten allein von der Stadt, ins Gefilde verfolgend,
    Und wohl schon ihn gehemmt in seiner entsetzlichen Kühnheit,
    Welche stets ihn beseelt! Denn niemals weilt' er im Haufen;
    Sondern voran flog mutig der Held, und zagte vor niemand!


    Sprach's, und hinweg aus der Kammer enteilte sie, gleich der Mainade,
    Wild ihr pochendes Herz; und es folgten ihr dienende Weiber.
    Aber nachdem sie den Turm und die Schar der Männer erreichet;
    Stand sie und blickt' auf die Mauer umher, und schaute jenen
    Hingeschleift vor Ilios Stadt; und die hurtigen Rosse
    Schleiften ihn sorglos hin zu den räumigen Schiffen Achaias.“

    Axilla sang leise, und ihr Gesang an sich war bestenfalls als mittelmäßig zu bezeichnen. Sie krächzte nicht wie ein Rabe, aber es würde sie wohl dennoch niemand als Musikerin auftreten lassen. Nur ihre Aussprache der alten, ionischen Verse, die war nahezu perfekt. Auch wenn dieser archaische Dialekt in Griechenland fast nicht mehr gebraucht wurde, war er doch vom Attischen und vom Koine aus Alexandria weitestgehend verdrängt, Axilla hatte diesen zuerst gelernt und konnte ihn daher besser als die übrigen griechischen Dialekte.
    Mit einem etwas schüchternen Lächeln drehte sie sich halb zu Flaccus zurück. Jetzt, da das Thema ein anderes war, traute sie sich wieder, zu ihm hinzuschauen. “Mein Lehrer stammte aus Milet. Er meinte zwar, mein ionisch sei gräßlich, aber ich glaube, er wollte mich nur ärgern.“ Das sagte sie nun aber wieder in ihrer Muttersprache.

  • Das war nun tatsächlich ein Themenwechsel. Sicherlich unbewusst hatte Axilla auch so ungefähr das einzige Thema gewählt, mit dem sie den Geist des jungen Mannes wieder gänzlich auf sich zu ziehen vermochte. Sie begann die Ilias zu singen. Diese Verse vermochten Flaccus im tiefsten Inneren zu berühren wie keine anderen. Homers Sprache war die erste, die er tatsächlich gelernt hatte, vom ersten Augenblick seines jungen Lebens an hatte er sie gehört. Immer und immer wieder waren ihm die Verse vorgetragen worden, schon lange, bevor er ihren Sinn tatsächlich zu erfassen vermochte. Lange bevor er mit Vergilius und der lateinischen Sprache in Berührung gekommen war, lange bevor er selbst der Sprache mächtig sein sollte. Im Grunde war das die eigentliche Muttersprache des Jungen gewesen, denn allein im Umgang mit diesen Versen vermochte er die Liebe und Zuneigung zu finden, die er von seinen Eltern so sehr vermisst hatte. Stundenlang hatte er Nikodemos gelauscht, der dem Jungen in schier unermüdlicher Geduld die Verse des großen Blinden wieder und wieder vorgesungen hatte, aus seinem eigenen Gedächtnis sprudelten sie, aus der Quelle seiner eigenen Kindheit. So hatte die emotionale Seele des Flaviers lange vor dem Geist die Worte erfasst, hatte er in seinen Gefühlen längst begriffen, worauf er seinen Intellekt erst richtete. Gebannt und tief berührt, einen seltsam verklärten Ausdruck gleich einem Schleier über seinen dunklen Augen, lauschte Flaccus dem leisen Gesang, der etwas schüchtern zuerst, doch langsam immer präsenter den Raum auf unglaublich zarte und diffizile Weise erfüllte. Vom Tod und dem grausamen Schicksal des Priamossohnes sang sie, Hektor, und so tief ließ Flaccus sich ein auf ihren Gesang, so schmerzlich erfüllte ihn das Leid der Andromache, dass eine einzelne kleine Träne, gleich einer glitzernden Perle, dem dem dunklen Kranz seiner Wimpern entfloh und sich sachte ihren Weg über die Wange des jungen Mannes suchte. Wie tief berührte ihn der Tod des edlen Helden, das schier grenzenlose Leid seiner Gattin, die der grausamen Schändung seines leblosen Körpers nichts entgegenzusetzen vermochte.


