Er wollte sich einreden, nichts davon wäre wahr, alles nur ein schlechter Scherz, den sich jemand mit ihm erlaubte, ein Traum, eine Lüge. Doch der Iunius wachte nicht auf, niemand kam lachend hinter der nächsten Ecke hervorgesprungen, und niemand trat an seine Seite, um ihn über die Wahrheit aufzuklären. Welchen Grund hatte er also, die Worte eines Optios der Stadtwache anzuzweifeln, welchen Grund hatte er, nicht zu glauben, was er selbst gesehen hatte. Sie war weg.
Was hatte er getan? Was, um das zu verdienen? Und was hatte sie getan?
Sie hatte sich mit den Urbanern angelegt, und er war feige gewesen, das war alles. Und nie würde er es sich verzeihen. Er wusste schon jetzt, ihr Gesicht würde ihn für immer verfolgen, ihr zartes, schmales und dennoch so schönes Gesicht, und ihr sanfter Blick würde ihn ansehen, als würde sie ihm alles verzeihen, so wie immer. Aber er konnte es nicht. Denn er hatte sich vorgenommen, alles in seiner Macht stehende zu tun sie zu schützen, und stattdessen trug er jetzt Mitschuld an ihrem Tod – so fühlte es sich jedenfalls an. Oder es war so, wie Torquata es ihm bei ihrem letzten Treffen erklärt hatte: Alles hatte einfach so kommen müssen. Doch wie grausam mussten die Götter sein, welchen Hass mussten sie auf jemanden haben, um einem nicht einmal die Chance zu geben zu schützen, wen man liebte.
Was er im Kerker der Cohortes Urbanae an Gefühlen so sehr zurückgehalten hatte, kam jetzt endgültig hoch. Und er konnte nirgendwo hin. Nicht zurück in die Barracken, wo er sich bei jedem blöden Scherz seiner Kameraden ein Grinsen würde aufzwingen müssen. Nicht in die Casa Iunia. Diesen Ort den er sich jetzt wünschte, wo jemand auf ihn wartete, um ihm zu helfen wieder Ruhe zu finden, den gab es nicht mehr. Sich so einsam fühlend, wie Sibel es wohl an den Ufern des Styx irrend sein musste, bahnte sich der Iunier seinen Weg durch die Castra.
Seine Schritte führten ihn hinter die Baracken seiner Centurie, wo zwei Kisten auf dem Boden standen, die beim Würfeln als Sitzgelegenheit genutzt wurden. Eine davon schickte er aus Frust und Verzweiflung mit einem Tritt durch die Luft, krachend schlug sie ein ganzes Stück weiter wieder auf. Den Schmerz in seinem Fuß bemerkte er gar nicht, denn er reichte nicht aus, um die Taubheit zu vertreiben, die sich in ihm ausgebreitet hatte. Mit der Faust schlug er noch gegen die Wand der Barracken, und ließ sich schließlich nach Luft ringend auf den staubigen Boden sinken, während ihm die Tränen in die Augen schießen wollten. Er hasste sich selbst. Er hasste den Domitius. Er hasste Germania. Verdammtes Germania. Verdammte Hasta Pura. Verdammter Quintilius Sermo.
Bitter starrte Avianus nun auf die geröteten Knöchel seiner Hand. Es musste irgendetwas anderes geben, an das er denken konnte, etwas das den Hass und die Wut in ihm vertrieb. Schöne Dinge. Ihre Stimme, ihr Geruch, wie sie sich stets an ihn geschmiegt hatte, als könnte sie ihn dadurch daran hindern, zu gehen.
Und dennoch musste er sie vergessen, selbst wenn sie dadurch ein zweites Mal sterben würde. Und damit endgültig. Denn wie sagte man noch gleich? Jeder starb zweimal. Zuerst wenn das Herz aufhörte, zu schlagen, und dann, wenn die Erinnerung an einen erlosch.