Es hatte eine Weile gedauert, bis die Vorbereitungen für die Reise doch so weit gediehen waren, dass sie hatten aufbrechen können. Einige Tage nach seiner Ankunft hatten Ursus und Sextus erst die Zeit gefunden, noch einmal genauer zu reden, zu viele Dinge hatten sich dazwischen ereignet: Flora lebte und war mit dem Sohn des Tiberiers im Castell angekommen. Wobei Sextus ersterer Tatsache mehr abgewinnen konnte als letzterer. Da Flora ein Kind erwartete, hätten die Aurelier ohne den tiberischen Sprößling Anspruch auf das Vermögen seines Patrons anmelden können. Noch dazu, so sehr Sextus auch den Vorteil einer Märtyrerin erkannte, lag ihm nichts daran, seine Verwandtschaft abgeschlachtet zu wissen. Doch vielleicht würde sich mit etwas Glück noch eine Möglichkeit ergeben, etwaige Ansprüche des Adoptivsohnes von Tiberius Durus anzufechten. Sofern er das kommende überlebte. Und sofern die Aurelii es überlebten.
Auch Flavius Gracchus war angekommen. Der Flavier hatte seine Familie rechtzeitig aus Rom fortschaffen können, was Sextus auch erleichtert stimmte. Selbst jetzt, wo Nigrina wohl gestorben war – ein Wissen, das Sextus für sich behielt. Seine Frau zu einer Märtyrerin zu machen, dazu würde sich Gelegenheit finden, um so die Flavier an sich zu binden und das Volk noch mehr von der Schuld des Vesculariers zu überzeugen. Bislang allerdings brauchte er die unverbrüchliche Unterstützung der Flavier, die auf Hochzeitsbanden beruhte. Daran jetzt zu rütteln wäre dumm gewesen – sah er auch Vorteile in der Quantität seiner Verbündeten und nicht nur deren Qualität.
Der Bote mit der Nachricht über seine Frau gehörte zu den weniger positiven Meldungen und hatte eine Reihe an Handlungen erforderlich gemacht, die mehr Sextus' Aufmerksamkeit gefordert hatten und somit seinerseits längere Gespräche verschoben hatten. Nicht zuletzt hatte er aufgrund dessen Nachrichten an eine Vielzahl von Personen geschrieben, in der Hoffnung auf ein positives Echo oder zumindest der Vermeidung weiterer Schwierigkeiten.
Als sein Vetter und er schließlich die Gelegenheit gefunden hatten, noch einmal über das ein oder andere Thema, das bei Sextus' Ankunft angesprochen war, zu reden, waren einige Tage ins Land gezogen. Reichlich Zeit, in der Sextus auch noch einmal hatte nachdenken können, so dass, als das Thema neuerlich auf den unabwendbaren Botengang zu den Truppen Germanias zu sprechen kam, Sextus diesmal einwilligte, sich auf den Weg zu machen. Nicht, weil er gerne dahin wollte – wer reiste schon gerne? - oder weil er sich in der Verantwortung zu seinem Vetter sah. Es war schlicht, dass er niemanden geeigneteren unter den verbliebenen Möglichkeiten sah. Zumindest niemanden, dem er die Verhandlungen unter den gegebenen Bedingungen vorbehaltlos zutraute. Gracchus war zu flavisch, der Tiberius zu jung und ohne Rückhalt. Abgesehen davon, dass Sextus bei letzterem insistiert hätte, jemand anderen zu schicken, wollte er doch in der vagen Hoffnung auf spätere Partizipation am tiberischen Restvermögen mittels seiner Cousine und ihrem Kind die Möglichkeit ausschließen, dass der Kerl sich einen Namen machte.
Als Begleitung, um mit dem schwierigen Claudier zu verhandeln, hätte Sextus wiederum wohl auf Flavius Gracchus vertraut, doch hatte sich anderes ergeben.
Der Vorteil dieser immer neuen Aufschübe lag dafür nun in der Möglichkeit, sich direkt nordwärts wenden zu können, und nicht erst weit in den Westen Italias reisen zu müssen, um an der Küste entlang an den Alpes vorbeizugelangen. Noch war das Frühjahr zwar nicht zu weit vorangeschritten, aber die Pässe sollten den Weg freigegeben haben. Und welcher Monat wäre besser geeignet, um Kriegspläne auf den Weg zu bringen, als der des Mars?
Ursus hatte Sextus einige Männer als Eskorte mitgegeben. Ihre Gruppe war klein genug, um schnell voran zu kommen, aber groß genug, um nicht aufgehalten zu werden. Oder überfallen. Sextus schätzte den Gedanken sehr, in einem Stück zu dem Annaeer zu gelangen, ohne Zwischenfälle. Aber mehrere gerüstete und bewaffnete Personen schreckten wohl die meisten Räuberbanden ab. Auch Sextus hatte bequeme Reisekleidung gegen eine stärkere Bewehrung getauscht, sicher war sicher. Er wollte nicht offensichtliches Entführungsziel ihrer Gruppe sein, indem er aus der Menge herausstach.
Der Weg führte also nordwärts. Verona ließen sie rechterhand liegen und wandten sich direkt der Straße nach in Richtung Mediolanum, von wo aus es nach Norden in die Alpes nach Clunia in Raetia gehen sollte, und von dort dann nordwestlich am Lacus Venetus und am Rhenus entlang bis nach Mogontiacum. So zumindest war der Plan. Den Sextus jetzt schon verabscheute, schloss er doch wochenlangen Aufenthalt auf einem Pferderücken ein - etwas, das Sextus für den Rest seines Lebens zu vermeiden gedachte.
“Was meinst du, Centurio, wie lange, bis wir Gewissheit haben, ob die Pässe passierbar sind oder nicht?“ fragte Sextus den ranghöchsten seiner Reisebegleiter, bei welchem er sich hiermit um Konversation bemühte. Weniger aus Beschäftigungsgründen. Vielmehr wollte er den Mann kennenlernen, wozu die Reisezeit wohl ausreichend Gelegenheit bot, wenn sonst schon wenig positives. Immerhin musste er einschätzen können, inwieweit er vertrauenswürdig war, lag seine Sicherheit und der Verbleib seines Kopfes aus Sextus' Schultern doch maßgeblich in den Händen dieses Mannes, den Ursus zwar als vertrauenswürdig beschrieben hatte, was für Sextus allerdings noch nicht viel heißen musste.