Auf der Brücke über den Rhenus

  • Alpina hatte die Stadt beim nächtgelegenen Stadttor verlassen und dann den Weg entlang der Stadtmauer zum Ufer des Rhenus eingeschlagen. Sie wollte nicht durch die Stadt gehen, um zu vermeiden, dass sie irgendjemanden traf, der sie kannte.


    Nachdem sie keine Zeit gehabt hatte, eine Reiseroute vorzubereiten, wollte sie so schnell wie möglich den Fluss überqueren. Zwangsläufig führte ihr Weg über den Rhenus. Sie betrat also die Brücke. Der Holzboden unter ihren Füßen knarrte und das Klappern der zahllosen Hufe der Reit- und Lasttiere begleitete sie. Sie trug Runas Fellüberwurf über dem Arm, er hatte nicht mehr in die Rückentrage gepasst. Das Wetter war stahlend schön, warm und frühlingshaft.


    In der Mitte der Brücke blieb sie stehen. Sie stützte sich auf das Geländer und blickte zurück auf die Stadt, die so friedlich in der Frühlingssonne lag. Über ihr auf dem Hochufer das Castellum, das das gesamte Flusstal überblickte. Dann sah sie in die andere Richtung, auf den Brückenkopf und das Castellum Mattiacorum auf der gegenüberliegenden Seite des Rhenus. Sie stand also mit einem Fuß in ihrem alten Leben und mit dem anderen in der ungewissen Zukunft. Alpina beugte sich über das Geländer und betrachtete das zäh dahinfließende Wasser. Eine erste Träne bahnte sich den Weg aus dem Augenwinkel. Lange war sie tapfer gewesen. Sie hatte versucht, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie die vergangenen Stunden mitgenommen hatten. Jetzt, weit weg von allen Rollenzwängen, konnte sie ihren Gefühlen freien Lauf lassen. Zunächst einzeln, doch dann in ganzen Sturzbächen ließ Alpina die Tränen kommen. Sie tropften hinunter und verbanden sich mit den Fluten des Rhenus.


    Der Fluss schien ihr zuzuflüstern, er lockte sie. Alpina stellte sich den Flußgott als stattlichen bärtigen Mann vor, so wie er auf zahlreichen Weihaltären zu sehen war. Er schien sie anzulächeln, versprach ihr, sie zu umarmen und zu trösten. Konnte er ihr vom Wasser des Vergessens geben? Wie die Lethe?
    Alpina beugte sich weiter vor. Zu gerne hätte sie dem Drängen des Flussgottes nachgegeben.


    Doch mit einem Mal schüttelte sie heftig den Kopf. Nein, es war noch nicht an der Zeit dafür. Sie war noch nicht entsühnt. Die Seele ihres Kindes wanderte noch zwischen den Welten, fand noch keine Ruhe. Vielleicht wären die zeternden Erinys zufrieden, hätten erreicht, was sie Nacht für Nacht forderten, aber Alpina wusste, dass sie so im Schattenreich ihr Kind nicht würde in die Arme schließen können. Sie musste zunächst eine Entsühnung erreichen. Dem Kind einen Weg zu den Schatten ermöglichen. Und irgendwas sagte ihr, dass dafür diese Reise notwendig war. Was auch immer ihr dabei begegnen mochte.


    Sie riss sich vom Anblick Mogontiacums los und machte beherzt den ersten Schritt in die ungewisse Zukunft.


    Es war schon Nachmittag. Weit würde sie nicht kommen. Vermutlich würde sie die erstbeste Herberge im Umkreis des Castellums Mattiacorum ansteuern und sich dort ein Zimmer nehmen. Noch befand sie sich in der zivilisierten Welt. Doch für wie lange noch?

