• O Fortuna
    velut luna
    statu variabilis,
    semper crescis
    aut decrescis;
    vita detestabilis
    nunc obdurat
    et tunc curat
    ludo mentis aciem,
    egestatem,
    potestatem
    dissolvit ut glaciem.


    Sors immanis
    et inanis,
    rota tu volubilis,
    status malus,
    vana salus
    semper dissolubilis,
    obumbrata
    et velata
    michi quoque niteris;
    nunc per ludum
    dorsum nudum
    fero tui sceleris.


    Sors salutis
    et virtutis
    michi nunc contraria,
    est affectus
    et defectus
    semper in angaria.
    Hac in hora
    sine mora
    corde pulsum tangite;
    quod per sortem
    sternit fortem,
    mecum omnes plangite!



    Kein Sterblicher wird jemals Fortunas Pläne ergründen können. Jenem, dem sie gestern noch hold war, kann sich heute schon zerschellt am Boden wiederfinden. Obschon es ihm morgen erneut gelingen mag, eneut nach den Sternen zu greifen. So sind wir doch alle nur Figuren in einem Spiel, welches ewig zwischen Glück und Pech, gut und böse, hin und her pendelt. Daher ist kaum vorhersehbar, was der nächste Tag dir bringen könnte. Ist es der Ruhm oder gar der Tod, der dich erwartet? Die Götter spielen mit uns, ganz wie es ihnen beliebt. Seien wir nun von niederer Herkunft oder einer großen und mächtigen Familie entsprungen. Am Ende werden wir nur zu Staub.


    So sei zunächst dem geneigten Leser ein kurzer Einblick in das Leben der jungen Flavia Domitilla gewährt, mit deren Schicksal sich die Götter just einen Spaß erlauben, um sich so etwas Kurzweil zu verschaffen.
    Gestern noch hatte sie glaubt, die Welt läge ihr zu Füssen. Doch falsch gedacht! Gleich am nächsten Tag sollte sie sich in einem Gefängnis wiederfinden. Was Fortuna ihr wohl morgen bescheren wird?

  • Wir erinnern uns, nach Domitillas unrühmlichen Verhalten auf der tiberisch-aurelischen Sponsalia, hatte ihr Vater Cnaeus Flavius Aetius sie von Rom nach Ravenna zurückbeordert. Dort sollte sie fortan, gänzlich zurückgezogen, ihre Tage fristen. Ihrer vertrauten Sklaven beraubt, den Kontakt zu ihrer Mutter verwehrt und ständig unter dem wachsamen Auge ihres Vaters, brach eine schwere Zeit für das verwöhnte Mädchen an. Lediglich Amalthea, ihre alte Kinderfrau war ihr geblieben, die auch ihre einzige Vertraute bleiben sollte, in den Jahren, die anbrachen.


    Die Zeit ging nicht spurlos an der jungen Flavierin vorbei. Aus dem einst so lebensfrohen Kind wurde allmählich eine ansehnliche junge Frau, misstrauisch und rücksichtslos gegen all jene, die nicht mit ihr im Bunde waren. Immer öfter versuchte sie gegen ihren Vater aufzubegehren, was selbstredend nicht ohne Folgen bleiben konnte.
    Also beschloss Cnaeus Flavius Aetius kurzerhand seine Tochter an die liebe Verwandtschaft nach Baiae weiterzureichen. Dort sollte sie einige Zeit bleiben, bis alles für Notwendige für ihre Hochzeit mit einem alten Freund ihres Vaters geregelt war.
    Der Gedanke, das eheliche Bett mit einem Mann zu teilen, der so alt wie ihr Vater war, rief einen regelrechten Ekel in der jungen Flavia hervor. Dennoch ließ sie sich nichts anmerken. Ganz im Gegenteil, sie begrüßte sogar die Bestrebungen ihres Vaters, sie so schnell wie möglich zu verheiraten. Sah sie doch darin die Möglichkeit, endlich der väterlichen Aufsicht entfliehen zu können.


    Der Tag der Abreise war für Domitilla ein innerliches Freudenfest. Die Tränen des Abschieds reine Maskerade! Begleitet von vier seiner besten custodes, zwei Sklavinnen, die für das Wohl der Flavia verantwortlich waren und der Kinderfrau Amalthea, entließ der alte Aetius seine Tochter aus seiner Obhut. Wohlweißlich hatte er ihre Reiseroute großzügig um die urbs aeterna gewählt. Die junge Flavia sollte nicht in Versuchung geführt werden, dem überschwänglichen Leben Roms zu erliegen.
    So rollte der Wagen Stunde um Stunde Tag um Tag gen Süden, vorbei an nichtssagenden Dörfen. Das ständig milde Lächeln Amalteas und die ausdruckslosen Gesichter der beiden Sklavinnen war alles, was Flavia Domitilla während der Reise zu Gesicht bekam. Gelangweilt schwirrte ihr Blick manchmal zu der Öffnung des Reisewagens, damit ihre Augen wenigstens ein klein wenig Abwechslung erhielten. Doch was sie da sahen war nur menschenleere Einöde.


