Es war Herbst geworden. Still und leise, noch weder sicht- noch hörbar, und doch war kein Zweifel daran, dass der Sommer vorbei war. Nachts wurde es manchmal schon empfindlich kühl, und die Sonne verschwand zeitig hinter dem Horizont, verkürzte die Stunden des Tages und verlängerte die der Nacht.
Doch Sextus störte sich weder an der Dunkelheit, noch an der Stunde, noch an der Kühle. Er stand nackt im fast bodentiefen Fenster von Nigrinas Schlafgemach und sah hinaus in den Regen, der seit einigen stunden unablässig herniederging und die Welt da draußen noch herbstlicher erscheinen ließ. Sein Körper glänzte noch vom Schweiß der vergangenen Stunden, und doch frierte ihn nicht wirklich. Zu viele Dinge gingen in seinem Kopf herum und lenkten ihn davon ab. Selbst der Sex mit seiner Frau, die irgendwo in seinem Rücken im Bett lag und von der er nicht wusste, ob sie schon schlief oder doch noch wach war, hatte ihn nicht von seinen Gedanken vollständig ablenken können. Und das war etwas, das zum einen selten geschah, und zum anderen sehr ärgerlich war. Und Sextus drittens darin bestätigte, dass es schwerwiegende Dinge waren, die sorgsam durchdacht sein sollten und nicht einfach dem Zufall überlassen werden durften.
Das Fenster ging nach Süden – einer der Hauptgründe, warum Sextus überhaupt hier stand. Es donnerte immer wieder, leise und rumpelnd in der Ferne, oder auch mal laut und krachend in der Nähe. Sein Blick suchte die Wolken ab, suchte nach den hellen Blitzen, ihre Form, ihre Richtung, ihre Farbe. Er brauchte Antworten, und auch, wenn er wusste, wie viel 'künstlerische Freiheit' in den Verlautbarungen steckte, die die Haruspices gern an ihre Klienten herausgaben: Er hatte Jahre damit verbracht, zu lernen, wie man diese Zeichen las. Er hatte sich mit jeder der sechzehn Sphären, in die der Himmel nur bei den Etruskern unterteilt war, endlos befasst, jede Neigung, jede Farbnuance gelernt, bis ihm die Ohren geblutet hatten vom ewigen Zuhören seiner Lehrer. Die Auspices von Rom kannten bei der Blitzdeutung nur zwei Antworten der Götter: Ja und nein. Zustimmung oder Ablehnung. Auch wenn sie es waren, die hier in Rom das erste Recht hatten, dies an die Pontifices zu vermelden: Sie waren darin dilettantische Stümper. Die Etrusker hatten schon vor hunderten von Jahren ebenso wie bei der Leber hier weit mehr Zeichen gefunden, weit mehr Nuancen des göttlichen Willen, und nicht nur den von einem Gott, sondern den des gesamten Pantheons.
Und auch, wenn Sextus nicht wirklich religiös war oder den Göttern ein Übermaß an Frömmigkeit entgegenbrachte: Im Moment brauchte er antworten. War es der richtige Weg, den er ging? Übersah er etwas? Und vor allem: Wie lang sollte er mit seinen nächsten Schritten warten? Natürlich wäre es vorteilhafter, vom neuen Kaiser als Senator eingesetzt zu werden. Salinator war nicht sein Freund. Er würde auch nie auch nur annähernd freundlich dem Klienten des Tiberius Durus gegenüberstehen, zumal er selbst ebenfalls Patrizier war. Salinator positionierte gerade seine eigenen Männer mannigfaltig, um sie in den Senat zu bekommen. Was also sollte ihn dazu bewegen, ihn dorthin zu befördern? Richtig: nichts.
Also half nur eine Sache: Bestechung. Und diese wäre in diesem Fall wohl nicht unerheblich. Was eigentlich nur ein geringfügiges Problem darstellen sollte. Einzig war die Sache, dass es eine Verschwendung war, Geld für einen Mann aufzuwenden,d er mit einem Bein schon im Grab stand.
Sofern die Verschwörung Erfolg hatte! Immerhin barg ihre Unternehmung nicht unerhebliche Risiken, die aufgrund der letzten nicht einstimmig verlaufenen Abstimmung nicht kleiner geworden waren. Eine Spaltung innerhalb der Gemeinschaft war nicht gut. Sie mussten ihre Ressourcen bündeln und nicht aufsplittern, und Sextus war sich noch nicht über die Auswirkungen der Ablehnung des Viniciers ganz sicher. Das alles waren neue Faktoren in seiner Chancen-Nutzen-Rechnung, die die ganze Gleichung ungemein aufbauschten und zunehmend unübersichtlicher machten.
Die Frage aber blieb: Was fing er jetzt an? Warten? Nicht warten? In Salinator noch investieren, auch wenn es ein Verlustgeschäft war, oder doch lieber nicht?
Er ließ seine Sinne ins Zimmer hinter ihm schweifen, zu seiner Frau. Vermutlich würde es nicht mehr lange dauern, ehe sie ein zweites seiner Kinder unter dem Herzen trug. Günstigstenfalls ein zweiter Sohn. Sextus perfekte Planung bestünde aus zwei Söhnen und dann einigen Töchtern, um politische Bündnisse eingehen zu können. Doch leider hatte er darauf wohl nur wenig Einfluss, außer auf die Produktion der Nachkommenschaft als solches.
Seine Gedanken jetzt kreisten aber nicht nur um die Kinder, die er eventuell haben würde, sondern auch um Nigrina. Wenn ihre Verschwörung aufflog, hatte sie ein Problem. Sie war dann nicht nur die Witwe – Sextus wusste um die Gefahr seines eigenen Todes bei Misserfolg ihrer Sache – eines Verschwörers, sondern auch in der Gens eines anderen. Und Flavius Gracchus war nun niemand, den man einfach so vergessen konnte. Wenn er fiel, traf es wohl die gesamte Gens mehr als nur hart.
Sextus hatte eigentlich kein Gewissen, schon gar kein schlechtes. Dennoch fragte er sich, ob ihr nicht wenigstens die Chance gegeben werden sollte, sich für so einen Fall zu wappnen, oder ob es besser war, sie in Unwissenheit zu lassen. Nicht, dass er ihr einen Verrat zutraute. Nicht, nachdem er ihr sagen würde, dass Gracchus da ebenso beteiligt war wie er. Aber manchmal war Unwissenheit ein Segen, und Sextus war sich über die Notwendigkeit, diesen zu stören, nicht gewiss.
Und so stand er da, im Fenster, ausdampfend und in den Regen schauend. Er wusste, dass seine Frau, wenn sie ihn so sah, wusste, dass ihn etwas beschäftigte. Er wusste, dass er seine Maske nur unzureichend spielte. Aber er brauchte Antworten. Und das Gewitter sollte sie ihm liefern.