    Axilla endete und drehte sich mit einem schüchternen Lächeln halb zu Flaccus zurück. Jener blickte sie an, eine Mischung aus tiefer Wehmut, Sehnsucht und einem Hauch von Verzweiflung lag in seinem Blick. Er blickte sie an. Sie schien zu sprechen, zumindest bewegten sich ihre Lippen. Hieß das nicht, dass sie wohl sprach? Nur ihre Lippen drangen in das Bewusstsein des Flaviers ein um sich dort langsam doch beständig und hartnäckig gegen die übermächtigen Eindrücke der Vergangenheit zu wehren. Nikodemos, seine eigene Mutter. Axilla hatte schöne Lippen. Sie bewegte sie auch auf eine schöne Weise. Wie komplex die Bewegung der Lippen beim Sprechen eigentlich war, schoss es Flaccus durch den Kopf. Komplex und auf bestimmte Weise anmutig. Nach und nach schafften es immer mehr Komponenten des komplexen Reizgefüges in die bewussten Sphären des flavischen Empfindens einzudringen. Langsam gesellte sich zu der bloßen Bewegung der Lippen eine einfache Melodie hinzu. Die Sprachmelodie war es und sie vermochte die homerischen Bilder gepaart mit der flavischen Vergangenheit noch weiter aus dem Bewusstsein des jungen Mannes zu verdrängen. Latein, schoss es ihm durch den Kopf. Sie sprach Latein, nicht mehr die Sprache der Alten. Dennoch, es war eine schöne Melodie, klar und rein nahm er sie war, und gleich dem eiskalten Wasser eines Gebirgsbaches, der im Frühjahr das Wasser des geschmolzenen Schnees von den hohen Gipfeln der Alpen ins Tal schießen lässt, durchdrang die kristallklare Struktur der Sprache auch den Geist des Flaviers. Erfrischend spülte sie auch noch die letzten Bilder von Tod und Verzweiflung fort aus seinem Kopf, und schuf somit Platz für den Sinn der Worte Axillas, der nunmehr endlich in das Empfinden des jungen Mannes eindringen konnte. Ein Scherz, schoss es ihm durch den Kopf, noch bevor er die Worte der Iunia gänzlich erfasst hatte, sodass seine Lippen wie von selbst ein Lächeln formten, ehe sein bewusster Wille überhaupt in dieses instinktive Gefüge kleinster Denkprozesse und damit verknüpfter Regungen, das nunmehr wieder präzise und genau, gleich feinen, exakt aufeinander abgestimmten Zahnrädern arbeitete, eingreifen konnte.


    "Kaum ein Lehrer kann es ertragen, wenn seine Schüler beginnen, flügge zu werden und gleich jungen Vögeln, die sich das erste Mal alleine aus dem Nest wagen, die Flügel ausbreiten und gen Himmel fliegen, die Unterstützung ihres Mentors nicht mehr benötigen, sondern diesen langsam aber stetig überflügeln.", meinte er, das feinsinnige Lächeln immer noch auf den Lippen. Dann allerdings wurde er der seltsamen Dinge eingedenk, die gerade erst sich ereignet hatten und ein nachdenklicher Schatten senkte sich auf sein Antlitz: "Wieso hast du genau diese Verse gesungen?", fragte er Axilla und ein fragender Ausdruck lag im Dunkel seiner Augen.