  • An der Grenze des Römischen Reiches hier am Rhenus und dem Castellums Mattiacorum herrschte Ruhe und Frieden. Eine trügerische Ruhe allerdings, denn immer wieder konnte es zu kleinen Plänkeleien kommen. Doch die Truppen hatten alles fest im Griff, vor allem da die großen germanischen Überfälle schon seit Jahren vorbei waren. Drei große Wege führten in die germanische Wildnis, die durch römische Pioniere tief in germanisches Gebiet gebaut worden waren. Auf diesen konnte man relativ sicher nach Germania Libera reisen. Immer wieder waren auch Kundschafter unterwegs um sich im Umfeld des Limes einen Überblick zu verschaffen. So herrschte ein Gleichgewicht am Limes der durch die Römischen Streitkräfte erhalten wurde.


    Die Germanen waren seit langer Zeit schon mit sich selber beschäftigt und führten Überfälle auf andere Stämme aus um sich an dem wenigen zu bereichern. Solange wie es keine großen germanischen Führer mehr gab erleichtere diese germanische Streitbarkeit das Leben der Römer an der Grenze.


    Derzeit konnte man in weiter Ferne wieder einmal Rauch erkennen und davon ausgehen das es wieder ein germanisches Dorf weniger gab. Doch an der Grenze blieb es ruhig, die Germanen konnten machen was sie wollten solange sie den Limes in Ruhe ließen. Doch den Legionären war durchaus klar, dass sie immer wieder einmal beobachtet wurden. So auch jetzt wieder, aufmerksame Augen verfolgten jede Bewegung auf römischer/germanischer Seite. Nichts entging diesen Augen die zu germanischen Kundschaftern gehörten.

  • Wieder betrat Alpina die Brücke über den Rhenus mit einem mulmigen Gefühl. Dieses Mal von der anderen Seite und unter anderen Voraussetzungen. War sie auf dem Hinweg unsicher gewesen, ob sie das Abenteuer in Germania überleben würde und ob sie überhaupt nach Mogontiacum zurückkehren würde, war nun alles anders. Sie hatte die Reise überlebt und der Aufenthalt bei Osrun hatte ihr klar gemacht, dass sie eine Aufgabe hatte, die es erforderte nach Mogontiacum zurückzukehren. Jetzt war ihr mulmig, weil sie Angst vor der Zukunft hatte.


    Sie lief neben vielen anderen Menschen, Händlern und Reisenden her, deren Schritte vom Holz der Brückenbohlen widerhallten. Das donnernde Geräusch rollender Wagenräder vermischte sich mit den Stimmen der Menschen, die in die Stadt wollten oder aus ihr kamen.
    In der Mitte der Brücke blieb Alpina erneut stehen. Wie schon auf dem Hinweg lag Mogontiacum in der Sonne. Der Frühling hatte Büsche und Bäume am Ufer des Flusses mit einem zartgrünen Kleid überzogen, die Menschen ließen die Fellumhänge zuhause. Ihr Blick ging zurück auf die Strecke, die sie hinter sich hatte. Sie stand an der selben Stelle wie vor vielen Wochen, wieder zwischen zwei Welten. Auf der einen Seite ihre Abenteuerreise, die ihr wichtige Erkenntnisse gebracht und sie verwandelt hatte. Sie war eine andere Frau geworden als diejenige, die sich auf den Weg ins freie Germanien gemacht hatte. Auf der anderen Seite der Brücke ihr altes und doch neues Leben. In einem halben Jahr würde sie Mutter sein. Ihr Körper zeigte inzwischen sehr deutlich, dass sie dieses Kind behalten würde. Ihre Brüste stellten sich auf das Stillen ein und über den durch die an Größe zunehmende Gebärmutter sanft anschwellenden Leib zog sich eine dunkle Linie, die Alpina schon als Hebamme bei den schwangeren Frauen gesehen hatte. Sie zeigte an, dass die kritische Zeit vorüber war, in der man nicht sicher sein konnte, ob man das Kind nicht doch noch verlor.
    Alpina trug wieder eine Frauentunika. In dieser würden keinem Außenstehenden die Veränderungen auffallen, doch sie selbst wusste, dass sie sich unwiderruflich ihrer neuen Aufgabe würde stellen müssen.
    Mit einem Seufzen setzte sie sich wieder in Bewegung. Diese Nacht würde sie wieder in der Casa Atia verbringen.

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!