CVLVS MVNDI Am Arsch der Welt



  • Alles schien ruhig an diesem Morgen, fast friedlich. Der Wind war nurmehr ein verhaltenes Wispern in den niederen Sträuchern. Das vor Tagen noch unersättlich gefräßige Tosen der Wellen hatte sich zu einem müden Schmatzen erschöpft, das satt und träge über Sandzungen und Geröll leckte. Sogar die Seevögel hielten sich mit ihrem aufgeregten Kreischen merklich zurück. Wer es nicht besser wusste, hätte sich von der scheinbaren Idylle wohl einlullen lassen. Malleus aber wusste es besser. Die Fersen tief in den lockeren Boden gerammt stand er reglos auf einer der lang gezogenen Dünen und starrte nach Osten. Hinter dem dunstigen Horizont flackerte der neue Tag herauf, wob einen zart leuchtenden Saum zwischen Himmel und Meer, vor dem sich die dunkle See ausnahm wie flüssiges Blei. Sonst gab es nichts dort draußen, woran der Blick sich hätte haften können. Keine Form, keine Silhouette, nur eine unendliche Wasserfläche und darunter, verborgen im ewigen Halbdunkel, zog die schreckliche Weltenschlange ihre Bahnen. Malleus hasste die Küste. Kein Krümel Erde, auf den er jemals seinen Fuß gesetzt hatte, war ihm auch nur annähernd so verhasst wie diese unwirklichen Gestade an der Schwelle zum Nichts.
    Dennoch war er auch heute, am Tag des Aufbruches, hinaus in die Dünen gestapft, so wie an jedem Morgen, seit die Nornen ihren Spaß daran gefunden hatten, den Handelszug an die Bruchkante der Welt zu fesseln. Kein Tag war vergangen, an dem er nicht die fünf Meilen durch, Sturm, Regen, Schnee und Frost auf sich genommen hatte. Er konnte einfach nicht anders. Was ihn hierher zog, war nicht etwa, wie er vorgab, die drangvolle Enge des improvisierten Lagers, die Notwendigkeit, in Ruhe seine Gedanken zu ordnen oder der Umstand, dass er die Visagen seiner Reisegefährten längst nicht mehr sehen konnte. All das entsprach zwar den Tatsachen, hätte aber für sich genommen noch lange nicht ausgereicht, ihn an diesem grauenhaften Ort zu treiben. Das Grauen selbst war es, das ihn auf ebenso unerklärliche wie unheimliche Weise anlockte. Immer und immer wieder. Das bloße formlose Grauen, das ihn schon beim ersten Blick auf die gähnende Endlosigkeit gepackt und seitdem nie wieder ganz losgelassen hatte.


    Zehn Monate waren vergangen, seit er Gowin den Belgier mit zerschlagenen Knochen am Castellum Mattiacorum in den Rhenus geworfen hatte; vier Monate, seit Gowins’ batavischer Handlanger Degenar dem Beispiel seines einstigen Geldgebers gefolgt und im Albis versunken war, und fast zweieinhalb Monate – neunundsechzig verdammte Tage – waren verstrichen, seit er eine der idiotischsten Entscheidungen seines Lebens getroffen hatte. In Treoua war das gewesen. An einem jener trügerisch milden Tage, die Gallonius Caecus, dem Verantwortlichen der ganzen Misere, ein frühes Winterende vorgegaukelt und dazu bewogen hatten, Hals über Kopf einen dilettantisch geplanten Handelszug an die Küste des Mare Suebicum zusammenzustellen, um noch vor allen anderen Kaufleuten Wein, Stoffe und Keramik gegen Sucinum einzutauschen. Und Malleus, dem ansonsten nichts über eine gründliche Vorbereitung ging, war so dumm gewesen, sich trotz seiner Skepsis zur Mitwirkung an diesem sträflichen Leichtsinn breitschlagen zu lassen. So gesehen war er natürlich selbst schuld daran, an diesem verfluchten Ort ausharren und dabei dem Grausen in den Schlund starren zu müssen. Er hätte sich nie und nimmer darauf einlassen dürfen, hätte schon in Treoua kehrt machen und an den Rhenus zurückkehren sollen, gleich nachdem er dem lange gesuchten Bataver das Licht ausgeblasen hatte. Aber nein, anstatt wie üblich seinem Bauchgefühl zu lauschen, war er dem unerfahrenen römischen Kaufmann Gallonius Caecus nach Norden gefolgt, getrieben von einem blödsinnigen Gefühl der Verpflichtung, denn letztlich war es Caecus gewesen, der – ohne es zu ahnen – den Jäger zum Wild geführt hatte. Das allerdings war eine völlig andere Geschichte.