  • Weinte er etwa? Nachdem Axilla sich wieder herumgedreht hatte, wurde ihr Lächeln ein wenig zweifelnder. Tatsächlich, das war ganz eindeutig eine Träne. Flaccus weinte.
    Irgendwas verrückte sich gerade in Axillas Weltbild. Männer weinten nicht. Schon gar nicht, wenn es jemand sehen konnte. Erst recht keine Frau. Und unter gar keinen Umständen wegen ein paar Zeilen eines uralten Hymnos. Irgendwas war hier kaputt, und dieses etwas verstörte Axilla so ein ganz kleines bisschen.
    Und dann sagte er auch nichts, sondern sah sie nur ganz entrückt an! Das machte die ganze Sache langsam unheimlich. Als er dann doch noch was sagte, machte das die ganze Sache nicht unbedingt einfacher. Axilla hatte ja schon bemerkt, dass er sich mitunter mehr als blumig ausdrückte, aber das jetzt war schon... sie war sich nicht mal sicher, ob das jetzt ein Kompliment oder eine Kritik war. “Ich glaube, Iason hat das wirklich nur im Scherz gesagt.“ So ein wenig legte sich Axillas Stirn in falten, und ihr war es nichtmal so unrecht, dass sie gerade stand und er saß. So war sie etwas höher als er, und es vermittelte ein Gefühl von Sicherheit, wenn man das Gefühl hatte, im Zweifelsfall schnell weglaufen zu können. Das hier war jetzt schon etwas mehr als unheimlich. Männer weinten nicht! Frauen durften vielleicht mal weinen, aber in der Öffentlichkeit auch nur, wenn jemand gestorben war. Auch wenn Axilla schonmal auf der Straße zusammengebrochen war vor weinen. Aber da war Urgulania gestorben, womit das ja wieder unter die Ausnahme fiel, wann man weinen durfte.
    Vielleicht lag das auch an den Flaviern? Gut, Axilla kannte außer Flaccus nur Piso. Aber der war auch recht nah am Wasser gebaut. Wobei Archias Tod da vielleicht kein Maßstab war, wegen dem Piso Rotz und Wasser geheult hatte an verschiedensten Begebenheiten. Axilla wollte sie nicht alle über einen Kamm scheren, aber es klang irgendwo logisch. Auch wenn sie nie gehört hätte, dass ein Senator Flavius Gracchus irgendwo mal geweint hätte.


    Schließlich kam noch eine Frage, warum sie gerade die Zeilen zitiert hatte. Axilla zuckte nur kurz ein wenig fraglos die Schultern. “Ich finde sie schön. Den ganzen Gesang, mit Hektors Kampf und Untergang. Oder nicht schön, sondern... heldenhaft. Jeder große Heroe erlebt Leid, und je größer sein Heros ist, umso mehr Leid müssen er und seine Liebsten ertragen.“ So war das in jeder einzelnen Heldengeschichte. Es gab keinen Helden ohne Schmerz, keinen Triumph ohne Agonie. Es gehörte zusammen. Es konnte niemand ein Held sein, ohne mehr zu leiden als die anderen, ohne mehr zu opfern, mehr zu verlieren. Ein Mann war kein Held, weil er das richtige tat, sondern, weil er sein Schicksal erduldete. Anders kannte Axilla es gar nicht. Und anders wollte sie es auch gar nicht wirklich sehen. Denn durch den Tod ihres Vaters litt auch sie, und für Axilla war er ihr Held. Also ergab das für sie mehr als nur Sinn.
    “Und Hektor, der Pferdebezwinger, ist – finde ich – viel bewundernswerter als Achill, der ihn bezwingt. Jeder sonst rezitiert immer nur den Anfang und den Zorn des Peliden. Ich mag Hektor lieber.“

