Ein Senator und sein Tiro auf dem Weg durch die Stadt

  • Kaum hatte Macer gemeinsam mit Flavius Flaccus, der sein Tirocinium Fori bei ihm absolvierte, die Casa Purgitia verlassen, setzte er das dort begonnene Gespräch mit einem neuen Thema fort. "Kennst du dich mit den Gepflogenheiten des Senates aus, was die Einberufung von Sitzungen und die Anwesenheit der Senatoren in selbigen betrifft?" fragte er den jungen Mann, während er einen flotten, aber nicht zu eiligen Schritt anschlug.

  • An der Seite des Purgitiers hatte Flaccus das Haus des Consuls verlassen und den Weg durch die Stadt begonnen. Zügigen Schrittes begleitete er Macer durch die ob der unzähligen Verkaufsstände und Schulklassen an den Straßenränden reichlich schmalen, verwinkelten und unübersichtlichen Gassen Roms, in denen in gewohnter Geschäftmäßigkeit das öffentliche Leben der Stadt pulsierte, gleich einem aufgewühlten Blutstrom, der die dünnen Adern eines feingliedrigen und überaus lebendigen Körpers kraftvoll durchstößt. Trotz des Lärms und des allgemeinen Trubels am Morgen gedachte der Consul offenbar, auch die Zeit des Gehens nicht ungenutzt verstreichen zu lassen, sondern den "Unterricht", jedenfalls die politische Unterweisung seines Schützlings auch hier fortzusetzen. Einen Moment lang musterte der junge Flavier Macer schräg von der Seite, als jener ihn nach seiner Kenntnis einiger organisatorischer Komponenten von Senatssitzungen fragte. Ein Moment, der lange genug war, um die Aufmerksamkeit des jungen Mannes in verheerendem Maße von den Geschehnissen vor seinen Füßen abzulenken, denn just in diesem Moment schossen einige kleine Kinder um die Ecke, offenbar in eines der beliebten Fangspiele verwickelt, die Flaccus um ein Haar - lediglich ein beherzter Sprung zur Seite vermochte das nahezu Unvermeidliche zu verhindern - über den Haufen gelaufen hätte. Unbeirrt stürmten die Kinder weiter und auch der junge Aristokrat konnte mit einigen großen Schritten wieder aufschließen. Dennoch hatte der Zwischenfall seine Konzentration auf die Senatsthematik ein wenig beeinträchtig, sodass die Antwort nun etwas unbeholfener ausfiel, als geplant: "Also ... die Sitzungen werden grundsätzlich regelmäßig einberufen, der Senat kann aber auch ... ähm, quasi außerordentlich zusammenkommen, etwa aus konkreten Anlässen, oder wenn er als Gerichtshof tagt ...", Flaccus musste ein paar Atemholpausen einschieben, "Was die Anwesenheit der Senatoren anbelangt ... also die müssen sich - außer in der sitzungsfreien Zeit im Sommer - in Rom aufhalten, und an den Senatssitzungen teilnehmen .... außer natürlich sie sind vom princeps oder dem Senat als Legaten entsandt, oder müssen andere Aufgaben wahrnehmen, die ihre Abwesenheit in Rom erfordern...", versuchte er sein, ob des langen Griechenlandaufenthalts etwas eingerostetes, Wissen um die politischen Strukturen Roms zu verbalisieren.

  • Mit einem vergnügten Schmunzeln betrachtete Macer die Kinder, die an ihnen vorbei wuselten und ging einen Augenblick etwas langsamer, damit Flavius Flaccus wieder aufholen konnte, nachdem er fast über den Haufen gerannt worden war. "Roms Straßen sind gefährlich, zu jeder Tageszeit", kommentierte er das Geschehen, bevor er der Antwort auf seine eigene Frage lauschte. "Das klingt gut, wenn es denn so wäre", lautete hier seine weniger gut gelaunte und dafür etwas bedeutungsschwangere Antwort. "Was die Einberufung der Sitzungen angeht hast du Recht. Es gibt lange im Voraus angekündigte Sitzungstage und Sondersitzungen. Was die Anwesenheit angeht, dann entspricht das, was du sagst, der Handhabung, wie sie früher einmal herrschte. Tatsächlich ist es leider so, dass sich immer wieder Senatoren die Freiheit heraus nehmen, zu Sitzungen zu spät zu erscheinen, sie früher zu verlassen oder erst gar nicht daran teilzunehmen." Nach dieser Feststellung der Lage manövrierte er einen Augenblick schweigend durch eine besonders belebte Straßenkreuzung, grüßte dabei einen entgegenkommenden Mann, der offenbar sein Klient war und sprach dann weiter. "Früher konnten solche Senatoren notfalls von Liktoren zu Hause abgeholt werden. Heute scheinen viele Männer das als Beschneidung ihrer Unabhängigkeit zu sehen, wenn sie nicht hin gehen dürfen, wo sie wollen." Am Ende stellte er keine konkrete Frage. Ihn interessierte einfach, was sein Tiro darüber dachte. Dass er eine eigene Meinung hatte oder sich bilden konnte, hatte er schon häufig genug bewiesen, so dass Macer auch diesmal auf ihn zählte. Und darauf, dass ihn diese Meinung bei seinen eigenen Überlegungen zu einer neu gefassten Geschäftsordnung des Senates weiter brachte.