    Dass der ursprünglich als kurzer Abstecher geplante Zug zu einer einzigen Katastrophe geraten war, erschien im Nachhinein betrachtet wenig erstaunlich. Ein Fehler zog den anderen nach sich. Ein Ungemach bereitete den Boden für das nächste. So war das nunmal. Wer mit Proviant für einen knappen halben Monat loszog, mitten im Winter, mit einer eilig zusammen gewürfelten Mannschaft aus Grobklötzen verschiedenster Stämme, ohne einen einzigen Zugochsen als Reserve, ohne genügend Werkzeug, Feuerholz und Baumaterial, ohne genauere Ortskenntnis, geführt von zwei undurchsichtigen Einheimischen, die darauf bestanden hatten, die Hälfte ihres Lohnes schon im Voraus zu erhalten, wer sich derart am gesunden Menschenverstand versündigte wie Caecus und Malleus es getan hatten, der brauchte sich nicht zu wundern, wenn die Götter Lust bekamen, mitzuspielen. Und das hatten sie denn auch getan. Mit vollem Einsatz.


    Schon am Abend des ersten Reisetages hatten sie Regen geschickt. Strömenden Regen. Unmengen davon. Dann, nach einer Nacht ununterbrochenen Gießens war ein Sturm aufgezogen. Gefolgt von Nebel, in dem man bestenfalls so weit sehen konnte wie ein Ochsengespann lang war. Am Morgen des dritten Tages war der Nebel endlich verschwunden, und mit ihm die einheimischen Führer. Dafür hatte es zu schneien begonnen. Dicke nasse Flocken. So dicht, dass sie die Sicht kaum weniger beeinträchtigten als der milchige Dunst der vorangegangenen Tage. Im Grunde der ideale Zeitpunkt, um die närrische Unternehmung abzubrechen und umzukehren. Zumal sich die von Caecus angekauften Zelte, drei ausgemusterte Papiliones aus Legionsbeständen, als brüchige, kaum gefettete Lederlappen erwiesen hatten, die zwar den Wind, nicht aber die Feuchtigkeit abhielten. Erschwerend hinzu kam der lächerlich geringe Vorrat an Brennholz, das laut Caecus nur unnötig Stauraum gekostet hätte und problemlos aus den Wäldern ergänzt werden konnte. Die Wälder aber, meist lichte Birkengehölze, dampften vor Nässe und gaben keinen trockenen Span her.
    Trotzdem waren sie weiter gezogen, was zum Großteil Caecus’ unerschütterlichem Optimismus geschuldet war. Geschäftige Handelsplätze hatte er ihnen in Aussicht gestellt, ausgedehnte Siedlungen, in denen sich alles beschaffen ließ, woran es fehlte. Trockene Quartiere, frisch gebrautes Bier, saftiges Wildbret, willige Weiber und vor allem: Sucinum in rauen Mengen und damit einen mehr als erklecklichen Erlös für jeden der Männer. Sie hatten es ihm abgenommen. Alle, auch Malleus, der ohnehin nichts besseres zu tun hatte. Mit der Wahrheit, nämlich, dass die großen Handelsplätze für Sucinum nicht im Norden sondern im Osten lagen und er mit seiner Expedition in Wirklichkeit völlig neue Märkte hatte erschließen wollen, war Caecus erst herausgerückt, als er viele Tage später fiebernd im klammen Stroh lag.


    Auf diese von Caecus prophezeiten geschäftigen Handelsplätze waren sie im weiteren Verlauf der Reise natürlich nicht gestoßen, stattdessen auf tückische Moore, auf winddurchtostes Strauchland, tropfende Forste und selten, sehr selten, auf winzige Gehöfte, bewohnt und bewirtschaftet von rauen unzugänglichen Menschen, deren Dialekt nur mühsam zu enträtseln war. Ein Teil der mitgeführten Waren, eigentlich für den Erwerb von Sucinum gedacht, war in diesen Tagen gegen Elementares wie Milch, Korn, Heu und Feuerholz eingetauscht worden. Einen weiteren Teil hatte ein nebelverhangenes Hochmoor verschlungen, samt Zugochsen und Treiber. Ohne ortskundigen Führer, allein gestützt auf die teils recht widersprüchlichen Wegbeschreibungen der Einheimischen war die ausgedünnte Kolonne kaum mehr vom Fleck gekommen. Malleus, dem neben den Aufgaben des Geleitschutzes auch Einteilung und Ausgabe der Rationen sowie die Aufrechterhaltung der Disziplin oblag, hatte in immer kürzeren Abständen dreinschlagen müssen, um den murrenden Tross zusammen zu halten. Noch ein paar Tage mehr des blinden Herumirrens in Nebelbänken, Regenstürmen und Flockenwirbeln hätten zweifellos zu ernsthaften Zusammenstößen geführt. Aber so weit war es nicht gekommen. Einen Tag nach dem bedauerlichen Zwischenfall im Moor hatten sie endlich einen Landstrich erreicht, der den Beschreibungen, die Caecus vom Hörensagen kannte, frappierend ähnelte. Eine schmale, nach Nordosten weisende Bucht hatte sich vor ihnen aufgetan, an deren Südufer eine stattliche Zahl von Langhäusern aus dem Dunst schimmerte. Zumindest von weitem betrachtet, war ihnen diese Siedlung vorgekommen wie ein wohlmeinendes Versöhnungsgeschenk der Götter. Ein Trugschluss, wie sich beim Näherkommen herausgestellt hatte.