  • Dass die gesamte Situation auf Axilla wohl ziemlich verstörend wirken mochte kam Flaccus erst viel zu spät in den Sinn, wiewohl er sich nun in Gedanken dafür schalt nicht früher daran gedacht zu haben. In der Tat war es nämlich reichlich unrömisches Verhalten, das er soeben an den Tag gelegt hatte und welches, würde er in Zukunft nicht krampfhaft genau Acht geben, seine Pläne, als vir vere Romanus sich dem römischen Volk zu präsentieren durchaus gefährden konnte. Die Spuren seines Athenaufenthaltes waren wohl noch allzu deutlich in Flaccus verankert, als dass er den harten, unempfindsamen Römer in Rüstung, der wohl, soviel glaubte er inzwischen durchaus über Axilla zu wissen, eher ihr Typ zu sein schien, überzeugend hätte spielen können. Noch waren sie das, denn schon in wenigen Jahren, hatte er selbst erst sein Militärtribunat abgeleistet, würde er sich wohl gänzlich anders präsentieren können. Nun jedoch galt es vermutlich Schadensbegrenzung zu betreiben und den Versuch, zu retten, was noch zu retten war, zu initiieren. Die einzelne kleine Träne war glücklicherweise ohnehin bereits verschwunden, sodass es lediglich galt, einen ernsthaften Gesichtsausdruck aufzusetzen und das Thema nicht weiter zu berühren. Ohnehin bot sie ihm ja in zuvorkommender Weise auf seine Frage hin, wieso sie ausgerechnet die schreckliche Szene von der Schändung des toten Hektor ausgewählt hatte, die Möglichkeit dieses Rettungsseil zu ergreifen und den Dialog gleichsam auf eine allgemeine, viel unpersönlichere Ebene zu heben. Ihre erste Aussage ließ ihn leicht die Stirn runzeln. Sie fand es schön? Nun, es sollte ja durchaus Menschen geben, die Spaß daran hatten, anderen beim Leiden zuzusehen, warum sonst waren die Amphitheater sonst bei den Spielen immer zum Bersten gefüllt? Ja es sollte sogar Menschen geben, die es anregend fanden, selbst anderen Menschen Leid, etwa in Form von Schmerzen, zuzufügen, doch dass es jemand als schön empfinden konnte, wenn einem tapferen Helden die rituelle Bestattung verwehrt und sein Leichnam auf grausame Weise geschändet wurde, konnte Flaccus sich nicht so recht vorstellen. Noch dazu wo Hektor ja der tapferste Held der Trojaner und damit der Stammväter des römischen Volkes gewesen war!


    Als der junge Flavier also, die Stirne tief gerunzelt, versuchte, Axillas Standpunkt zu verstehen, verbesserte sie sich selbst und meinte, dass sie die Begebenheit vielmehr als heldenhaft empfand. Seine Stirn lichtete sich etwas, während Flaccus immernoch versuchte ihre Sicht der Dinge zu verstehen. Denn er selbst konnte der Schändung eines Leichnams im Grunde gar nichts heldenhaftes abgewinnen. Der Kampf und Tod des Rossbändigers waren wohl zweifelhaft heldenhaft gewesen, doch dann leblos herumgeschleift zu werden war im Grunde nur entwürdigend. Nun sagte Axilla allerdings etwas durchaus Interessantes, das Flaccus aufhorchen ließ. Sie schuf einen Konnex zwischen dem Leid, das einem Helden widerfuhr und der Größe seines Heros. Eine interessante Vorstellung, die dem Flavier so noch nicht in den Kopf gekommen war. Für ihn hing die Größe eines Heroen, seine Heldenhaftigkeit und der unsterbliche Ruhm, der ihm von der Nachwelt zuteil wurde, vielmehr von der Tugendhaftigkeit seiner Taten, von seiner edlen Gesinnung und Rechtschaffenheit, ja schlussendlich von seiner Ergebenheit in sein fatum ab. Noch bevor er allerdings diesen Einwand erheben konnte, sprach Axilla weiter und tat ihre persönliche Vorliebe für den Priamossohn gegenüber dem Peliden kund. Dem allerdings konnte Flaccus beipflichten und so nickte er eifrig. "Ja, er ist schließlich der Schützling Apolls.", pflichtete er ihr bei, als ob das genug wäre, nicht bedenkend, dass sie ja nicht um seine persönliche Affinität zu dem Gott wissen konnte.