  • Mit gerunzelter Stirn versuchte Flaccus, nachdem er aufgeschlossen und sein Wissen über die Organisation der Senatssitzungen zum Besten gegeben hatte, seine Aufmerksamkeit auf die Worte des Consuls wie auf die Wegränder und besonders Straßenecken gleichermaßen zu richten. Offenbar schienen die idealistischen Vorstellungen, die der republikanische Geist des jungen Aristokraten pflegte, nicht ganz der bitteren Realität senatorischen Pflichtbewusstseins zu entsprechen, jedenfalls skizzierte der Purgitier ein gänzlich konträres Bild der aktuellen Lage. Allerdings schien der Consul selbst jedoch mit den momentanen Verhältnissen nicht gänzlich einverstanden zu sein, jedenfalls schwang in seiner Stimme deutliche Missbilligung des gegenwärtigen Zustands mit. Als Macer also abbrach, ohne eine direkte Frage an Flaccus zu stellen, fasste jener das durchaus als Einladung, seine persönliche Meinung zu dieser Thematik kundzutun, auf. "Also für mich stellt es die größte nur erdenkliche Ehre dar, die Möglichkeit, ja vielmehr die Aufgabe und Pflicht zu haben, das Schicksal Roms im Senat zu lenken. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass jemand irgendwelche anderen Dinge dieser höchsten und ehrenvollsten Tätigkeit vorzuziehen auch nur in Erwägung ziehen kann. Wer solch banale Dinge - und verglichen mit dem Beiwohnen der Senatssitzungen sind wohl nahezu alle Dinge banal - dieser höchst gewichtigen und überaus glänzenden Tätigkeit voranstellt, spricht sich selbst den breiten Purpurstreifen ab, reißt sich selbst den goldenen Ring vom Finger und verdient nicht den Namen "Senator" zu tragen.", so tat Flaccus in etwas leidenschaftlicher Weise seine eigene Auffassung römischen Pflichtbewusstseins, entsprungen den strahlenden Idealen vergangener Tage, kund.

  • "Ganz so drastisch würde ich es nicht ausdrücken", bremste Macer den überschäumenden Eifer, mit dem sein Tiro seiner Meinung Ausdruck verlieh und seine Missbilligung der Zustände äußerte. "Aber inhaltlich scheinen wir da mal wieder einer Meinung zu sein. Ein Senator sollte sich als Teil des Senates begreifen und nicht als jemand besseres, der dem Senat die Ehre erweist, wenn er es für richtig hält und es nicht tut, wenn er es für überflüssig hält. Ich sprach bereits mit mehreren Senatoren darüber. Einige sehen es wohl als unangenehme Überwachung ihres alltäglichen Lebens, wenn man jederzeit einen Liktor losschicken könnte, um sie zu holen." Damit das klappte, musste schließlich immer mehr oder minder genau bekannt sein, wo sich welcher Senator aufhielt. Andererseits war kaum anzunehmen, dass sich ein Senator ernsthaft verstecken konnte. "Nehmen wir an, du solltest jetzt für mich herausfinden, wo sich ein bestimmter Senator aufhält. Was würdest du tun? Wie lange würdest du brauchen, um ihn ausfindig zu machen?"

  • Und wieder einmal oblag es Macer in seiner Aufgabe als Tutor, den jungen Flavier für das politische Leben gleichsam zu formen und zu bilden, dessen übersprühende Leidenschaft für republikanische Ideale jedoch etwas zu dämpfen. Dennoch schien er im Grunde derselben Meinung zu sein und interessiert folgte Flaccus den Erklärungen des Consuls, während er mit ihm Schritt hielt. Dann jedoch stellte jener eine überaus sonderbare Frage, die den Flavier einen kurzen Moment lang etwas verdutzt machte. Selbst der rein hypothetische Auftrag, er solle herausfinden, wo sich ein bestimmter Senator im Moment aufhalte, war doch in seiner Art so ungewöhnlich, dass der Purgitier einige Augenblicke auf die Antwort warten musste. "Also, ich würde einige Sklaven losschicken ...", begann er dann zögernd, " ... die sich auf den Straßen umhören sollten oder im Haushalt des Senators. Es würde höchstens einige Stunden dauern, um den Aufenthaltsort mit Sicherheit bestimmen zu können ...", mutmaßte er schließlich, denn tatsächlich hatte er natürlich keinerlei Erfahrungen im systematischen Aufspüren von Menschen, solche Aufgaben übernahmen für gewöhnlich Sklaven oder die Klientel.