    Gegen Nachmittag zogen am Himmel dunkel drohende Wolken auf. Aus der Ferne war bereits ein Donnergrollen zu vernehmen. Ein Unwetter nahte bereits. Die junge Flavia hatte inzwischen ein Gespür dafür entwickeln können, sobald sich die Fahrgeschwindigkeit des Wagens änderte. Diesmal, so glaubte sie, konnte sie sogar die Nervosität des Kutschers spüren, der die beiden Pferde mit allen Mitteln antrieb, damit der Wagen noch etwas schneller fuhr, um so die nächste rettende Herberge auf ihrem Weg noch rechtzeitig zu erreichen.
    Der Wind nahm zu und vereinzelt verirrten sich einige Tropfen Regen auf die Erde hinab. Im Grunde genommen war es bereits zu spät, als der Kutscher endlich der Tatsache gewahr wurde, dass er direkt auf das Unwetter zusteuerte.
    Als hätte sich Iupiter Höchstselbst gegen die Sterblichen verschworen, schickte er heftige Blitze zur Erde hinunter, die mit immer lauterwerdendem Donnergrollen einher gingen. Dicke Regentropfen begannen bedrohlich auf das Dach des Wagens zu trommeln. Nun wich sogar das immerwährende Lächeln aus dem Gesicht der Kinderfrau und selbst die beiden Sklavinnen , die bisher keinerlei Emotion gezeigt hatten, sahen sich nun angstvoll um.
    Indes forderte der Kutscher das Äußerste von den Pferden und auch die custodes, die die Kutsche zu Pferd begleiteten, waren längst in Galopp übergegangen.
    Als sich direkt über ihnen der unterspülte Hang löste und mit einem lauten Krachen herniederging, reagierte der Kutscher reflexartig. Unglücklicherweise steuerte er damit den Wagen dem Abgrund entgegen. Doch die Lawine aus Schlamm und Geröll war schneller und so verschluckte sie alles, was sich ihr auf ihrem Weg nach unten entgegenstellte. Wie Spielfiguren wurden die Reiter samt Pferden mit fortgerissen. Der Wagen überschlug sich mehrmals bevor er endgültig an einem Felsen zerschellte. Was davon übrig blieb, wurde unter dem Schlamm begraben oder mit ihm davon gerissen.


    Es sollte noch die ganze Nacht kontinuierlich weiterregnen. Erst der Morgen versöhnte sich wieder mit der Sonne. Die grauen Wolken hatten sich längst schon aufgelöst. Die Luft war klar. Nichts deutete am Himmel mehr darauf hin, welches Unheil wenige Stunden zuvor hereingebrochen war. Dabei hatten sich bereits die ersten düsteren Schatten über die Geschicke des Imperiums gelegt und noch weitere, weitaus bedrohlichere sollten noch folgen.
    Jedoch waren die Wunden, die das Unwetter in die Landschaft gerissen hatten, unübersehbar. Dort, wo noch gestern eine Straße verlief, türmte sich nun Geröll und trocknender Schlamm. Das Unwetter hatte eine Schneise der Zerstörung hinterlassen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich über der Unfallstelle ein immer penetranter werdender Geruch des Todes breitmachte, der Fliegen und anderes Ungeziefer anlockte.
    Vielleicht zwei oder drei Tagewürde es dauern, bis man dem Verbleib des falvischen Wagens nachgehen würde. Früher oder später würde man unweigerlich an den Platz des Unglückes gelangen und feststellen, dass es keine Überlebenden vor Ort mehr gab. Doch die herannahenden Ereignisse im Reich würden den Flaviern kaum Zeit zur Trauer lassen.

