Seeleute fürchteten Stürme, das wusste jedes Kind. Doch was die Mannschaft der Excelsa - der Erhabenen - , Sermos Reisegefährt auf See, noch mehr fürchtete, war Flaute. Gut für die Nautae also, dass es Herbst war, denn damit war es grundsätzlich ordentlich windig auf See. Schlecht für Issa, der offensichtlich noch niemals auf einer schwimmenden Planke gestanden hatte. Der arme Kerl erbrach sich seit ihrem Auslaufen aus Massilia vor drei Tagen am laufenden Band über die Reling. Die Nautae lachten immer wieder laut, wenn sie an ihm vorüberliefen. Es gab immer irgendeine Landratte, die den Wellengang nicht aushielt. Und ausgerechnet heute ging es hoch her auf dem Meer.
Sermos Reise hatte unproblematisch begonnen. Nach seiner Abreise in Mogontiacum hatten Sermo und Issa in strammem Ritt gen Südwesten die Alpes umrundet. Sie waren bei Wind und Wetter gereist und Sermo kannte auch kein Erbarmen, als sich auf halber Strecke die ersten Regengüsse des Oktobers über sie ergossen. Issa war an diesem Punkt bereits zum hundserbärmlichen Jammerlappen mutiert. Sein Hintern war völlig wundgeritten, der Rücken schmerzte von den harten Tavernenbetten und er hatte einen Schnupfen. Ganz zu schweigen vom Muskelkater in den Beinen, die ihm sogar das Gehen beschwerlich machten. Sermo war da nicht so zimperlich. Muskelkater hatte er zwar auch, aber er hatte in seiner Jugend das Reiten gelernt und war ohnehin ein freund des Spartanischen, wenn er doch auch nicht gelegentlichen Luxus verachtete.
In Massilia angekommen hatten sie schließlich die Pferde wieder verkauft - Seereisen vertrugen die Tiere ja im Allgemeinen sehr schlecht und bei der Legion würde er sich wohl ein kampferprobtes Tier aus den Ställen suchen können - und sich ein Schiff gesucht, das nach Süden wollte. Bei Sermos Glück war natürlich niemand zu finden, der Alexandria in direkter Route ansteuerte. Aber der Nauarchus der Excelsa wollte nach Carthago und das lag direkt auf Sermos Weg, womit sie schnell übereingekommen waren, dass der Quintilius und sein Sklave an Bord gehen durften, die entsprechende Reisegebühr vorausgesetzt, versteht sich.
Drei Tage fuhr man unter idealen Wetterbedingungen von Massilia nach Ostia. Sermo spähte auf das Meer hinaus. Drei Tage waren viel Zeit zum Nachdenken, wenn der Leibsklave die Hälfte der Zeit kotzend verhindert war und man keine Lust mehr auf Gesellschaftsspiele mit der Mannschaft hatte.
Sermo seufzte. Ob vor Erleichterung oder vor Aufregung konnte er nicht recht sagen. Diese Reise führte ihn nach Nikopolis. An den Ort, der ihm die nächsten Jahre Heimat sein würde. Den Ort, an dem er sich seine Sporen verdienen wollte, als Tribunus Angusticlavius der Legio XXII Deiatoriana. Genau wie sein Vater es bei der Legio II Germanica getan hatte. Vater wäre stolz auf ihn gewesen. Nicht nur, dass er intelligent genug gewesen war, überhaupt so lange zu überleben (im Gegensatz zum Rest seiner Geschwister, die irgendwo und irgendwie an irgendwas krepiert waren). Nein, er schien auch von Fortuna derart gesegnet zu sein, dass er nicht in irgendwelchen unteren Dienstgraden herumkreuchen musste, um sich das Überleben zu sichern. Nein, Sermo war jetzt Tribun! Er war Eques Imperii und konnte damit bereits behaupten, es weiter gebracht zu haben als der überwiegende Teil der Bevölkerung des Imperium Romanum, womit der Quintilius mit einem Anflug von Arroganz an den Pöbel dachte, der sich auf den dreckigen Straßen des Reiches mit harter Arbeit das tägliche Brot verdienen musste. Sermo hatte allen Grund stolz zu sein. Wäre sein Vater noch am Leben, er hätte Luftsprünge gemacht. Und seine Mutter erst! Er sandte ein stilles Dankgebet an seine Eltern und hoffte, dass er irgendwann ebenfalls Kinder haben würde, die so zu ihm aufschauten.