  • Axilla hatte keine Ahnung, ob er ihre Erklärung verstanden hatte. Er sah nicht so wirklich danach aus, so fragend wie er schaute, aber sie konnte jetzt ja schlecht einfach aus dem blauen Dunst heraus anfangen, ihre Sicht weiter zu erklären. Abgesehen davon, dass sie sich absolut nicht sicher war, ob sie dann verständlicher wäre. Aber wenigstens den peinlichen Moment schienen sie überwunden zu haben, Flaccus schien sich wieder gefasst zu haben. Oder aber, er war von ihren Worten so verwirrt, dass er vergessen hatte, zu weinen, so genau konnte Axilla das nicht sagen. Und eigentlich wollte sie es so genau auch gar nicht wissen. Sie war da immer noch ein wenig verstört wegen dieser ganzen Situation.
    Was jetzt ihr Gesagtes damit zu tun hatte, dass Hektor ein Schützling Apolls war, wusste sie nicht wirklich, aber sie griff es auf, einfach um weiter zu reden und den Moment nicht noch peinlicher werden zu lassen, als es ohnehin schon war. “Ja, war er. Und der Herr des Silbernen Bogens hat ihn ja dann auch später gerächt, wenn man so will.“ Immerhin starb Achill durch einen von Apoll gelenkten Pfeil.


    Gut, sehr ergiebig war das Thema nicht gerade. Daher lenkte Axilla schnell wieder ab, indem sie sich wieder abwandte, den Schriftrollen zu, und ihre Hände suchend darübergleiten ließ. “Welche Stelle ist denn dir die liebste?“ fragte sie, hauptsächlich um überhaupt etwas zu fragen und so den peinlichen Moment vergessen zu machen.

  • Allmählich schienen sich die Wogen des sonderbaren Gesprächs zwischen den beiden jungen Menschen zu glätten, gleich den Wellen des gewaltigen Ozeans hinter einem Schiff, das sie kühn befahren, langsam sich wieder senken zu endloser Weite, ein Spiegel den Gestirnen. Nach seiner eigenen Lieblingsstelle gefragt, runzelte der Flavier einen Moment die Stirn. Eine Lieblingsstelle? Konnte es so etwas überhaupt geben, in einem Werk, das, gleich einer Schatztuhe tausende und abertausende Kostbarkeiten, in ihrem Wert und ihrer Einzigartigkeit nicht voneinander zu trennen, enthielt? Er würde wohl einfach einen der funkelnden Diamanten herausgreifen und ihn im warmen Licht der Öllämpchen, die mittlerweile in der flavischen Bibliothek entzündet worden waren, zum glänzen bringen. Leise hob er zu singen an. Füllte den Raum mit dem Strahlen des Edelsteins, den bunten Bildern der Worte, dem Rhymthmus der Verse, der Anmut der Melodie.


    "Einen Reigen auch schlang der hinkende Feuerbeherrscher,
    Jenem gleich, wie vordem in der weitbewohnten Knossos
    Daidalos künstlich ersann der lockigen Ariadne.
    Blühende Jünglinge dort und vielgefeierte Jungfraun
    Tanzten den Reigen, an der Hand einander sich haltend.


    Schöne Gewänder umschlossen die Jünglinge, hell wie des Öles
    Sanfter Glanz, und die Mädchen verhüllte zartes Linnen.
    Jegliche Tänzerin schmückte ein lieblicher Kranz, und den Tänzern
    Hingen goldene Dolche zur Seite an silbernen Riemen.


    Kreisend hüpften sie bald mit schöngemessenen Tritten
    Leicht herum, so wie oft die befestigte Scheibe der Töpfer
    Sitzend mit prüfenden Händen herumdreht, ob sie auch laufe;
    Bald dann hüpften sie wieder in Ordnungen gegeneinander.


    Zahlreich stand das Gedräng' um den lieblichen Reigen versammelt,
    Innig erfreut; es sang unter ihnen ein göttlicher Sänger
    mit der Harfe sein Lied. und zwei nachahmende Tänzer im Kreise
    Stimmten an den Gesang, und drehten sich in der Mitte."


