Nachdem ich mein Testament im Atrium Vestae hinterlegt hatte, war es gerade Mittag, und ich stand also vor der Wahl, in die heimische Villa Aurelia zurückzukehren oder aber in der Stadt eine kleine Mahlzeit zu mir zu nehmen. Da ich in den vergangenen Wochen sehr zurückgezogen gelebt hatte, entschied ich mich für das Letztere und suchte eine etwas abgelegene Taverne auf, in der nicht gerade das feinste Publikum verkehrte, das sich seiner Gäste und - wie ich nach genossenem Mahl hinzufügen konnte - auch seiner Speisen allerdings auch keineswegs zu schämen brauchte.
Ich hatte gerade meine aus diversen Meeresfrüchten bestehende Mahlzeit beendet, da fiel mein Blick unwillkürlich auf einen Nebentisch, an dem sich in diesem Moment eine Dame erhob. Sie hatte mir den Rücken zugewandt, so dass ich nur ihre hellblaue Tunika und ihre lindgrüne Palla zu sehen bekam, und auch als sie sich nun dem Ausgang der Taverne zuwandte, konnte ich kaum ihr Profil erblicken. Ihr Begleiter, der mit ihr am Tisch gesessen hatte, für meine Augen jedoch bisher unsichtbar, weil durch eben diese Dame verdeckt gewesen war, ging noch mit ihr zum Ausgang, kehrte dann aber zu seinem Tisch zurück. Dabei begegneten sich unsere Blicke, wir mussten beide lachen, und schließlich setzte sich der Mann, den ich auf etwa vierzig schätzte und der groß und auch sehr kräftig war, zu mir an den Tisch. Ich ließ uns beiden eine Karaffe Wein bringen und kam mit dem Mann, der, wie sich nun herausstellte, Pannonier war, ins Gespräch.
Er war, wie er mir erzählte, in seiner Heimat schon längere Zeit als Fuhrunternehmer tätig gewesen und schickte sich an, ein solches Geschäft nun auch in der Hauptstadt des Reiches aufzubauen, was wegen der großen Konkurrenz mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden war. Sein Plan bestand darin, sich auf Warenfuhren und auf Personentransporte für den mittleren Geldbeutel zu spezialisieren. Als er dann die Route erwähnte, welche er zunächst von Rom aus einzig bedienen wollte, horchte ich auf: Er hatte sich nämlich die Nordroute ausgeguckt und fuhr auch Mantua an. Ich erwähnte gleich, dass ich vorhätte, in den nächsten Tagen selbst nach Mantua zu reisen, und von dieser meiner Erwähnung an bedurfte es nur noch weniger Worte, bis wir beiden uns einig waren, dass ich mit einem Wagen meines neuen Bekannten in meine Heimatstadt fahren würde.
In der Zwischenzeit hatte sich die Karaffe mit Wein bis zum Boden geleert, und anstatt eine weitere zu bestellen, entschlossen wir uns, zu bezahlen und uns zur Porta raudusculana zu begeben, in deren Nähe die Wagen, Angestellten und Tiere des pannonischen Fuhrunternehmers untergebracht waren. Die Gefährte waren allesamt neu angeschafft oder angefertigt und befanden sich, soweit ich das als Laie beurteilen konnte, in bestem Zustand. Ich ließ mir gerade Einzelheiten der Federung des Personenwagens erklären, als mir plötzlich ein Gedanke kam, der mich sogar dazu brachte, dem Pannonier ins Wort zu fallen: "Und was wäre, wenn wir heute noch nach Mantua aufbrächen?" Als wäre diese Frage die normalste der Welt, antwortete der Fuhrunternehmer ruhig abwägend: "Nun ja, ich kenne da einen ganz guten Gasthof unterwegs, den wir noch gerade im Hellen erreichen könnten, wenn wir uns gleich auf den Weg machen. - Also, die Wagen sind bereit. Willst du wirklich?" Ich bejahte, und es verging kaum eine halbe Stunde, bis Wagen, Mannschaft, Tiere und Appius Aurelius Cotta reisefertig waren. Den einzigen Sklaven, der mich den Tag über in Rom begleitet hatte, hatte ich derweil in die Villa Aurelia zurückgeschickt, um dort meine Abreise zu melden und mir ein leichtes Reisegepäck zu schnüren, welches unserer Compania per Kurier in einen der bekannten Gasthöfe an der Strecke nachgesandt werden sollte.