  • Auch in der jungen Flavia stieg unaufhörlich die Furcht, als der Wagen wie wild über das Pflaster der Straße polterte, die Regentropfen bedrohlich laut gegen den Wagen schlugen und das Gefährt von den heftigen Windböen hin und her gezerrt wurde. Dann das laute Zischen des Donners, das die Frauen erzittern ließ und die gleißend hellen Blitze. Eine der Sklavinnen stimmte ein von Angst getriebenes Klagen an und beschwor die Götter, sie mögen ihnen helfen. Domitilla jedoch vermied es, ihr Gehör zu schenken. Ihre Sinne erfassten nur das Wüten des Unwetters und die Erschütterungen des Wagens. Es schien so, als wäre das Gewitter nun direkt über ihnen.
    Und dann war da plötzlich dieses grollende Geräusch, welches allerdings nicht vom Donner herrührte. Leicht hätte man es damit verwechseln können. Doch dieses Grollen war wesentlich intensiver, tiefgründiger, dass es sogar die Erde erzittern ließ. Bevor Domitilla noch einen Blick hinauswerfen konnte, wurden sie und die anderen Frauen von ihren Sitzplätzen gerissen. Nun begannen beide Sklavinnen hysterisch zu schreien, als sie urplötzlich nach hinten und dann zur Seite gerissen wurden. Die alte Kinderfrau stöhnte vor Schmerzen, denn ihr Kopf war sehr unsanft gegen die Wageninnenwand geschleudert worden. Die Flavia selbst hatte Glück gehabt, denn ihr Aufprall wurde durch die Körper der beiden Sklavinnen abgemildert. Doch was dann geschah, übertraf bis dahin alles Vorstellbare: Der Wagen begann zur Seite zu kippen. Wild schreiend, als hätten sie dadurch doch noch ihr armseliges Leben retten können, wurden die vier Insassen durcheinander geschleudert, bis schließlich der Wagen mit aller Wucht gegen einen Felsen prallte und zerbarst. Die Frauen wurden herausgeschleudert und zum Teil von den Trümmern des Wagens verletzt.
    Eine dickflüssige schlammige Masse, die sich über die Trümmer ergoss, riss alles mit fort, was nicht durch den Felsen oder von den großen sperrigen Trümmerteilen zurückgehalten wurde.

    Von den beiden Sklavinnen war nichts mehr zu sehen. Wenn sie nicht schon durch den Aufprall erschlagen worden waren, dann waren sie spätestens jetzt in den Schlammmassen umgekommen. Ebenso waren die begleitenden Reiter und der Kutscher einfach von den Fluten mitgerissen und davon geschwemmt worden.
    Amalthea, die alte Kinderfrau war direkt gegen die Felswand gedrückt worden und schließlich von einigen Trümmern des Wagens getroffen worden. Sie war auf der Stelle tot.
    Die junge Flavia war zwischen einigen größeren Trümmerteilen gelandet, halb begraben durch den Schlamm und größere Gesteinsbrocken. Sie hatte Verletzungen an Kopf, Armen und Beinen davongetragen. Es grenzte fast an ein Wunder, denn sie atmete noch schwach!


    Der Regen ließ in der Nacht nach. Die ersten Sonnenstrahlen des neuanbrechenden Tages begannen dem Boden rasch das überschüssige Wasser zu entziehen. Gegen Mittag hatte sich auf dem Schlamm bereits eine trockene Kruste gebildet.
    Domitillas Kopf pochte vor Schmerzen. Sie war im Laufe des Tages immer wieder kurzzeitig zu sich gekommen, war dann aber wieder in ihre Ohnmacht abgetaucht. Jegliche Versuche, sich zu bewegen waren gescheitert. Sie endeten immer damit, dass sie furchtbare Schmerzen verursachten. Also blieb Domitilla regungslos liegen und hoffte auf einen baldigen Tod.


    Als die Nacht hereinbrach, befiel sie die plötzliche Angst vor wilden Tieren, die es hier in der Wildnis zweifellos gab, angelockt von dem Geruch toten Fleisches. Dies war die übelste Art, zu sterben. Und der Gedanke daran war schlimmer als alle Schmerzen zusammen. Zuerst wimmerte sie nur leise. Aus dem Wimmern wurden ein Klagen und aus dem Klagen ein erbärmlicher Schrei.

  • Die junge Flavia wurde Stunde um Stunde schwächer. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis das letzte Fünkchen Leben endgültig aus ihr gewichen war. Benommen nahm sie lediglich noch peripher wahr, wie auf die Nacht ein neuer Tag gefolgt war und wie der Lauf der Sonne den Zenit erreicht hatte.
    Wenn doch endlich der Tod käme, sie würde ihn wie einen Freund in die Arme schließen und sein Kommen wie ein Geschenk feiern. Doch als wollten sich die Götter an ihrem Elend ergötzen, führten sie sie nicht zu den Gestaden des Styx.
    Stattdessen ließen sie es geschehen, dass ein junger Ziegenhirte in Begleitung seiner Tiere und seines Hundes in der Nähe der Unfallstelle vorbei kam. Das Unwetter hatte auch in seinem Dorf große Schäden angerichtet. Drum war er wenig überrascht, als er das Ausmaß der Schlammlawine auf der Straße sah. Auf den ersten Blick war von den Trümmern des flavischen Wagens nichts zu sehen. Nur als sein Hund sich den inzwischen getrockneten Schlammablagerungen und dem abgegangenen Geröll näherte und Interesse bekundete, beschloss auch der Junge, sich umzusehen. Eigentlich hatte er den Hund zurückholen wollen. Doch der schien alle Anweisungen seines Herrn zu überhören. Laut bellend begann das Tier auf etwas aufmerksam zu machen. Der Junge, näherte sich mit seinem Stock drohend dem Hund, um ihn zum weitergehen zu bewegen. Da entdeckte auch er einige Trümmerteile des Wagens. Und dort, wo sich sein Hund befand, schien noch etwas anderes zu liegen. Sein Ärger wich einer regen Neugier.