    Ein Moment der Stille kehrte ein, nachdem die letzten ionischen Verse, wohl nicht von ebenso perfekter Aussprache wie jene der Iunia, jedoch erfüllt mit Energie, Emotion, mit Wehmut, Sensucht und Strahlen erfüllt verklungen waren. Ein fast verschmitztes Lächeln schlich sich auf die Lippen des jungen Faviers. "Wohl nicht so heroisch wie deine ...", meinte er leise.

  • DAS war seine Lieblingsstelle? Bei all den Schlachten, dem Kämpfen, dem Leid, dem Heros, dem Verrat und der Intrige, bei all diesen kolossalen Menschheitsgeißeln suchte er eine Stelle über tanzende Jünglinge und Jungfern? Axilla versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, und während er sang, drehte sie sich auch wieder dem Regal zu und ließ ihre Finger über die Schriften gleiten. Er hatte recht, diese Stelle war sicher nicht annähernd so heldenhaft wie die über Hektors Tod. Und Axilla drehte sich wohlweißlich nur halb zu Flaccus, wie beiläufig, als sie gutgelaunt auf seine Frage antwortete.
    “Dafür aber eindeutig fröhlicher und leichter.“


    Sklaven kamen herbei und entzündeten Öllampen. Axilla war ein wenig verwundert, wie schnell scheinbar doch die Zeit vergangen war. So lange hatte sie eigentlich gar nicht vorgehabt, zu bleiben. Sie hatte zwar heute am Abend nicht wirklich mehr etwas vor, allerdings war ihr Gespräch jetzt auch nicht derartig, dass sie deshalb bis tief in die Nacht hätte bleiben wollen. Immerhin waren sie nur zu zweit hier, und sicherlich würde Flaccus nicht wollen, dass sie zur Cena blieb und dann seinen verwandten über den weg lief. Piso war da schon sehr deutlich gewesen auf der Hochzeit von Nigrina, was da die Meinung über Axilla war. Und sie wollte Flaccus auch nicht in Bedrängnis bringen.
    Sie lauschte kurz, und tatsächlich, der Donner hatte aufgehört, und sie hörte auch keinen Regen. Vielleicht regnete es dennoch, aber nicht mehr stark. “Ich glaube, das Gewitter ist vorüber“, stellte sie lächelnd fest.

  • Kurz hielt Flaccus inne und lauschte in die Stille. Tatsächlich schien es, als ob der mächtige Beherrscher des Himmels, Zeus, das Werk des Hephaistos aus den Händen gelegt und wieder erbaulicheren Dingen sich zugewandt hatte, als die Sterblichen mit Blitz und Donner heimzusuchen. Lediglich das sanfte Geräusch leichten Regens meinte der Flavier noch zu vernehmen, doch mochte ihn hierin selbst sein scharfes Gehör ob der Zartheit des Klanges trügen. Flaccus erwiderte das Lächeln der Iunia. "Es ist spät geworden.", stellte er fest und in der Tat mochte es nicht mehr allzu lange bis zur cena dauern. Nun stand es zweifellos außer Frage, dass Axilla in einer Männertunika, mit überdies ziemlich zerstrubbelten Haaren wohl nur schwerlich an einer cena teilnehmen konnte, zudem sie vermutlich ohnehin auch bei den Iunii erwartet wurde, war doch anfangs nicht geplant gewesen, dass sie solange bleiben sollte.


