Collegium Haruspicum LX

  • Viel war vom Collegium Haruspicum nicht mehr in Rom. Die Räumlichkeiten wirkten sehr leer, als die verbliebenen Haruspices sich hier zusammenfanden, um über die neuesten Wünsche des Kaisers zu debattieren.
    Der Älteste unter ihnen ergriff auch sogleich das Wort, als die neun in Rom verbliebenen Männer von ehemals dreißig sich gesetzt hatten. “Meine Brüder, der Imperator Vescularius hat bei seiner Inaugation darum gebeten, die aus Rom geflüchteten Männer ihren kultischen Ämtern zu entheben.“
    “Befohlen, trifft es wohl eher“, warf der erste ein.
    “Und wie stellt er sich das vor? Wir sind eine etruskische Institution, keine römische. Von uns ist die Hälfte beständig außerhalb Roms, wenn nicht mehr!“ gab der zweite noch zu bedenken.
    “Ja, aber sollten wir nicht den Wünschen des Imperators entsprechen? Er wird sicher sehr ärgerlich reagieren, wenn wir ihnen nicht nachkommen.“ Nichts tun war ja auch keine Option, auch wenn sie nicht unbedingt beschlussfähige Stärke hatten.
    “Ja, sicher wird er das, aber das ändert ja nichts! Er ist kein Mitglied des Ordo, und kann daher über die Mitglieder des Ordo auch gar nicht bestimmen. Er ist ja nicht mal Etrusker, und besonders götterfürchtig ist er auch nicht. Zeichen hat er von uns auch keine lesen lassen.“
    “Dennoch ist er der Kaiser, und als solcher berechtigt, über jeden Bürger des Reiches zu richten.“
    “Naja, das ist ja noch nicht letzten Endes bewiesen, dass er es ist. Er hat sich von den Auguren bestätigen lassen, aber die...“ Kurz ging ein abfälliges, raunendes Lachen durch die Männer.
    “Aber was schlagt ihr dann vor? Nichts tun können wir nicht, sein Wunsch war eindeutig, und selbst, wenn er nicht Kaiser bleiben sollte, sollten wir neun uns nicht unbedingt mit ihm anlegen.“
    “Lassen wir doch Tarquinia das erledigen? Dort ist ja ohnehin der Hauptsitz des Collegiums, sollen die sich mit dem Problem rumschlagen!“
    Kurz stockten die Männer und überlegten den Vorschlag, ehe sich zustimmendes Gemurmel unter ihnen breitmachte.


    “Gut, setzen wir einen Brief auf.“ Er winkte einem der Scribae, dass er mitschrieben sollte. “An das Collegium Pontificum in Tarquinia.
    Geehrte Brüder. Imperator Vescularius Salinator erbat, die aus Rom geflüchteten Mitglieder des Collegiums aus ihren kultischen Aufgaben zu entlassen. Dies betrifft aus unseren Reihen Sextus Aurelius Lupus, Tiberius Larcius Caecinae, Marcus Cilnius Gallus, Thucer Hanunia, Venel Tlesna....“
    Es folgten noch weitere Namen, bis schließlich 21 zusammengekommen waren.

  • Nachdem mit dem etruskischen Heer nicht nur Bewaffnete nach Rom gekommen waren, sondern auch etliche Männer aus dem hohen Stand der Haruspices, nutzte man diesen Umstand, einmal eine große Sitzung des Collegiums in Rom abzuhalten und von dem dualen Prinzip mit beiden Hauptsitzen in Rom und Tarquinia abzuweichen. Immerhin ermöglichte dieser wenngleich unglückliche Zustand einmal, sich intensiv auszutauschen, ohne Boten mit den jeweiligen Entscheidungen auf tagelange Reisen zu schicken.


    Und so war der Sitzungssaal des Collegium Haruspicum LX überraschend gut gefüllt – wenngleich er auch natürlich nicht die eigentliche Sollstärke von sechzig Mann aufwies. Letzteres allerdings hatte er in den vergangenen hundert Jahre ohnehin nie, da beständig Jungen fehlten, die diese schwierige und langjährige Ausbildung absolvierten.
    Und so wurde dieses eine Mal die Wahl erheblich erleichtert, wer für die nächste Zeit – bis zum Rücktritt oder der Entscheidung über einen würdigeren Amtsinhaber – eben diese Ansammlung von weitestgehend autark handelnden Männern nach Außen hin leiten würde.


    Sextus lehnte sich zufrieden auf seinem Sitz zurück. Ein Drittel des Collegiums schuldete ihm sein Leben, da er die Flucht von sage und schreibe 21 Mitgliedern möglich gemacht hatte, sehr zu Lasten seines eigenen Geldbeutels. Bei einem weiteren Drittel, vornehmlich der angekommenen Haruspices, baute er gänzlich auf den Einfluss seines alten Lehrers Marcus Cilnius Lanatus, der in Tarquinia wie auch in Velutonia großen Einfluss hatte. Leider war der Mann zu alt gewesen, um selbst am Feldzug teilzunehmen. Erfreulicherweise allerdings hatte er seinen Sohn mitgeschickt, ihn zu vertreten, und jener war Sextus noch aufgrund der einstigen Schülerzeit durchaus bekannt. Vor Beginn dieser Sitzung hatte er sich lange mit ihm unterhalten – bis sie schon beinahe zu spät gekommen wären. Erst als die anderen Mitglieder schon hineingegangen waren, schlossen sie sich schließlich an und unterbrachen ihre Unterhaltung.