    Das Gebell des Hundes schien aus anderen Tagen herzurühren. Besseren Tagen, zu Hause bei ihrer Mutter in Aquilea, als sie noch ein Kind gewesen war. Domitilla machte sich nicht mehr die Mühe, die Augen aufzuschlagen, denn dass was sie zu sehen bekam waren nur die Trümmer, der Staub und der Dreck, die ihr Leben in einigen Stunden beschließen würden. Außerdem würde sie die erbarmungslose Sonne, die auf ihr Gesicht niederbrannte und ihren Körper austrocknete, nur blenden. Was hätte sie nur für ein paar Tropfen Wasser gegeben, die ihr Leid etwas milderten!


    Etwas Raues, Feuchtes strich durch ihr Gesicht. Eines von Amaltheas feuchten Leintüchern, mit denen sie ihr früher die Schweißperlen von der Stirn gewischt hatte, wenn sie krank war und fieberte. Eine beruhigende schöne Vorstellung, die ihr ein wenig die Angst nahm, vor dem, was noch vor ihr lag. Vielleicht war das schon das Ende. Domitillas Augen öffneten sich einen Spalt. Das wohlige Gefühl wich sofort, als sie die Bestie über sich sah. Die hechelnde Zunge, die spitzen weißen Zähne und der üble Geruch. Für einen kurzen Moment kehrten noch einmal ihre Lebensgeister zurück, die sich gegen dieses Tier wehren wollten und die durch die Anspannung sofort wieder durch den pochenden Schmerz ihrer eingeklemmten Glieder gehemmt wurden. "Nein, nein!" , hauchte sie mir letzter Kraft. "Geh weg!" Die Vorstellung, bei lebendigem Leib gefressen zu werden, mobilisierte ihre allerletzten Kräfte und ließ sie hysterisch werden. Selbst dann, als der Junge seinen Hund zur Seite schob und damit begann, die junge Frau zu befreien. Letztendlich verlor sie wieder die Besinnung. Kraftlos ließ sie sich einfach in ungeahnte Tiefen abgleiten, um bestenfalls nie wieder empor steigen zu müssen.

  • Als die Flavia wieder ihre Augen vorsichtig aufschlug, fand sie sich an einem halbdunklen Ort wieder. 'Ist es so, wenn man tot ist?', fragte sie sich selbst. Doch diese Frage konnte sie sich schon recht bald selbst beantworten. In dem Moment, als der latente Schmerz, den sie bereits nach dem Unfall empfunden hatte, wieder in ihre Glieder zurückkehrte, wurde ihr bewusst, dass sie noch immer unter den Lebenden weilte.
    Der Versuch sich zu bewegen, endete mit einem qualvollen Seufzer. Eine Welle heftigen Schmerzes übermannte sie, der nur ganz langsam wieder abebben wollte. So vermied sie jegliche Bewegung.
    Allmählich realisierte sie, dass sie auf etwas hartem lag, welches sich nicht gerade angenehm auf der Haut anfühlte. Ihre Nase nahm Gerüche war, die ihr fremd waren und die sie auch gar nicht richtig einordnen konnte.
    Dann war ihr, als höre sie Stimmen. Die Tatsache, dass sie jemand gefunden haben mochte und dass sie nun unter Fremden war, bescherte ihr ein ungutes Gefühl. So wie die Dinge sich gestalteten, war sie diesen Leuten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, ganz gleich, was sie mit ihr im Schilde führten. So nahm sie all ihren Mut zusammen und rief: "Hallo, ist da wer?"
    Einige Zeit später öffnete sich eine Tür. In einem, für Domitillas Augen grell erscheinendem Licht getaucht, erschien eine Gestalt, die näher trat und sich schließlich zu ihr hinab beugte. Eine Hand legte sich auf ihre Stirn. "Du bist endlich wach. Das ist gut. Wir hatten uns schon Sorgen gemacht.", sagte eine gütige Stimme.
    "Wer ist wir? Wer bist du und wo bin ich?", fragte die Flavierin mit zittriger Stimme. "Keine Angst, du bist in Sicherheit. Ich bin Corinna. Mein Sohn hat dich vor fünf Tagen gefunden und in unser Dorf gebracht."
    Domitllas Augen hatten sich inzwischen an das Licht gewöhnt. Nun konnte sie in das Gesicht einer Frau blicken, die im Alter ihrer Mutter war. Nur sahen ihre Augen viel müder aus. Ihre Haut schien von der Sonne gegerbt zu sein und ihre Kleidung war einfach. Viel einfacher, als die ihrer Sklaven.
    "Vor fünf Tagen? War ich solange… Und was ist mit den anderen? Was ist mit Amalthea?" Domitillas Stimme begann zu beben. Doch in ihrem Inneren konnte sie schon ahnen, dass es die alte griechische Kinderfrau nicht geschafft. Aufblitzende Bilder, Erinnerungsfetzen an den Tag des Unfalls sagten ihr, das Amalthea tot war. So war Corinnas Kopfschütteln nur noch einmal eine Bestätigung dessen, was sie eh schon gewusst hatte. "Mein Sohn sagte, dass er mit seinem Hund nur noch Tote gefunden hat. Wir haben die Toten verbrannt und ihre Asche beigesetzt, wenn dich dass etwas trösten kann." Corinna strich der Flavia tröstend über ihre Wange und ihre Finger, die von der vielen Arbeit mit der Zeit rau geworden waren, spürten ihre Tränen. "Weine ruhig, mein Kind!"