    Flaccus erhob sich von seiner Liege und strich einige verrutschte Falten seiner Toga zurecht, ehe er einen Schritt auf Axilla zutrat."Danke für den schönen Nachmittag.", meinte er mit aufrichtigem Gesichtsausdruck. In der Tat war es die erste freundschaftliche Begegnung, das erste anregende Gespräch außerhalb des Familienkreises gewesen, das der junge Flavier nicht nur seit seiner Ankunft in Rom, sondern vielmehr seit seiner Abreise aus Athen geführt hatte, sah man von den Briefen an Xenophanes ab, die, wie geschrieben stand, ja halbe Gespräche waren. Nun stand Axilla vor ihm und Flaccus spürte den aufkeimenden Drang, durch eine Geste, eine Berührung das Gefühl der entsprossenen Freundschaft auszudrücken, das ihn beherrschte. Einen Moment noch zögerte der schlanke Flavier, ehe er sich endlich ein Herz fasste, und Axilla kurz freundschaftlich umarmte. Dann beließ er lediglich seine rechte Hand an ihrem Rücken, um mit der linken aus dem dichten Bücherwald nach draußen zu weisen. "Aglaia wird dich nach draußen bringen. Ich hoffe wir sehen uns wieder." Er lächelte sie an. Natürlich würden sie das. Dann blitzten seine Augen schelmisch und das Lächeln weitete sich zu einem Grinsen. "Die Tunika ...", begann er und blickte nochmals kurz an Axilla nach unten, " ... hat eindeutig Potential zu einer neuen Mode." Seine dunklen Augen blitzten, als er Axilla anlächelte. "Ich möchte, dass du sie behältst, vielleicht wird sie dir einmal ein Lächeln oder zumindest gute Erinnerungen schenken, wenn du sie mal findest..." Zumindest Flaccus selbst würde zeifellos eine Fülle an guten Erinnerungen von diesem Treffen bewahren. "Jetzt möchte ich dich aber wirklich nicht länger aufhalten." Er nickte Aglaia freundlich zu, die mittlerweile an die beiden jungen Menschen, kaum älter als sie selbst, herangetreten war. "Mögen die Götter deinen Weg behüten!", ein sanfter Druck mit der Hand an ihrem Rücken unterstrich seine Worte, ehe er sich löste und Flaccus einen Schritt zurücktrat.


    [SIZE=7]EDIT perturbationis causa[/SIZE]

  • Da Axilla bereits eine Weile in der Bibliothek an den Bücherregalen stand, entfiel das aufhelfen natürlich. Stattdessen kam Flaccus auf sie zu, sah sie an. Axilla blickte einen Augenblick lang unsicher lächelnd zurück, nur um sich Sekunden später in einer überraschenden Umarmung wiederzufinden. Sie wurde umarmt. Einfach so. Nicht sie hatte jemanden umarmt – was durchaus zu ihrem Gemüt passen könnte – nein, da war jemand anderes, der sie einfach so umarmte. Und Flaccus ließ sie auch nicht mehr richtig los, sondern ließ seine Hand in ihrem Rücken, während er mit der anderen Hand nach draußen wies. Und zum Abschied, bei dem er sie an Aglaia verwies, führte er sie auch mit eben jener Hand in ihrem Rücken mit leichtem Druck schon in die richtige Richtung.
    Axilla war zu verwirrt, um wirklich spritzig und schlüssig auf seine Anspielung mit der Tunika eingehen zu können. Abgesehen davon, dass sie sich ohnehin unschlüssig war, ob es angebracht war, mit Flaccus zu flirten. Er war so... so... sie konnte ihn nicht richtig erfassen. Er war ganz offensichtlich als Mann, und doch konnte Axilla ihn nicht so richtig als solchen wahrnehmen. Ihm fehlte vollkommen dieser wilde, jagende Zug, den Axilla sonst doch meistens zum Vorschein brachte. Und auch, wenn er jetzt etwas sagte, was in diese Richtung ging, war das dennoch nicht dasselbe. Im Gegenteil, es verwirrte eher noch mehr.


    “Ähm, ja. Gut, danke.“ Nicht besonders originell, aber das war Axilla selten, wenn sie verwirrt war. Und im Moment war sie es noch mehr als üblicherweise. “Dann hoffe ich, du hast noch einen schönen Abend. Vale.“ Das letzte war nun doch wieder fröhlicher gesprochen, so gut war ihre Selbstbeherrschung dann doch irgendwie. Auch wenn Axilla aus diesem Burschen hier nicht schlau wurde. Aber das machte auch nichts, es war ja nicht so, als ob der Rest der männlichen Bevölkerung sich unbedingt als durchschaubarer präsentiert hätte.


    Und so folgte Axilla Aglaia. An der Porta warteten auch schon ihre Sklaven auf sie, um sie sicher nach Hause zu bringen.

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