    So oder so konnte Sextus äußerst zufrieden in diese Sitzung gehen. Und so hörte er zu, wie in seiner Muttersprache sich ausgetauscht wurde über die Zeichen, die gelesen worden waren – im Übrigen auch nach einem Schriftwechsel zwischen ihm und seinem Lehrer, wenngleich dies etliche Beteiligte nicht wussten. Und über den Krieg an sich. Über die neuen Zeichen, die aus dem soeben auch geopferten Schaf gelesen wurden – nicht nur aus der Leber, sondern aus allen Innereien und dem Rauch, während diese verbrannten. Natürlich beteiligte er sich auch hier und da mit einem Einwand,im großen und ganzen aber genoss er eher, sich hier einmal mit Gelehrten austauschen und fachsimpeln zu können.


    Noch mehr allerdings genoss er das, was folgte. Nach einem schier endlosen Vortrag über die Zeichen und die Zukunft und Zeitalter und wie man ihnen begegnen könne, ja, müsse, kam einer der Haruspices, die mit ihm zusammen damals bei der Prozession geflohen waren aus Rom, endlich zu dem entscheidenden Punkt “... und aus all diesen Gründen nominiere ich Sextus Aurelius Lupus für das Amt des Ersten unter uns, da sein Weitblick und sein Einfluss nicht nur in der Vergangenheit zum Nutzen und Wohl der Mitglieder des Collegiums und dem Ansehen der Haruspices gereichten, sondern er meiner Auffassung nach uns allen in diesem Amt noch weit mehr Einfluss, Voraussicht und Leitung zuteil werden lassen kann.“
    Und wie auf Bestellung applaudierte die Hälfte aller Anwesenden bei eben jenem Vorschlag, den Sextus mit stoischer Ruhe und augenscheinlicher Demut aufnahm. Wenngleich es hierbei durchaus schwerer war als zu anderen Zeiten, sich ein Lächeln zu verbitten.
    Noch drei weitere Männer wurden vorgeschlagen, konnten allerdings so natürlich nicht die nötige Mehrheit auf sich vereinigen. Also dauerte es auch nicht außerordentlich lange, die noch fehlenden, wenigen Stimmen bei der folgenden Abstimmung schließlich ebenfalls noch dazu zu bewegen, für den Aurelier zu stimmen.

  • Nach der Wahl gab es natürlich noch weitere Diskussionen. Die längste galt der frage, ob die Herrschaft des Corneliers ein neues Saeculum einläutete oder nicht. Es war ganz eindeutig, dass der Bürgerkrieg einen Wendepunkt darstellte und eine wichtige, geschichtliche Marke setzen würde. Soviel war unstrittig. Und da man sich vor dem Krieg darauf geeinigt hatte – nicht ohne ein wenig Nachhilfe von Sextus selbst – dass die Zeichen den Cornelius präferierten, blieb die Frage, ob wirklich ein neues Zeitalter nun angefangen hatte.
    Allerdings war diese Frage ganz und gar nicht einfach zu beantworten. Die letzten Säkularfeiern waren unter Domitian gewesen, und das war erst 22 Jahre her. Allerdings hatte dieser Kaiser auch nicht die eigentliche Wartezeit von 110 Jahren abgewartet, ebensowenig wie Claudius vor ihm. Ausgehend von den Säkularfeiern des Augustus aber war die Zeitspanne allerdings verstrichen. Zumindest unter der Maßgabe, dass Handlungen der Menschen die von den Göttern festgelegten Zeitspannen um bis zu zehn Jahre verlängern oder verkürzen konnten.


    Jedoch verstanden die Römer den Sinn der Säkularsfeiern ohnehin nicht richtig und hatten sie für ihre Zwecke entfremdet. Im ursprünglichen Sinne war ein Saeculum eine vollständige Generation, ein Menschenleben. Wenn niemand mehr lebte, der den Beginn des letzten Saeculums erlebt hatte, begann das nächste. Das Problem war nur: Die Anzahl an Seacula war begrenzt. Die Götter hatten jeder Stadt, jeder Nation, nur eine gewisse Anzahl an Seacula zugedacht. Waren diese verbraucht, ging das Reich unweigerlich unter. Das Etruskerreich hatte zehn Saecula von den Göttern erhalten, und als diese aufgebraucht waren, waren die Römer gekommen und hatten weite Teile erobert, bis die Haruspices nachgerechnet hatten und die Obersten ihrer Städte davon in Kenntnis gesetzt hatten, dass die Zeit ihres Reiches unweigerlich vorbei war.
    Daher war die Hemmschwelle groß, der augusteischen Rechnung der Seacula zu folgen und ein neues zu verkünden, denn dieses war dann eines näher am Untergang des römischen Reiches.