  • Domitilla hatte wieder die Augen geschlossen. Die Trauer über das, was geschehen war, lag wie ein riesiger Klotz auf ihrem Herzen. Dass Amalthea nun nicht mehr an ihrer Seite sein sollte, um auf sie aufzupassen, ihr zu sagen was gut und schlecht in dieser Welt war und sie auf ihr späteres Leben als Ehefrau und Mitglied der feinen Gesellschaft vorzubereiten, schmerzte sie sehr. Ihr eigenes Schicksal hatte sie vorerst ausgeblendet. Doch einige Tage, als sie sich mit der neuen Situation langsam abgefunden hatte, wurde ihr nach und nach bewusst, was Amaltheas Tod und der schreckliche Unfall für sie selbst bedeutete. Die Verwandten in Baiae mochten sich sicher Sorgen machen, weshalb ihr Wagen nicht angekommen war. Womöglich würde man nach ihr suchen. Ganz sicher würde man nach ihr suchen! Schließlich war sie ja nicht irgendwer! Und auch ihr Zukünftiger … Ach ja, die geplante Hochzeit! Domitilla hatte diesen Punkt immer wieder versucht auszublenden. Einen Mann ehelichen zu müssen, der bereits seine besten Jahre hinter sich hatte, war wahrlich kein lukrativer Gedanke! Wie gut, dass Amalthea tot war! Und nicht nur das! Wie gut, dass alle anderen Sklaven, die ihre Identität hätten bezeugen können, ebenfalls Opfer des Unfalls geworden waren! Die Götter mussten es trotz aller ihrer Verletzungen gut mit ihr gemeint haben, dachte sich Domitilla und lächelte zufrieden ob der Umstände in sich hinein. Äußerlich gab sie selbstredend das untröstliche Mädchen, das nun ganz allein auf der Welt war und sich nicht einmal mehr richtig an seinen Namen erinnern konnte.
    Was sich so in den nächsten Tagen im Hirn der Flavia zusammenspann, grenzte nahezu an Rebellion! Wenn sie sich weiterhin mit ihrer Identität zurückhielt, konnte sie niemand finden. Wenn sie niemand fand, war sie frei! Irgendwann, wenn sie wieder auf den Beinen war, würde sie ihre Wohltäter verlassen und sich dann zu ihrer Schwester nach Rom durchschlagen. Doch bis dahin sollten noch viele Tage vergehen! Zuerst mussten die Wunden und Knochenbrüche der Flavia heilen. Dennoch war für sie das Schmieden neuer Pläne eine gute Medizin.


    Auch Corinna blieb dies nicht ganz verborgen. Jeden Morgen sah sie nach ihrer Patientin, die sich nicht an ihren Namen erinnern konnte. Ein Lächeln umschmeichelte den Mund der jungen Frau, selbst dann noch, als sie ihren Verband wechselte und sich ihre geschienten Beine ansah.
    "Wie ich sehe, geht es dir heute schon besser! Du lächelst wieder. Das ist gut!", sagte Corinna. "Ich hatte heute Nacht kaum Schmerzen – Dank deiner Medizin!", erwiderte Domitilla. Was tatsächlich in ihr vorging, behielt sie für sich. Als Corinna fertig war, holte sie einen Weidenkorb hervor, den sie neben sich abgestellt hatte. "Mein Sohn hat etwas abseits der Unfallstelle einige Sachen gefunden. Er meinte, sie gehören vielleicht dir." Sie zog einige Kleidungsstücke hervor, die sie zuvor gewaschen und ordentlich in dem Korb verstaut hatte. Domitilla besah sich die Kleider, die sie als ihr Eigentum wiedererkannte und strich mit ihrem Finger darüber. "Ja, ich glaube schon, das sind meine. Hat dein Sohn noch mehr gefunden?", fragte sie vorsichtig. Corinnas Augen wandten sich nicht von Domitilla ab, als sie ein weiteres Stück Stoff aus dem Korb nahm. "Das hier noch. Ich wusste nicht genau, was es ist. Der Stoff ist sehr edel. Und sieh nur dieses Zeichen! Mit goldenen Fäden darauf gestickt. Weißt du, was das zu bedeuten hat. Der Dorfälteste meinte, es wäre vielleicht das Zeichen von einer reichen Familie. Deiner Familie!" Domitillas Augen weiteten sich etwas, als sie das rote Tuch erblickte, das einmal den flavischen Wagen, mit dem sie gereist war, geziert hatte. Ihre Finger strichen über die raue Stelle, auf der das flavische Wappen mit dem goldenen Caduceus gestickt war. "Ich… ich kann mich nicht erinnern!" begann die Flavia zu stottern und wirkte plötzlich ganz verstört.