    Zwischen die niederen Gebäude war knietiefer Schlamm gedrungen, viele Häuser waren gänzlich abgedeckt, manche gar bis zum Türsturz überschwemmt worden. Ein heilloses Durcheinander undefinierbaren Gerümpels hatte sich an den Hauswänden aufgetürmt. Alles, was zwei Hände hatte, ob Mann, Frau, Kind oder Greis, war damit beschäftigt gewesen, das verbliebene Hab und Gut aus dem Morast zu graben und den heimgesuchten Teil der Siedlung wieder einigermaßen bewohnbar zu machen. Denkbar ungünstige Voraussetzungen für Handelsabschlüsse jedweder Art. An ein erschwingliches Quartier für achtzehn Mann, sechs Pferde und ein Dutzend Ochsen war unter diesen Umständen gar nicht zu denken gewesen, und für das Wenige an Viehfutter, Holz und Lebensmitteln, das sich hatte erwerben lassen, war ein Großteil der Keramikwaren und sämtliche Stoffballen draufgegangen.
    Obwohl nur dürftig verproviantiert, ernüchtert und eingeschüchtert von der zerstörerischen Gewalt der Fluten, hatte sich die Mannschaft ein letztes Mal von Caecus’ Überzeugungskraft blenden lassen und war weiter gezogen; in respektvollem Abstand zum Südufer der Bucht nach Osten, wo Caecus einerseits auf weitere Siedlungen zu stoßen hoffte, denen Wind und Wasser weniger hatten anhaben können, und wo er andererseits einen Küstenabschnitt vermutete, den die Sturmflut in eine wahre Halde aus Sucinum verwandelt haben musste. Auch das war schief gegangen.


    Nach sechs Stunden Wegstrecke bei ungewöhnlich milden Temperaturen war plötzlich ein greller Blitz keine fünfzig Schritte vor dem ersten Gespann in eine einsam dastehende Buche gefahren, begleitet von ohrenbetäubendem Donner, der Pferde und Ochsen augenblicklich in Panik versetzt hatte, und nicht nur die. Ein weiteres Zeichen des Götterzornes hatte es nicht mehr gebraucht, um den Zug zum Stehen zu bringen. Diesmal endgültig. Während Treiber und Reiter noch damit beschäftigt waren, die Tiere zu beruhigen, hatte sich ein veritables Wintergewitter über dem flachen Land entladen. Erst wütende Böen und Regenschauer, dann eisiger Sturmwind und Schneeregen, danach Windstille und erstickend dichtes Schneegestöber. Stunde um Stunde.
    Am trüben Ende einer klirrend kalten Nacht hatte Malleus angesichts des wieder auffrischenden Windes drei der sechs Karren entladen und auseinander nehmen lassen, um sie zusammen mit den vollgesogenen Zeltplanen und mühsam aus dem schneebedeckten Boden gestochenen Grassoden zu einer improvisierten Unterkunft zusammen zu zimmern. Hätten die durchgefrorenen Männer damals geahnt, dass sie noch Dutzende von Tagen in diesem Verschlag würden ausharren müssen – sie wären vermutlich lieber in alle vier Himmelsrichtungen davon gekrochen als sich das anzutun. Malleus eingeschlossen. Aber auch er hatte zu diesem Zeitpunkt noch immer gehofft, lediglich vom letzten Aufbäumen eines ansonsten milden und kurzen Winters erwischt worden zu sein. Als kurz hatte sich der Winter dann aber ganz und gar nicht erweisen und als mild erst recht nicht, vielmehr als wild, launisch und gehässig. Er war nicht einfach mal eben eingebrochen, sondern hatte sich dauerhaft niedergelassen. Nicht allein mit Schnee und Eis, wie man es im südlicheren Germanien gewohnt war. Dieser Winter hatte – mit Ausnahme von Sandstürmen – so ziemlich alles aufgeboten, was man sich an Unbilden vorstellen konnte. Sturmwind von Westen, Sturmwind von Osten, Regen, Schnee, Gewitter, vereinzelt sogar Hagel. Frost, Tauwetter, wieder Frost, wieder Tauwetter, und nicht zuletzt die zermürbenden Begleiterscheinungen, die eine solche Lage zwangsläufig mit sich brachte. Mangel, Händel, Krankheit. Und doch waren all diese unerfreulichen Entwicklungen nicht mehr als ein bloßes Ärgernis verglichen mit dem, worauf Malleus bei einem seiner Erkundungsgänge nur ein paar Meilen weiter östlich gestoßen war: Das blanke Entsetzen. Die offene See. Das todbringende Reich der Midgardschlange.