  • Die Antwort fiel aus, wie Macer es erwartet hatte, so dass er sich ein ganz leichtes triumphierendes Lächeln nicht verkneifen konnte. "Genau das dachte ich mir auch. Und dabei sollte man noch berücksichtigen, dass du noch nicht auf eine handvoll gestandener Privatsekretäre und Laufburschen zurückgreifen kannst, die die halbe Stadt kennen. Hat man diese zur Hand, reduziert sich die Zeit noch einmal ganz erheblich." Eine Erfahrung, die nicht nur für die gerade geführte Debatte, sondern allgemein für das Leben als Senator und die Ausübung öffentlicher Ämter ernorm hilfreich war. "Ich halte es daher auch eher für müßig, dass sich ein Senator auf diese Weise herausreden will. Auch wenn ich durchaus verstehen kann, dass man sich dann und wann lieber einmal auf ein Landgut zurück zieht, um Erholung zu suchen oder seinen Studien nachzugehen. Was würdest du tun, wenn du einen Freund überreden wolltest, den bequemen Arbeitsplatz mit Blick auf die Weinberge zu verlassen und stattdessen die Toga anzulegen und in der dämmrigen Curia auf harten Bänken zu sitzen?" So langsam hatte Macer Gefallen daran gefunden, seinem Tiro knifflige Fragen zu stellen, um ein Thema zu diskutieren. Er nahm sich vor, sich diese Idee auch für andere Anlässe zu merken.

  • Anscheinend hatte der Flavier mit seiner Antwort die Erwartungen des seines Tutors getroffen, denn jener pflichtete ihm bei, schloss jedoch im direkten Anschluss bereits die nächste überaus schwierige Frage an, die Flaccus einige Momente schweigend mit nachdenklich gerunzelter Stirn neben dem Purgitier hergehen ließ. Dann allerdings glaubte er in der Philosophie den Schlüssel zur Lösung des Problems gefunden zu haben, und begann leidenschaftlich über eines seiner wichtigsten Interessensgebiete zu sprechen. "Ich würde Annaeus Seneca zitieren und Tullius Cicero. Ich würde ihm erzählen, dass der Staat und die Gemeinschaft der Menschen Abbild der göttlichen Weltordnung ist, der Mensch gleichsam, um mit griechischen Worten zu sprechen, ein zoon politikon, gedacht um mit seinen Mitmenschen Gemeinschaft zu bilden und aktiv an dieser teilzuhaben. Ich würde ihn schließlich davon überzeugen, dass glückliches Leben durch virtus erworben wird. Durch die Tatkraft also, die allein in der tatsächlichen Mitgestaltung des Staates existiert. Ich würde ihm schließlich auch den Marcus Cato, jenen Mann ohne früheren Ruhm und Ahnen als Vorbild für die Richtung seiner Tätigkeit und würdiger Gesinnung vorstellen, dem es doch gewiss freistand, in Tusculum in Muße ein behagliches Leben zu führen. Aber dieser unsinnige Mensch - denn für einen solchen müssen ihn wohl all jene Senatoren, von denen wir sprachen halten - wollte lieber, obgleich ihn nichts dazu nötigte, sich von diesen Wogen und Stürmen bis in das höchste Alter herumtreiben lassen, als in jener stillen Zurückgezogenheit und Muße aufs angenehmste leben. Und so auch unendlich viele andere glänzende Männer der Vergangenheit, von denen jeder zum Wohl unseres Staates beigetragen hat, deren strahlendes Beispiel Marcus Tullius zur entschiedenen Erklärung veranlasste, dass in der menschlichen Natur eine solche innere Nötigung zur Tugend und ein solcher Drang, das Gemeinwohl zu verteidigen, liegt, dass dieser Trieb über alle Reize der Sinnenlust und behaglichen Muße die Oberhand gewinnen muss. Und zweifellos ist es auch so."

  • Macer hörte seinen Tiro wiederum neugierig zu und auch wenn seine eigenen Gedanken zwischendurch ein wenig abschweiften, musste er zugeben, dass er nicht schlecht beeindruckt war von der Ausführlichkeit und Tiefgründigkeit der Antwort, die er zu hören bekam. "Nicht gerade das, was man einen pragmatischen Ansatz voller handlicher Argumente nennen würde, aber umso wortgewaltiger und tiefsinniger", kommentierte er daher durchaus lobend. "Ich sehe, du hast deine Studien mit Ernst betrieben und zitierst gerne und treffend. Du solltest dir das erhalten und vertiefen und du wirst ein glänzender Redner werden. Und die Freude am Reden wiederum wird es dann sein, die dich dazu bringt, deine Studien zu verlassen und die Curia aufzusuchen, um das Wort an die Senatoren zu richten."


    Nur konnte man solche engagierten Argumentationen kaum im Rahmen einer Gesetzesvorlage zur Stärkung der Anwesenheit im Senat verwenden, an die Macer vorsichtig dachte. Da würde man andere Argumente finden müssen, denn an Ehre und Tatkraft wird niemand Zweifeln wollen und deswegen auch keine Notwendigkeit sehen, ein Gesetz zu errichten. In dererlei Gedanken vertieft, erreichten sie schließlich das Ziel ihres Weges, die Basilica, in der das Gericht tagte.

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!