Wie von dem Pannonier vorhergesagt, erreichten wir tatsächlich noch kurz nach Sonnenuntergang die avisierte Taberna, wo uns eine überraschend saubere und einladende Unterkunft für die Nacht bereitet ward. Noch vor Sonnenaufgang des nächsten Tages wurde ich geweckt und mit einem frugalen Mahl aus Äpfeln, Brot und ein wenig Käse gestärkt, bevor es wieder weiterging. Unsere Reisegesellschaft bestand insgesamt aus vier Mann: dem Pannonier, dem Reisenden Aurelius Cotta sowie zwei Angestellten des Pannoniers, die abwechselnd den Wagen lenkten und sich um das mitgeführte Lasttier kümmerten. Dieses konnte am dritten Tage unserer Reise auch mein Gepäck aufnehmen, nachdem der Kurier aus Rom uns eingeholt hatte, da er ja auf wechselnden Pferden schneller vorankam als wir mit dem Wagen. Dennoch gab es an unserer Reisegeschwindigkeit nichts auszusetzen, von den jahreszeitlich bedingten Engpässen einmal abgesehen.
Für mich war diese Fahrt mit unendlich vielen Erinnerungen verbunden, näherte ich mich doch meiner Heimatstadt und den Orten, an denen ich als Kind mit meinen Eltern und Geschwistern zusammengewesen war. Durchaus nicht alle Erinnerungen an diese Zeit waren schön - nein, ich musste mir sogar eingestehen, dass ich um nichts in der Welt wieder in diese Zeit würde zurückversetzt sein wollen -, doch war ich als Römer von patrizischer Abstammung gehalten, dankbar auch auf diesen Abschnitt meines Lebens zurückzublicken und auf die Menschen, die ihn geprägt hatten. Allzu gerne hätte ich Maron in diesen Stunden meiner Reise bei mir gehabt, ihn auf vieles hingewiesen und meine Gedanken mit den seinen geteilt, doch dieses Erleben hatte der Tod uns verwehrt, genau wie er sich furchtbar und endgültig vor mögliche klärende Gespräche z.B. mit meiner Mutter oder meinen Brüdern geschoben hatte.
Nun aber hieß es, nicht mehr nur auf das Vergangene und unwiederbringlich Aus-den-Händen-Geglittene zu schauen, sondern sich verstärkt der Gegenwart zuzuwenden, die doch schließlich das Einzige ist, worin wir wirklich stehen. Die vielen und mannigfaltigen Eindrücke der Reise boten mir auch reichlich Gelegenheit zu einem staunenden und verweilenden Betrachten, zumal ich den Weg zwischen Rom und Mantua seit Jahren nicht mehr zurückgelegt hatte. Ich war gereift, ein anderer geworden und erblickte nun vieles neu und stellte es für mich in einem anderen Lichte dar. So war ich natürlich auch früher schon einmal an all den kleinen Gemeinden und Siedlungen längs des Weges vorbeigekommen, hatte dem Leben, welches die dort wohnenden Menschen führten, aber niemals große Beachtung gezollt. Jetzt dagegen sprachen die Ursprünglichkeit und die enge Verbundenheit mit der Natur und ihren Kreisläufen, die das Leben der Menschen dort prägten, unmittelbar zu mir, und ich wähnte mich gleichsam an der Wiege des römischen Traums, der von hier aus seinen Anfang genommen hatte und nun den ganzen Erdkreis erfüllte, noch über die Grenzen der zivilisierten Welt hinaus.
Meines Geistes bemächtigte sich bei diesen Gedanken eine heitere, weitherzige Stimmung, die über etliche Tage hinweg immer tiefere Wurzeln in meiner Seele zu schlagen schien. Sie war noch stärker geworden, als wir uns den Ausläufern des Apennin näherten, die wir nun passieren mussten, um schließlich die Ebene zu erreichen, in der Mantua lag. Kurz bevor die Steigungen begannen, hatten wir noch die Pferde gewechselt, und mit den offenbar noch jungen Tieren ging es ungestüm hinan, so dass der Wagen ordentlich ruckelte. Ich musste mich festhalten, freute mich aber doch wie ein Kind an der sausenden Fahrt und strahlte über das ganze Gesicht, was ich in meinem Leben vielleicht gar zu selten getan hatte.