    Kurzum, es musste da noch viel weiterdiskutiert werden. Allerdings an einem anderen Tag.



    Sextus nutzte also das Ende der Besprechung schließlich, um sich mit seinem alten Freund Marcus Cilnius Minor weiter zu reden. Und da eine Angelegenheit zu besprechen, die ihm ebenfalls am Herzen lag.
    Nach dem üblichen Geplänkel und der Rekapitulation der vorangegangenen Debatten kam Sextus, an eine Säule lehnend, also zur Sache.
    “Aber sag, Minor, wie geht es eigentlich deiner jüngsten Schwester? Ich meine... Attilia?“
    “Ich glaube, du meinst Romola. Attilia heißt meine Frau. Aber beiden geht es sehr gut. Meine Schwester ist sehr glücklich in ihrer Ehe, und wird gerade zum dritten Mal Mutter. Es ist furchtbar, sie war eine so zierliche Person, und jetzt sieht sie aus wie ein in der Sonne gegangener Teig...“
    Sextus überlegte kurz. Glückliche Ehe klang schlecht für sie Vorhaben. “Ich hatte überlegt, deinen Vater zu fragen, ob sie nicht mich heiraten könnte, zur Stärkung unserer Verbindung.“
    Minor sah Sextus zweifelnd an und atmete langgezogen aus. “Ich denke, das wird wenig Erfolg haben. Wie gesagt, ihre Ehe ist sehr glücklich, und Vater diesbezüglich etwas sentimental. Abgesehen davon ist ihr Mann ein angesehenes Mitglied der Stadt Tarquinia.“
    Das war in der Tat ärgerlich, und Sextus schürzte einmal kurz missmutig die Lippen. Diesen Plan konnte er also vermutlich aufgeben. “Hm.“
    “Tja, so ist das nunmal“, meinte Minor so dahin.

  • Haruspex Primus zu sein war langweiliger, als es üblicherweise so schien. Das Volk von Rom war offenbar sehr wenig an genaueren Zukunftsvoraussagen interessiert, so dass die Haruspices im Allgemeinen und Sextus im Speziellen wenig zu tun hatten. Es gab wenige Opfer, zu denen ihre Fachmeinung gefragt war, und natürlich gab es - wie zu jeder Zeit und immer – das Problem der vielen Wahr- und Quacksalber entlang der Straßen rund um den Circus Maximus. Die ärmeren Bevölkerungsschichten ließen sich lieber dort von einer Syrerin mit bemaltem Gesicht aus der Hand lesen, als einen Haruspex aufzusuchen. Was natürlich damit zusammenhängen mochte, dass besagte Handleserin dies für drei Asse tat, ein Haruspex da aber doch unwesentlich kostspieliger zu beauftragen war.


    Nichts desto trotz, das war eine Entziehung der Geschäftsgrundlage, über die heute in der Sitzung der Haruspices diskutiert wurde.
    “Haben wir irgendwelche Zahlen über die Stände dort? Oder gar über die Besucher dieser Betrüger?“ fragte Sextus, nachdem die Diskussion den ersten hitzigen Höhepunkt des Dort-sind-alles-Halsabschneider-werft-sie-aus-der-Stadt überschritten hatte und so langsam Ruhe einkehren konnte.
    “Wir können nur schätzen, denn wer an einem Tag hier an der Ecke sitzt und mit Hühnerknochen rasselt, um Wunderheilungen anzubieten, sitzt am nächsten Tag woanders mit bemaltem Gesicht und erstellt Horoskope!“
    Beim letzten Wort verzogen die meisten Haruspices angewidert das Gesicht. Dieser aus Parthien, Ägypten und Babylon herübergekommene Unsinn war Quacksalberei der schlimmsten Art. Nur leider war eben das sehr beliebt, und wer nicht gerade so dumm war, sich ein Horoskop für einen anderen (gar den Kaiser) ausstellen zu lassen, konnte strafrechtlich nur schwer belangt werden.
    “Mit anderen Worten, wir haben gar nichts?“
    Das anschließende Gemurmel ließ mehr oder weniger den Schluss zu, dass sie absolut gar nichts hatten. Wie sollte man so arbeiten.
    “Wir könnten ja die Stadtwache um Hilfe bitten, dass sie da mal die... schlimmsten Auswüchse schonmal entfernt und die Leute dort verhört?“
    Yiipieh... dachte Sextus. “Dafür bräuchten wir denke ich einen konkreten Anlass. Ich bezweifle, dass der Praefectus Urbi anordnen wird, drei Straßenzüge 'einfach nur so' durchsuchen zu lassen.“
    “Naja, aber man könnte doch mal fragen?“

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!