Aber dafür musste er erst einmal eine geeignete Frau finden, die ihm Nachwuchs gebären konnte. Nachdenklich runzelte Sermo die Stirn und stützte die Ellenbogen auf die Reling auf, leise schnaubend. Die letzte Kandidatin, die er im Auge gehabt hatte, stellte sich relativ schnell als nicht ganz adäquat heraus. Decima Seiana war zwar einflussreich und vor allem auch sehr reich an Geld. Aber er hatte schließlich ein ungutes Gefühl angesichts ihrer Verwicklungen, insbesondere ihrer familiären Situation und der vermeintlichen Opposition zum Praefectus Urbi, bekommen. Und so war er jetzt wieder ohne Aussicht auf Heirat und trieb auf einem Schiff im Mare Nostrum seiner Zukunft entgegen. Immerhin war diese Zukunft aber nicht so ungewiss, wie sie es damals war, als Sermo nach einigen Studienjahren in Griechenland nach Rom zurückkehrte.
Sermo hatte einen festen Posten im Stab einer Legion, hatte ein ordentliches Kapitalpolster und freute sich auf eine Provinz, die ebenso vielfältig, aber zum Glück wesentlich wärmer als Germania Superior zu sein versprach. Und Aegyptus schien eine Provinz zu sein, die auch nicht wenige Herausforderungen bot. Sermo stellte sich schon endlose Sandwüsten und den drohenden Verdurstungstod vor, oder die Gefahren des Nilus, vor dessen zähnefletschenden Ungetümen und tödlichen Fieberkrankheiten er schon gewarnt worden war. Wie dem auch sei, Sermo war bereit. Er wollte die Herausforderung annehmen und diese Etappe in seiner Laufbahn antreten und er würde sie erfolgreich abschließen, da war er sich ganz sicher. Sermo würde als gerühmter Offizier des Exercitus nach Rom heimkommen und dort gefeiert werden und mit Ehren überschüttet werden. Ja, davon träumte er gern. Und dann rief er sich ins Gedächtnis, dass sein Vetter sich einst mit Vescularius Salinator angelegt hatte und ärgerte sich sehr. Valerian war manchmal einfach nur ein Dummkopf! Aber dieser Zwischenfall schien bisher Sermos Aufstieg ja noch nicht sonderlich beeinträchtigt zu haben. Vielleicht lag das daran, dass er noch keine große Nummer war. Ja, das musste es wohl sein. Sermo gestand sich ein, dass er - so angesehen ein Tribunat auch war - noch nicht so viel erreicht hatte, dass er überhaupt vom Vescularius Beachtung geschenkt bekam. Das war vielleicht auch ganz gut so. Aber irgendwann kam Sermo wohl oder übel nicht mehr um den Mann herum. Wie gut, dass sein Patron Purgitius sich offensichtlich wesentlich besser beim Praefectus Urbi gestellt hatte, als man das im Allgemeinen von Senatoren wohl behaupten konnte. Denn immerhin war Kaeso Annaeus Modestus - Klient des Purgitius - Statthalter Germania Superios geworden. Und Appius Terentius Cyprianus war sogar Praefectus Praetorio, wenn man den Meldungen glauben schenken konnte! Ja, das war Sermo Traumziel. Irgendwann würde er in Rom einen Posten einnehmen, der Ansehen, Reichtum und vor allem eins brachte: Macht. Er wollte sich gar nicht ausmalen, was er als Praefectus Praetorio wohl alles würde tun können.
Aber das alles lag noch in weiter Ferne. Viel greifbarer war für Sermo doch die Realität, und die sah in diesem Moment nicht gerade sonnig aus. Backbord lag die Küste, die an diesem Tag undeutlich zu sehen war, denn der Himmel war trüb verhangen und die Sicht war nicht sonderlich gut. "Das da sieht nicht gut aus," unterbrach der Nauarchus da Sermos Gedanken. Der Kapitän war unbemerkt an die Reling getreten und spähte nun neben Sermo ebenfalls zum Horizont herüber. Im Süden, wo Ostia liegen musste, war der Himmel noch dunkler geworden. Derweil wurden die Winde stärker. "Was's nich' gut?!" krächzte ein sichtbar entsetzter Issa von links, der sich gerade mit dem Handrücken über den Mund fuhr. "Sieht nach...Sturm aus?" antwortete Sermo mit einem fragenden Seitenblick auf den Nauarchus, der zustimmend nickte. "Bona dea..." stöhnte Issa, der sich rücklings auf die Schiffsplanken plumpsen ließ. Der arme Kerl sah so aus als wäre er einer Panikattacke nahe. Schisser dachte sich Sermo, der bereits einige Male zur See gefahren war. Und doch, so richtig wohl war ihm nicht in seiner Haut. Sorgenvoll richtete er den Blick erneut zum Horizont, während der Nauarchus bereits begann, Befehle zu brüllen und es mit einem Mal auf Deck hektisch zuging. Und von links erklang wieder ein gequältes ängstliches Würgen...