Mit einem leichten Kratzen berührten Melinas Sohlen den Steinboden. Sie zog den Umhang, den sie sich noch aus ihrem Cubiculum geholt hatte, enger um die Schultern. Die Nachtluft war kühl um diese Jahreszeit, aber trotzdem angenehm genug, dass man es für eine Weile hier aushalten konnte. Wie ein Geist glitt sie durch den Säulengang des Hortus, ehe sie bei einer Bank innehielt und darauf Platz nahm. Sie fühlte sich … besser, so gut wie schon seit Tagen nicht mehr. Die Zwiesprache mit den Göttern und mit ihren Ahnen hatten eine Last von ihren Schultern genommen, der sie sich selbst gar nicht wirklich bewusst gewesen war. Natürlich war sie in den letzten Tagen sehr reizbar gewesen. Der Bürgerkrieg und seine Folgen, die Ungewissheit, die Gefahr für ihre Verwandten – all das war allgegenwärtig gewesen. Und je näher die Rebellenarmee Roms Toren gekommen war, desto schlimmer war es geworden. Alle Personen in diesem Haushalt waren eigentlich permanent nervös, unruhig und gereizt. Vom Hausherrn bis zum niedrigsten Sklaven gab es kein anderes Thema mehr als den Krieg. Auch für Melina nicht. Bei ihr kam allerdings noch Hilfslosigkeit dazu. Sie fühlte sich hilflos und nutzlos. Es gab nichts, was sie tun konnte. Nichts, womit sie irgendjemandem helfen konnte. Sie saß nur hier und drehte Däumchen. Und das war für sie das Schlimmste von allem.
Obwohl sie den Krieg und den Kampf nicht sehr schätzte, wünschte sie sich manchmal, ebenfalls ein Soldat zu sein und kämpfen zu können. Dabei ging es weniger darum, in die Schlacht zu marschieren, sondern mehr darum, etwas tun zu können. Ihr wurden ja noch nicht mal Details mitgeteilt. Melina war überzeugt, dass ihr Vater es nur gut meinte. „Mach dir keine Sorgen.“ pflegte er zu sagen, wenn sie ihn nach dem Krieg, nach dem Wohlergehen ihrer Verwandten in Rom fragte. Sie hielt ihm zugute, dass er sie schützen, die unerfreulichen Themen von ihr fernhalten wollte. Und ihr Bruder Caius hatte keine Ahnung. Melina wagte die kühne Behauptung, dass sie mehr über Politik wusste als er. Und das war kein Kompliment, denn sie wusste selbst nicht viel. All das – die Ungewissheit, das Schweigen ihrer Verwandten, die Hilflosigkeit – hatten sie immer gereizter gemacht. Sie hatte sich wie ein Vogel im goldenen Käfig gefühlt. Eingesperrt mit den besten Absichten. Aber trotzdem eingesperrt.
Melina wusste nicht, ob ihre Gebete von Nutzen waren. Aber es fühlte sich dennoch richtig an, zu beten. Wen das Wohlwollen der Götter verließ, der war verlassen und es brachte wenig, ihren Zorn auf sich zu ziehen. Die Götter waren Wesen, die zu verstehen einem menschlichen Geist kaum vergönnt war, aber eines wusste Melina bestimmt – die Götter schätzten es nicht, ignoriert zu werden. Genauso wenig wie Melina selbst das schätzte. Sie wollte nicht einfach nur eine hübsche Statue sein, mit der irgendjemand irgendwann mal sein Haus schmückte, die vorgezeigt wurde und ihren Zweck zu erfüllen hatte, ansonsten aber … ja ignoriert wurde. Natürlich wollte sie heiraten und Kinder bekommen, sie mochte es auch, sich hübsch zu machen, schöne Kleider auszusuchen, Schmuck anzulegen, ihre Haare zu eleganten Frisuren aufgetürmt zu bekommen. Aber sie wollte … mehr als das. War es vermessen, sich so etwas zu wünschen? War es vermessen, auch einen Beitrag zum weiteren Aufstieg einer großen Nation leisten zu wollen, der über das Gebären von potentiellen Senatoren, Soldaten, Händlern oder Rechtsgelehrten hinausging? Vielleicht lag es daran, dass sie ohne Mutter aufgewachsen war und ihre Amme und die weiblichen Sklaven ihren Gedanken keine Grenzen auferlegt hatten. Melina wusste es nicht, aber es stand fest, dass es so viele Dinge gab, die sie sehen und erleben wollte … und die befanden sich nicht nur in ihren eigenen vier Wänden.
„Na Kind, was sitzt du denn hier in der Dunkelheit und Kälte?“ Melina schreckte aus ihren Gedanken auf und entdeckte Selma, ihre alte Amme, die neben der Bank stand und sie anblickte. Ihr runzliges Gesicht, das im Schein einer kleinen Lampe gebadet war, die Selma mitgebracht hatte, war zu einem freundlichen Lächeln verzogen. Doch ihre Augen, die Melina so gut kannte, drückten Besorgnis aus – und eine andere Frage, die sich hinter jener verbarg, die Selma laut gestellt hatte: „Alles in Ordnung?“ Melina rutsche ein wenig zur Seite, sodass die alte Frau sich setzen konnte. Sie war eine der wenigen Dienerinnen, denen Melina so ziemlich alles gestattete. Was vermutlich daran lag, dass Selma sie mehr oder weniger groß gezogen hatte. Sie war mehr wie eine Großmutter, denn wie eine Dienerin. „Ich musste mal an die frische Luft …“ „Ich hab’s drinnen nicht mehr ausgehalten.“ hatte sie eigentlich sagen wollen. Aber sie verkniff es sich. Denn dann würde vermutlich eine zwar freundlich verpackte, aber dennoch eindringliche Ermahnung folgen, dass es nichts brachte, ungeduldig zu werden. Und das war etwas, dass sie zurzeit nicht hören wollte. Noch nicht einmal von Selma.