Über die Vorgänge im Gästezimmer konnten die Außenstehenden nur Mutmaßen. Zunächst vernahm man gelegentlich ein leidvolles Stöhnen oder gar ein Aufschreien. Jedoch blieb die Tür danach fest verschlossen. Zu beurteilen, ob dies ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war, wurde jedem selbst überlassen. Selbst als in den folgenden Stunden jenes Stöhnen und Schreien beunruhigend häufiger und vor allen Dingen auch heftiger zu hören war. Es schien, als fände im Inneren des Gästezimmers ein wilder Kampf statt, dessen Gegner allerdings nicht wirklich auszumachen war.
Im Inneren des Gästezimmers jedoch war die Obstretix fleißig zu Gange. Schon unzählige Kinder hatte sie im Laufe ihres Lebens zur Welt gebracht. Sie wusste genau, was wann und in welcher Situation zu tun war, konnte die Zeichen deuten und wusste, wie man Candelifera, Carmenta und all die anderen Götter, die für eine reibungslose Geburt zuständig waren, milde stimmen konnte.
Nachdem die Sklavin Sibel beim Entkleiden geholfen hatte, war sie den Anweisungen der Hebamme gefolgt und hatte sich auf das Bett gelegt. Eine Kerze war angezündet worden, welche dem Neugeborenen den Weg ins Leben weisen sollte und die Obsterix begann damit, beharrlich Gebete zu murmeln. Dabei untersuchte sie noch einmal den prallen Bauch der Schwangeren. Das Kind lag zum Glück in einer vorteilhaften Lage und würde mit dem Kopf zuerst kommen. Die Wehen kamen nun bereits in kürzeren Abständen, die keinen Zweifel mehr daran ließen, dass die Geburt eingesetzt hatte und die Ankunft des Neuen Iunius oder vielleicht auch der Iunia in einigen Stunden bevorstand, sofern es der Wille der Götter war.
Um es Sibel etwas leichter zu machen und die Geburt voran zu treiben, begann die Obsterix sie mit wohlriechenden Ölen zu massieren. Von Zeit zu Zeit überprüfte die sie, wie weit die Geburt voran geschritten war. So verging Minute um Minute und aus Minuten wurden Stunden.
Für Sibel selbst schien das Gefühl für die Zeit verloren gegangen zu sein. Sie hatte weitaus wichtigeres zu tun. Sie wusste, wenn sie auch noch diese Prüfung bestand, würde am Ende ihr Glück vollkommen sein. Wenn die Schmerzen allzu heftig wurden, mahnte sie sich selbst daran, wie schmerzhaft manchmal ihr Weg bis hierher gewesen war. Dann war sie sich wieder gewiss, dass sie auch das noch schaffen würde.
Nach unzähligen Stunden war es dann endlich so weit. Die Geburt kam in die entscheidende Phase. Bisher war alles gut gelaufen und die Obsterix konnte mit ihrer Arbeit zufrieden sein. Nun hing es allein von Postverta ab. Wenn sie der Gebärenden an diesem Punkt noch genügend Kraft und Ausdauer schenkte, dann überstanden sowohl die Mutter wie auch ihr Neugeborenes die Geburt gut. Auf Kommando der Hebamme begann sie zu presste, so gut sie nur konnte. Darauf folgte jedes Mal wieder ein markerschütterndes Schreien. Selbst als die Hebamme vermeldete, man könne bereits das Köpfchen sehen, änderte dies scheinbar nicht viel an der Prozedur. Außer dem Funken Freude, den diese Mitteilung in Sibel auslöste und ihr noch ein bisschen mehr Kraft schenkte.
Nun sollte es, Postverta sei Dank, nicht mehr lange dauern. Nur noch wenige Presswehen trennten Sibel von ihrem Mutterglück. Schließlich erblickte ein kleines blutverschmiertes Bündel, noch gänzlich unbeholfen und schutzlos, das Licht der Welt.
Die Obsterix durchtrennte die Nabelschnur und säuberte das Neugeborene und rief dabei murmelnd Vagitanus an, auf dass er den Mund des Kindes öffnete und es ein Schreien von sich gab. Sicherheitshalber gab sie dem Kleinen noch einen leichten Klaps auf den Po, so dass der Säugling tatsächlich zu schreien begann.
Dieses Geräusch des schreienden Babys löste in Sibel ein unbeschreibliches Glücksgefühl aus, welches sie sämtliche Schmerzen der letzten Stunden vergessen ließ. „Was ist es? Ein Junge oder ein Mädchen?“, hauchte sie mit letzter Kraft der Obsterix entgegen.
Inzwischen hatte man das schreiende Baby behutsam in eine Decke gewickelt. Seine Haut war noch gerötet und schien etwas schrumpelig zu sein. Doch auf seinem Kopf machte sich bereits ein kleiner schwarzer Flaum breit. Die Hebamme reichte Sibel das Bündel. „Hier hast du dein Kind. Es ist ein Junge.“ Sibel nahm ihr Kind entgegen und legte es auf ihre Brust. Was in ihr vorging konnte man kaum beschreiben. Doch das Kleine wusste schon genau, was es wollte und brauchte. Letztendlich fand es die Brust seiner Mutter und begann zu saugen.
Für eine Weile überließ man Mutter und Kind diesem Idyll, dann öffnete die Sklavin die Tür. Behutsam löste die Hebamme das Kind von seiner Mutter, welches daraufhin lautstark protestierte. Wieder sprach die Obsterix ein Gebet und rief diesmal die Göttin Levana an. Mit dem Kind auf dem Arm schritt sie hinaus zum dort wartenden Vater und legte ihm das Bündel zu Füßen. „Es ist ein Junge,“ sagte sie noch und wich dann einen Schritt zurück.