  • „Oh Fortuna! Du Herrin des Schicksals, du Stifterin des Glücks, erhabene Göttin. Vor zwei Jahren war es dein Wille, mich an diesem Ort stranden zu lassen. Du, Königin des Zufalls hast dafür gesorgt, dass mich kein Unheil traf.Dafür bedanke ich mich, deine bescheidene Dienerin, oh erhabene Göttin. Auch heute bringe ich dir wieder meine bescheidenen Gaben dar und bitte dich inständig auch in Zukunft deine beschützenden Hände über mir zu halten.“ Weihrauch, Blumen und Kekse hatte sie als Gaben die Göttin mitgebracht, die sie nun hervorholte und vor dem Abbild Fortunas ablegte.
    „Oh Fortuna, Göttin des Glücks, ich bitte dich, leite mich stets, damit ich den richtigen Weg einschlage. Führe mich, wohin es dir beliebt, auf dass ich die Meinen wieder finde. Darum bitte ich dich, du Lenkerin der Geschicke.Wenn du mir gewogen bist, gute Göttin so gelobe ich, dir zu deinen Ehren ein großes Opfer darzubringen, in deinem Heiligtum in Rom.“


    Noch eine Weile innehaltend erhob sich die Flavia und wandte sich nach rechts um. Leichten Schrittes und guten Mutes verließ das kleine Heiligtum, welches ein ganzes Stück außerhalb des Dorfes gelegen war, das in den letzen zwei Jahren zu ihrem Refugium und Zufluchtsort geworden war.
    „Warum lächelst du so, kleine Schwester?“ Laenas, Corinnas ältester Sohn, hatte draußen auf sie gewartet. „Es ist immer eine Wohltat, wenn ich hierher komme, um Fortuna zu danken,“ entgegnete sie lachend.


    Nachdem Domitilla in dem kleinen Dörfchen im Apennin gestrandet war, wurde das Mädchen, dessen Erinnerung verloren gegangen war und dass nicht wusste, wer seine richtige Familie war, kurzerhand herzlich in die Gemeinschaft der Bewohner aufgenommen und Corinnas Familie wurde ihre Familie. So war es ihr die ganze Zeit gut ergangen. Selbst als das Reich von einem Bürgerkrieg heimgesucht wurde, waren nur Gerüchte hinauf in das Dorf gelangt, die jedoch die junge Flavia kaum tangierten. Gewiss, Domitilla spielte ihre Rolle gut, denn auf diese Weise war sie nicht nur ihrem hartherzigen Vater entkommen, nein auch dem unseligen Bräutigam, der sie in Baiae erwartet hatte, konnte sie so hinter sich lassen. Und wenn es stimmte, was man sich so erzählte, war es für eine junge Dame ihres Standes ein Segen, ein solch sicheres Versteck in den Zeiten von Salinators Regentschaft zu haben. Letztendlich hätte ihr Leben weiter so verlaufen können, fernab von familiären Verpflichtungen aber auch weit weg von jeglichem Luxus, welcher Domitilla von jung auf gewohnt war. Aber im Umfeld der jungen Flavia bahnte sich noch etwas anderes an…