Gerade war eine Steigung glücklich hinter uns gebracht, als offenbar auch die Pferde auf dem nun zu durchlaufenden ebenen Weg mal ein wenig langsamer machen mussten. Sie schlugen einen sanften Trab ein, und das vormalige Ruckeln des Wagens ging wieder in ein weiches Wiegen über, so dass Aurelius Cotta, der während des schnellen Anstiegs seinen Kopf die ganze Zeit aus dem Fenster gehalten hatte, sich lächelnd wieder in seinem Sitz zurücklehnte. So ging es eine ganze Weile auf ziemlich gerader Strecke dahin, nur hier und da musste die Reisegesellschaft um eine leichte Biegung herum fahren.
Eine solche kam jetzt wieder in Sicht, und ziemlich gemächlich rollte der Wagen auf sie zu, so dass Aurelius Cotta sie wohl gar nicht mehr bemerkte. Nur noch wenige Meter war der Wagen von der Biegung entfernt, als hinter dieser ein Geräusch ertönte, gar nicht einmal laut, auch undefinierbar, ob von einem Tier verursacht, von einem herabfallenden Stein oder doch von Merkur persönlich; einige Mitglieder der Reisegesellschaft hatten dieses Geräusch möglicherweise gar nicht einmal wahrgenommen, vermutlich auch Aurelius Cotta selber nicht, wohl aber die jungen Pferde, die den Wagen zogen. Mit einem Mal warfen sie sich in ihr Zaumzeug, und noch bevor der Kutscher recht begriffen hatte, was vor sich ging, befand sich der Wagen in rasender Fahrt. Es gelang dem Kutscher nicht, die Tiere zu bremsen, und nur mit größter Mühe brachte er das Gefährt um die Biegung herum. Aber auch das gelang ihm nicht vollständig: Ein Rad des Wagens blieb an einem vorstehenden Stein hängen und stellte sich quer; dies geschah so gewaltsam, dass die Achse des Wagens brach, dieser aber weiter von den rasenden Pferden fortgerissen wurde, die erst in größerer Entfernung endlich zum Stehen kamen, für Aurelius Cotta freilich zu spät.
Der Patrizier war während des Achsbruches aus dem Wagen geschleudert worden. Niemand wird je wissen, ob dies und der nachmalige Aufprall seines Körpers allein schon tödlich gewesen wäre; was ihm früher noch und zuverlässiger den Tod brachte, war eine Feile des Pannoniers, welche dieser in einem Leinensäckchen für Reparaturzwecke unterwegs immer mit sich führte. Der pannonische Unternehmer war während der gesamten Reise von Rom nach Mantua meist auf einem Maultier neben dem Wagen, in dem Aurelius Cotta saß, hergeritten. Als die Pferde an der unheilvollen Biegung plötzlich scheuten, war er einer der ersten gewesen, der die Lage verstanden hatte, und als Aurelius Cotta aus dem Wagen geschleudert wurde, gelang es ihm noch, den Patrizier zu fassen. Doch mit seinem Griff trieb er den Tod in dessen Leib, denn das Säckchen mit der Feile gelangte dabei so unglücklich zwischen seinen und Cottas Körper, dass das spitze Werkzeug sich tief in die Rippen des Aureliers bohren konnte. Er begann sofort, stark und hoffnungslos zu bluten, und wenig später lag er so blutleer und blass im Tode, wie ihn im Leben seine seltsame Krankheit gezeichnet hatte.
Unter seinen Reisegefährten, dem Pannonier und seinen beiden Angestellten, aber machte sich Panik breit. Schließlich trug der Leichnam des Patriziers nun eine Wunde, die ganz danach aussah, als sei er einem vorsätzlichen Verbrechen zum Opfer gefallen, und die drei Fuhrleute fürchteten, deswegen völlig schuldlos zur Rechenschaft gezogen zu werden. Sie beeilten sich daher, den Reisewagen wieder einigermaßen in Stand zu setzen, und fuhren dann noch ein wenig auf dem Weg nach Mantua weiter, um dann aber eine gänzlich andere Richtung einzuschlagen. Den Körper Cottas hatten sie eine kleine Böschung hinuntergeworfen; die Spuren des Unfalls an der Biegung - Radspuren, Holzsplitter, Blutflecken - aber hatten sie in ihrer Hast nicht beseitigt.
Die Auffindung des Leichnams Cottas ist reserviert.
edit: grrr, Rechtschreibung