    Seit jenem Tag war ihm das grauenvolle Bild des schäumenden Weltendes nicht mehr von der Seele gewichen, weder im Wachen noch im Träumen; hatte ihn jeden Morgen auf’s Neue zu sich gezogen wie das Aas den Geier. Bei jedem Wetter. Über Schnee, Eis, Matsch und Schlamm. Trotz der Schmerzen, die die Witterung in seinen alten und neueren Narben pochen ließ, trotz der Beklemmung, die ihm die Brust einschnürte. Hier draußen auf den Dünen, im salzig sauren Atem der Schlange, verlor die ganze Drangsal des Lagers an Bedeutung, hier blieb ihm nur noch der nackte Wille, um sich gegen die eigenen Ängste zu stemmen. So auch an diesem, dem letzten Tag.


    Sechs Männer hatte der vergangene Winter sich geholt. Vier waren am Fieber zugrunde gegangen, einer verschollen und einer im Streit erschlagen worden. Nicht von Malleus, wie der händelsüchtige Amisvarier es durchaus verdient hätte, sondern von seinem eigenen Stammesbruder. Malleus hatte es längst aufgeben, sich in die regelmäßigen Keilereien einzumischen. Caecus und zwei hochanständige Chauken mal ausgenommen, gingen ihm die Männer allesamt gehörig auf die Nerven. Es lohnte nicht, sich mit dem Pack herumzuschlagen, und außerdem – auch wenn er es sich nicht anmerken ließ – fühlte er sich langsam zu alt für diesen Scheiß. Seinetwegen hätten auch noch ein paar weitere hungrige Mäuler in’s Gras beißen können. Gebraucht wurden sie jetzt ohnehin nicht mehr. Es gab kaum mehr etwas zu treiben, zu verladen oder zu bewachen. Von zwölf Ochsen waren ihnen fünf geblieben. Drei hatten sie – ebenso wie zwei der Reittiere – an die Schneestürme verloren, zwei selbst vertilgt und den Rest zusammen mit den nutzlos gewordenen Keramikwaren im Laufe der letzten sechs Tage auf den spärlich gesäten Höfen des Umlandes gegen Werkzeug und Proviant für den Rückweg getauscht. Auf dem Wein waren sie sitzen geblieben. Den Luxus brauchte hier kein Mensch.
    Fünf Ochsen, vier Pferde, drei morsche Karren, eine Ladung Wein und ein Dutzend zum Teil kranker Männer galt es also, heil nach Treoua zurück zu bringen. Kein Sucinum. Nicht einen Klumpen. Das Interesse an Sucinum war allen gründlich vergangen. Auch Caecus. Der hatte das Fieber nur mit ausgesprochen viel Glück überlebt und wollte bloß noch zurück in die Zivilisation. Zumindest am Wetter würde es nicht mehr scheitern. Vier sonnige Tage waren verstrichen. Das musste reichen. Der Boden war zwar noch feucht aber immerhin fest genug, um die Karren zu tragen. Höchste Zeit, sich endlich davonzumachen.


    Während Malleus seinen Gedanken nachgehangen war, hatte sich draußen auf See ein rotgelb glühendes Oval aus den Fluten erhoben. Geteilt von der düsteren Linie des Horizontes. Zitternd. Lauernd. Das Auge einer Schlange. Schaudernd wandte er sich ab und trat mich weichen Knien den Rückweg zum Lager an. Nichts wie weg hier. Nach Süden. Nachhause. Wo immer das auch sein mochte.

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