Hortus | In Gedanken

  • Buchstabenwirrwarr. Seiana sah auf die Schriftrolle hinunter und versuchte sich zu konzentrieren, aber es wollte ihr nicht so recht gelingen. Die Buchstaben verschwammen ineinander und waren nur noch schwer lesbar, was nur zum Teil daran lag, dass es inzwischen dunkel geworden war und sie hier, im Garten, nur eine schwache Lichtquelle zur Verfügung hatte. Sie saß schon den ganzen Abend hier draußen, weil es ihr zu stickig, zu eng, zu drückend geworden war im Haus. Sie hatte Schwierigkeiten sich zu konzentrieren, dort drin. Ihre Gedanken schienen immer wieder abzuschweifen. Zu Seneca. Zu den wenigen Stunden, die sie miteinander verbracht hatten, und wie... ausgeglichen sie sich gefühlt hatte. Glücklich. Sie sehnte sich nach ihm, und was das Schlimmste war: dieses Sehnen begleitete sie Tag für Tag. Sie konnte es unterdrücken, konnte es verdrängen, aber es war trotzdem immer da, und die Atmosphäre, die sie Tag für Tag in ihrem Heim erlebte, machte es nur schwerer für sie, Seneca aus ihren Gedanken, ihrem Herzen zu verbannen.
    Das einzige, was sie zumindest von der Sehnsucht wirklich ablenken konnte, waren die Probleme, die sie sich damit aufgehalst hatte. Die Risiken, die sie eingegangen war. Die Risiken, die Seneca noch vervielfacht hatte, dadurch dass er sich seiner Cousine anvertraut hatte – dass er ihr verraten hatte, wer die Frau war, mit der er ein Verhältnis begonnen hatte. Obwohl Seneca ihr versprochen hatte sich darum zu kümmern, mit seiner Verwandten noch einmal zu reden, fühlte Seiana sich nicht im Mindesten wohl damit, dass jemand Bescheid wusste – noch dazu dieser spezielle Jemand. Und obwohl sie ihm keine Vorhaltungen mehr gemacht hatte, haderte sie immer noch damit, dass er ihren Namen erwähnt hatte. Sich jemandem anvertrauen war eine Sache. Ihren Namen heraus zu posaunen und sie beide damit in Gefahr zu bringen eine völlig andere, und Seiana begriff bis heute nicht so recht, warum um alles in der Welt Seneca das getan hatte. Er hätte sich seiner Cousine anvertrauen können ohne zu sagen, um welche Frau es sich handelte. Er hätte ihren Namen nicht nennen dürfen... selbst wenn Axilla und sie keine gemeinsame Geschichte hätten, selbst wenn sie nicht zusammen arbeiten würden, war Seiana einfach zu bekannt, um sie nicht herauszuhalten aus einem derartigen Gespräch. Wer garantierte denn, dass die Iunia nicht – selbstverständlich ebenso im Vertrauen – mit jemand anderem sprach? Wer garantierte, dass sie nicht tratschte? Oder sich einfach nur verplapperte? Seneca vertraute seiner Cousine, und Seiana bemühte sich, ihm zu glauben. Dass er Recht hatte. Aber sie war und blieb misstrauisch. Sie wäre es wohl auch dann gewesen, wenn ihr Verhältnis zur Iunia nicht so zerrüttet gewesen wäre. Dafür war das Risiko einfach zu groß, das sie eingegangen war.


