Dass es mühsam werden würde, war Malleus von vornherein klar gewesen. Dagegen war auch nichts einzuwenden. Wer die Mühsal scheute, musste eben zuhause bleiben und sich den schlaffen Hintern am Herdfeuer wärmen. Sorgen hatte er sich anfangs lediglich um Procella gemacht, aber Publius’ Dreijährige schlug sich mehr als wacker. Die Entscheidung, den betagten Funkan im Stall zu lassen und stattdessen der zunehmend unruhigen Stute die notwenige Bewegung zu verschaffen, war also die richtige gewesen. Trotzdem befanden sie sich nicht gerade auf einem unbeschwerten Spazierritt. Von der Brücke bis zur ersten Weggabelung war es noch relativ zügig voran gegangen. Bis dorthin hatten die Baueinheiten der Zweiten Legion eine Schneise in den Schnee geschaufelt, die zumindest breit genug war, um Patrouillen und schmalen Fuhrwerken ein Durchkommen zu ermöglichen. Östlich der Gabelung jedoch markierte nur noch eine dünne Linie aus überwehten Spuren den Weg, der im Grunde gar keiner mehr war. Im Sommer hätte Malleus für die Strecke vom Rhenus bis zu seinem einstigen Heimatdorf selbst auf einem trägen Karrrengaul keine zwei Stunden gebraucht. Der germanische Winter aber war die Zeit der Götter, nicht die der Menschen. Allein Wodan zog in den dunklen Monden ungehindert über Land. Die Sterblichen, die es ihm gleich tun wollten, ob nun fürwitzige Römer oder gelangweilte Starrköpfe wie Malleus, lieferten sich auf Gedeih und Verderb den Launen des einäugigen Wanderers aus. Nicht in Kälte und Schnee zeigte sich dessen Unwille, dagegen konnte man sich wappnen. Auch nicht in der Gestalt von Wölfen oder von ihren Stämmen verstoßenen Wegelagerern, dagegen konnte man sich verteidigenden. Um Reisende ins Verderben zu stürzen, bediente er sich subtileren Mitteln: Dem Leichtsinn, der Selbstüberschätzung und der Unaufmerksamkeit des Reisenden selbst. Sich dessen völlig bewusst, hielt Malleus die Zügel locker, trieb die Stute nur selten an, und ließ sie ansonsten ihren eigenen Instinkten folgen. Sie hatten Zeit. Wenn nötig bis zur Abenddämmerung. Ein plötzlicher Schneesturm war nicht zu befürchten. Nicht an diesem klirrend kalten Tag. Das sagte ihm zum einen der kristallklare Morgenhimmel, zum anderen die lange Narbe am rechten Bein, die jeden Wetterwechsel zuverlässig mit stechenden Schmerzen anzukündigen pflegte. Keinerlei Schmerzen heute. Das war erfreulich, denn so irre war nicht einmal er, sich bei ungewisser Wetterlage auf den Weg durch die Schneemassen zu machen. Zumal aus purer Langeweile. Weil ihm im engen überheizten Haus seines Bruders Sebald die Decke auf den Kopf fiel.
„Wara, Procella. Sachte, sachte..“redete Malleus mit ruhiger Stimme auf die temperamentvolle Stute ein, während er sie mit einem sanften Schenkeldruck dazu brachte, sich von den alten Hufspuren fern zu halten. Diese vereisten Löcher waren tückisch. All zu schnell konnte sich ein aufgeschrecktes Pferd darin die Fesseln aufreißen oder gar die Vorderhand brechen. Procella schien zwar gute Nerven zu haben, nichtsdestotrotz war es sicherer, sich neben den Spuren durch den Schnee zu arbeiten. Vor Anhöhen, Schneewehen und verdächtigen Mulden stieg Malleus aus dem Sattel und ging der Stute voran, die Zügel in der Linken und einen langen Eichenholzstab, mit dem er Beschaffenheit und Tiefe des Schnees prüfte, in der Rechten. Keine Hast. Keine Eile. Nach jedem kräftezehrenden Anstieg, nach jedem durchquerten Tiefschneefeld machte Malleus eine Verschnaufpause, rieb Procella mit einem Wolltuch ab und betrachtete die Umgebung. Sebalds ohnehin recht vage Wegbeschreibung erwies sich als völlig unnütz. Offensichtlich war er selbst seit vielen Jahren nicht mehr hier gewesen. Das Land östlich des Rhenus war mit den Jahrzehnten ein anderes geworden. Die schneebedeckten Felder nahmen kein Ende. Wo sich einst lichte Laubwälder dem Fluss bis auf einen breiten Uferstreifen genähert hatten, dehnten sich nun gerodete Flächen meilenweit gen Osten aus. Wo einmal schattenspendende Baumgruppen als Wegmarken gedient hatten, säumten wilde Hecken und niedere Sträucher den Pfad. Kleine Höfe duckten sich auf flachen Hügeln zusammen, wo es früher nichts als Gestrüpp gegeben hatte. Die verwandelte Landschaft unter dem dichten Schneemantel machte die Orientierung nicht eben einfach. Malleus blieb gelassen. So lange die fernen Höhen des Tauno ihre Formation beibehielten und so lange die Sonne noch nach Westen zog, würde er sich hier zurechtfinden. Außerdem war da noch der Quellbach. Der entsprang am Hang hinter dem Dorf und grub sich bis hinunter zum Rhenus. Wenn Malleus die zurückgelegte Strecke auch nur einigermaßen richtig einschätzte, konnten sie den Bach nicht verfehlen. Und sie verfehlten ihn auch nicht.