    „Du bist so wunderschön wenn du lachst. Wie eine Blume…“ Laenas umschloss sie mit seinen Armen und drückte sie leicht an sich heran. Seit geraumer Zeit war das, was er für Domitilla empfand, mehr geworden und in jeder kleinen Geste versuchte er es ihr zu beweisen und hoffte darauf, dass auch ihre Gefühle für ihn gewachsen waren. Sachte versuchte er sie zu küssen. Es war kein Kuss, der ein Bruder seiner Schwester gab, nein, es war mehr. Er wollte mehr. „Nein, bitte! Hör auf damit! Laenas!“ Domitilla wehrte sich gegen seinen Versuch und bereite sich schnell aus seinen Armen. „Aber was hast du? Ich liebe dich doch Domitilla!“ Fast schon vorwurfsvollentgegnete er ihren abwehrenden Blicken. Sie war doch wie für ihn geschaffen, hübsch, klug und fleißig. Wie musste eine Frau denn noch beschaffen sein?
    „Ich kann dich nicht heiraten, Laenas!“ Ihr süßes Lächeln war nun Vergangenheit, herzzerbrechend wirkte ihre Stimme auf ihn. Er verstand die Welt nicht mehr. Laenas hatte einen Plan, er wusste, dass sie beide zusammengehörten. Seit dem Tag, an dem er sie gerettet hatte. „Aber… warum?!“ Seine Stimme klang wie die eines jammernden Kindes, dem man alle Annehmlichkeiten seines Spiels genommen hatte. „Ich bin… ich muss hier weg!“ Fluchtartig verließ sie ihn und rannte davon, so schnell sie nur konnte.

  • Zweifelsohne war der junge Mann ihr nachgerannt. Er verstand die Welt nicht mehr. Was war nur in sie gefahren? Nach ihrem Besuch des kleinen Heiligtums wa aus der Frau, die er so innig liebte eine Andere geworden. Und wieso konnte sie ihn nicht heiraten?! Es stand doch nichts zwischen ihnen! Niemand auf der Welt konnte Einspruch erheben auf ihre Verbindung.


    Schließlich hatte er sie am Rande des Dorfes doch noch eingeholt und zur Rede gestellt. „So sag mir doch bitte, warum? Domitilla. Ich liebe dich mehr als alles andere!“ Der arme Laenas litt Höllenqualen. Wenn sie ihm doch nur eine vernünftige Erklärung liefern könnte, weshalb sie sich plötzlich von ihm abwandte.
    „Leanas, bitte!“, ermahnte sie ihn streng, doch er ließ nicht locker. Er hatte sie mit beiden Händen an ihren Armen gepackt und würde sie erst wieder loslassen, wenn sie sich ihm erklärt hatte.
    Die junge Flavia indes rang mit sich, hatte sie doch noch kürzlich innige Gefühle für ihn gehegt. Der Besuch im Heiligtum aber hatte ihr die Augen geöffnet und sie empfänglich gemacht für das Wesentliche in ihrem Leben. Und dazu gehörte definitiv weder das Dorf noch Laenas selbst dazu. Sie war von hoher Geburt, keine dahergelaufene Landpomeranze. Auf sie wartete die urbs aeterna und nicht etwa eine stinkende Schafsherde.
    Dennoch versuchte sie es ihm begreiflich zu machen, mit einfachen Worten, auf dass er verstünde.
    „Du erinnerst dich doch an die feine Kleidung, die du damals bei dem Wagen gefunden hast und an dieses Stück roten Stoffs mit der Goldstickerei darauf. Weißt du noch? Der goldene Caduceus?“ Natürlich musste er sich erinnern! Er hatte die Sachen damals seiner Mutter gegeben, damit sie sie wusch. Schon damals hatte sie darin das Zeichen ihrer Familie erkannt, doch sie hatte es vorgezogen, unerkannt zu bleiben.
    „Ja, aber was soll damit sein, das du mich nicht heiraten kannst?“ Laenas verstand rein gar nichts, worauf sie hinaus wollte. Was sollte dieses Stück Stoff mit ihrer gemeinsamen Zukunft zu tun haben? „Diese goldene Stickerei – der Caduceus – er ist das Wappen meiner Familie!“ Leanas Augen weiteten sich, als er dies hörte, doch ihm war eigentlich nicht danach, sich zu freuen. „Du erinnerst dich also wieder… an das, was vorher war.“, fragte er vorsichtig, wobei ihm bewusst war, wie sehr ihn ihre Antwort schmerzen würde. Mit jedem Atemzug, den er tat, so wusste er nun, verlor er sie, ohne die Chance, sie wieder für sich erobern zu können.
    „Ja, Laenas, ich erinnere mich wieder. Ich bin eine Flavia – Flavia Domitilla. Meine Familie hat drei Kaiser hervorgebracht und ich…“ Sie atmete tief durch um sich der Tragweite ihrer Worte bewusst zu werden. „.. ich habe eine Verpflichtung, meiner Familie gegenüber! Es tut mir leid, Laenas!“
    Der junge Mann hatte seine Hände von ihren Armen genommen und sie herabsinken gelassen. Sein ausdrucksloses Gesicht blickte durch sie hindurch. Sein Leben, sein Traum, seine Zukunft lag in Scherben.
    Die Flavia blieb noch einem Moment bei ihm stehen, nicht etwa um ihn zu trösten, weil sie ihr Gewissen plagte oder sie plötzlich Zweifel hegte. Es war reines Kalkül, was sie bewog, noch zu bleiben.
    „Wenn du noch etwas für mich tun willst, dann bring mich nach Rom! Ich versichere dir, meine Familie wird es dir sicher großzügig vergelten!“