    Ihr Blick wanderte zum Haus hinüber, während sie nach der Palla griff, die sie mit hinaus gebracht hatte, und sie um die Schultern schlang, weil es so spät abends – im Grunde schon mitten in der Nacht – selbst hier in Rom kühl wurde. Irgendwo dort drin war ihr Mann, schlief vermutlich schon. Im Gegensatz zu ihr, die häufig so wie heute recht spät noch wach war und keinen Schlaf fand, hatte er keine Probleme damit, schnell in Morpheus‘ Welt einzutauchen und dort zu bleiben, bis der nächste Tag anbrach... oder stimmte das überhaupt? Seiana stellte fest, dass sie das eigentlich gar nicht wusste, dass sie es nicht sagen konnte. Wenn sie denn mal nicht nur ein paar Stunden, sondern eine ganze Nacht zusammen verbrachten, schien er zumindest stets schnell einzuschlafen... und er sagte auch nie etwas. Aber sie sprach auch nicht mit ihm über ihre Probleme, das war also kaum ein Grund davon auszugehen, es wäre so, wie es schien.
    Sie kannte ihren Mann im Grunde kaum. Was wusste sie denn schon von ihm? Sie kannte seinen Karriereweg, seinen militärischen Werdegang, wusste alles darüber, was es zu wissen gab, alles jedenfalls, was sie – oder besser ihre Mitarbeiter – hatten herausfinden können, und noch das ein oder andere Detail, dass Terentius selbst irgendwann mal hatte fallen lassen. Sie wusste, dass er schon einmal verheiratet gewesen war – allerdings nicht viel mehr, denn bei diesem Thema war er noch weniger gesprächig als sonst. Und sie wusste, dass er Aale züchtete.


    Sie kannte ihn kaum. Das war nun keine sonderlich weltbewegende Erkenntnis, sie war Seiana noch nicht einmal wirklich neu. Aber selten wurde ihr diese Tatsache mit so brennender Klarheit bewusst wie in diesem Augenblick. Dass Menschen sich nicht oder kaum kannten, wenn sie heirateten, war alltäglich. Dass sie sich nach der Zeit, die sie mit Terentius mittlerweile verheiratet war, immer noch nicht kannten, war es nicht. Freilich war ihr durchaus klar, woran das lag – er war nicht wirklich gesprächig und schien auch generell eher wenig Wert auf ihre Meinung oder ihren Rat zu legen, jedenfalls fragte er sie so gut wie nie danach, selbst wenn er ihr einmal etwas erzählte... Und sie selbst war kühl, distanziert, verschlossen. Auch wenn sie zumindest anfangs noch versucht hatte, sich ein bisschen zu öffnen, war sie selbst dann noch weit davon entfernt gewesen, wirklich offen zu sein oder gar warmherzig. Und spätestens als der Alltag bei ihnen eingezogen war, hatte sie aufgehört, sich zu bemühen. Es hatte ohnehin wenig Sinn gehabt, er war zu beschäftigt gewesen, genauso wie sie, und wenn sie sich gesehen hatten, hatte Seiana nicht das Gefühl gehabt, Terentius hege sonderliches Interesse an dem, was sie beschäftigte. Oder an ihr. Also hatte sie sich unabhängig von ihrem Mann einfach irgendwie eingerichtet in diesem neuen Leben, das sich von ihrem vorigen gar nicht so sehr unterschied – sie war größtenteils allein, unbehelligt von anderen Menschen, weil nur sie und ihr Mann dort lebten, es gab die Haushaltsorganisation, ihre Arbeit, die Verwaltung ihrer Ländereien und Betriebe... Nur dass sie in der Casa Terentia wohnte und nicht mehr in der Casa Decima, und dass sie einen Mann hatte, der auch hin und wieder sein Recht als Ehemann einforderte. Und an diesem Leben hatte sich auch nicht viel geändert, als Terentius vom Posten des Praefectus Praetorio zurück getreten war. Sie wusste nicht genau, was er den ganzen Tag tat, aber sie bekam ihn fast genauso selten zu Gesicht wie zuvor, was nur teilweise daran lag, dass sie nach wie vor so viel arbeitete.


    Im Grunde ließ sich all das doch mit einem einzigen Satz zusammenfassen, einem Satz, der alles sagte: Eine ganze Zeit lang inzwischen schon verheiratet... und das Persönlichste, was sie über ihren Mann wusste, war das: er züchtete Aale.


    Keine sonderlich erfreuliche Bilanz ihrer Ehe.

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