  • Leanas war zurück zum Dorf gelaufen. „Seine“ Domitilla, die er geliebt hatte und von der er gedacht hatte, dass sie seine Liebe erwiderte, hatte er dort stehen gelassen. Diese Domitilla, die er gekannt hatte, gab es nicht mehr. Sie hatte sich im Heiligtum der Fortuna in Luft aufgelöst.
    Für die nächsten Tage zog er sich zurück. Er musste allein sein. Und so ging er hinauf in die Berge um für sich zu sein und um nachdenken zu können.


    Domitilla hingegen bereitete sich auf ihre Rückkehr nach Rom vor. Sie hatte ein langes Gespräch mit Corinna geführt und ihr versucht zu erklären, warum ihre Rückkehr, die beinahe schon einer Flucht glich, notwendig war. Die Frau, die die letzten zwei Jahre wie eine Mutter für sie gewesen war, fand es natürlich sehr bedauerlich, dass sie das Dorf verlassen wollte, doch sie freute sich auch für Domitilla, da doch nun, wie sie glaubte, wieder ihre Erinnering zurückgekehrt war.


    Einige Tage später war Laenas zurückgekehrt und wich Domitilla, wo er nur konnte, aus. Er stürzte sich in seine Arbeit, um nicht an seinem Schmerz zu ersticken. Einige Zeit funktionierte das auch, bis seine Mutter ihn zu sich rief und ihm sagte, er solle seine „kleine Schwester“ nach Rom bringen. Bisher hatte er sich nie gegen die Wünsche seiner Mutter aufgelehnt, doch diesmal flehte er sie an, ihm diese Bürde nicht aufzuerlegen.
    „Das ist das einzige, was du noch für sie tun kannst, mein Sohn. Sieh zu, dass du sie sicher nach Hause bringst.“ Corinna legte ihm ihre Hand auf seine Schulter und umarmte ihn, so wie sie es schon früher getan hatte, wenn sie ihn tröstete.


    ~~~


    Am nächsten Morgen in der Frühe verließ ein Ochsengespann das Dorf und nahm den Weg hinunter in die Ebene. Neben dem jungen Kutscher saß Domitilla, die in ein einfaches aber bequemes Gewand gehüllt war. Die ersten drei Stunden schwiegen sich die beiden Reisenden nur an und wenn der Lauf der Natur nicht seinen Tribut gefordert hätte, dann hätte sich daran bis Rom nichts geändert.
    „Würde es dir etwas ausmachen, wenn wir kurz anhalten?“, fragte Domitilla und sah zum ersten Mal seit sie losgefahren waren zu Laenas hinüber. Doch der reagierte nicht gleich, sondern blieb stur und fuhr weiter. Erst als ein flehendes „Bitte!“ ihn erreichte, hatte er ein Einsehen und hielt an. Die junge Flavia stieg vom Wagen und verschwand hinter einem Busch. Einige Minuten später kam sie zurück und nahm wieder neben ihm Platz. Wieder wollte sich eisiges Schweigen zwischen den beiden einstellen. Doch diesmal war es Laenas, der das Schweigen brach. „Glaube nur nicht, ich tue das hier wegen des Geldes! Dein verdammtes Geld kannst du behalten.“ In seiner Stimme schwang große Verbitterung mit. Dabei versuchte er, sie nicht anzusehen. Er erwartete auch keine Antwort von ihr, die auch von ihrer Seite nicht kam. Laenas würde sie in Rom abliefern und dann würde dieses Thema für ihn endlich erledigt sein. Eines Tages so hoffte er, würde er ganz über sie hinweg sein. Eines Tages… ja…


    Nach der äußerst wortkargen Fahrt, erreichten sie schließlich gegen Abend endlich die Tore Roms. Da sie mit ihrem Gefährt nicht in die Stadt hineinfahren durften, legten sie den Rest ihrer Reise zu Fuß zurück. Domitilla hatte, bevor sie die urbs aeterna betrat, die Kleidung gewechselt. Sie trug nun eine ihrer alten prächtigen Tuniken, die Laenas damals nach dem Unfall gerettet hatte.
    Selbst nun, da sie nebeneinander durch die Straßen Roms gingen, würdigte er sie keines Blickes. Für ihn, dem jungen Mann aus den Bergen erschien die Stadt so fremd, genauso fremd, wie Domitilla für ihn geworden war. Er freute sich bereits darauf, wenn er endlich wieder in sein Dorf zurückkehren konnte und für ihn diese leidvolle Geschichte damit abgeschlossen war.

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