Cubiculum | Claudia Sisenna

  • Sie spielte Blinde Kuh. Die Augen waren verbunden und sie sah nichts. Somit konnte sie auch nicht gesehen werden. Naja, sie wusste, dass dem nicht so war, aber dran glauben gefiel ihr. Dummerweise spielte Onkel Menecrates nicht mit. Er redete und schlimmes Zeug dazu.

    Was?“ Sie schob die Augenbinde hoch. „Das das“ Das war nicht zu fassen. „Du bist auch wieder gesund geworden und wurdest nicht erlöst. Wieso überhaupt erlöst? Das ist doch keine Lösung?“

  • Erlösen war eine Lösung, wenn auch in Sisennas Augen keine gute. Menecrates konnte das sogar nachvollziehen, obwohl es sein Vorhaben schwerer machte. Er musste außerdem zugeben, dass ihn die Aussage getroffen hatte, selbst nicht erlöst worden zu sein, als er krank, versteift und behindert war. Er malte sich aus, wenn alle erkrankten Römer von einer übergeordneten Macht - und er meinte eine staatliche Macht, keine göttliche - entsorgt werden würden, weil sie der Gemeinschaft zur Last fielen. Bei dieser Vorstellung schüttelte er sich kurz. Seine Zielvorgabe bröckelte. Er ging zu einem Stuhl, setzte sich und seufzte.


    "Du hast Recht", gab er resigniert zu. Ihm fiel in dieser Sache kein plausibler oder wenigstens Sisenna überzeugender Grund ein, warum ein versteift laufendes Pferd sterben und ein versteift laufender Senator, der zudem seinen linken Arm von oben bis unten nicht mehr gebrauchen konnte, gesundgepflegt werden sollte. Mit dem erheblich verschiedenen Stellenwert brauchte er Sisenna nicht kommen. Das Kind zeigte seit langem einen Tiertick und glaubte trotz bester Erziehung, auch Tiere besäßen ein schätzenswertes Wesen, ein Innenleben. Er seufzte erneut, stützte den Ellenbogen auf das Knie und lehnte die Stirn gegen die Hand.


    "Was schlägst du vor?"

    Warum bestimmte er nicht einfach? Warum konnte er als Opa und Onkel nicht so streng sein wie als Vater? Mütter und weibliche Angestellte besaßen mehr Durchsetzungskraft als er. Wieder einmal wünschte er sich, ihm würde die Erziehung abgenommen. Er wollte sehr gerne der liebe Onkel sein, der etwas Leckeres mitbrachte, kurz spielte oder Spaß machte und dann auch wieder ging. Keine Verpflichtungen, keine Notwendigkeiten.

  • Das Recht stand meistens auf Sisennas Seite. Sie hatte längst gelernt, wie sie es bunkern konnte. Nun galt es, Vorschläge zu machen.

    „Wir holen ihn her. Er kann bei uns leben und ich kümmere mich um ihn.“ Sie setzte ihr bezauberndstes Lächeln auf und träumte schon von gemeinsamen Gartenspaziergängen.


  • Mobilität kehrte in Menecrates zurück, als er den Vorschlag hörte. Er blickte auf und erhob sich. Ein kurzes Lachen erklang, dann biss er sich auf die Lippen. Er musste Sisenna ernst nehmen, sonst artete das Gespräch gänzlich aus.


    "Wie stellst du dir das vor? Er ist ein Rennpferd und kein Kuscheltier. Wir haben hier keine Unterkunft, keine Weide, keinen Auslauf. Er muss außerdem gelegt werden."

    Er war bereit, Sisenna entgegenzukommen, nur mussten die Wünsche realistisch umsetzbar sein. Momentan sah er nichts außer Traumschlössern eines kleinen Mädchens, dass zwar ein großes Herz besaß, aber anscheinend keinen klaren Verstand. Sie würde nachgeben müssen und der Claudier hoffte, sie sah das ein.

  • Sie kam auf die Beine und schimpfte.

    „Du bist so gemein! Erst fragst du mich und dann willst du ihn doch erlegen.“

    Tränen rannen. Erst aus Entsetzen, später aus Wut. „Das erlaube ich nicht. Er ist mein Pferd. Du hast gesagt, er gehört mir.“ Sie bot einen lustigen Anblick mit ihrer Augenbinde, die als schiefes Stirnband diente. Sie japste nach Luft und suchte nach Worten.

  • Tja, das war es wohl mit der erwarteten Einsicht, dachte er bei sich. Er rieb sich teils ratlos, teils frustriert die Stirn und atmete hörbar aus. Plötzlich ging ihm ein Licht auf.

    "Moment! Ich sagte, er muss gelegt werden, nicht erlegt. Das ist ein Unterschied!" Ein gravierender sogar, daher holte Menecrates, den neue Hoffnung erfüllte, tief Luft und startete die Aufklärung.

    "Wird ein Tier erlegt, ist es tot. Wird ein Tier gelegt, lebt es weiter. Gelegt werden können nur männliche Tiere. Sie sind danach umgänglicher." Manche stumpfen auch ab, aber das erwähnte Menecrates nicht.

    "Bist du damit einverstanden?" Er musste fragen, obwohl er lieber bestimmt hätte. Als Tutor hatte er dazu sogar das Recht, aber er würde mit Sisenna unter einem Dach weiterleben müssen und das wollte er so erträglich wie möglich gestalten.

  • Ganz bestimmt würde Sisenna in nichts einwilligen, von dem sie nicht wusste, was es bedeutete. Sie legte ihr Köpfchen schief. Zuerst zog sie die Brauen zusammen. Dann schob sie die Brauen nach oben. Die Erleuchtung wollte aber nicht kommen. Sie setzte sich und legte die Hände in den Schoß.


    „Was genau wird da gemacht?“

    Sie sah genau hin und würde merken, wenn der Onkel sie anlog.

  • Für Momente blickte Menecrates seine Nichte wie erstarrt an, dann suchte er sich einen Platz. Mit einem Seufzer setzte er sich. Er befand sich im Zwiespalt. Eine Kastration zu erklären, konnte Sisenna entweder nicht verstehen oder sie würde Schaden nehmen. Andererseits war ihm vor wenigen Jahren auch schon die Aufklärung mittels Bienen und Blumen misslungen, sodass eine Verniedlichung eigentlich auch nicht infrage kam. Abgesehen davon, fiel ihm spontan nicht einmal etwas Kindgerechtes als Umschreibung ein. Also am besten die Wahrheit möglichst schonend sagen und sehen, wie viel Anlauf er dafür nötig haben würde.

    "Also, dir ist doch bestimmt schon aufgefallen, dass Männer anders sind als Frauen und Hengste anders als Stuten." Vielleicht führte das zu Missverständnissen, also sprach er schnell weiter. "Frauen sind meistens geduldig und Männer müssen hart an ihrer stoischen Ruhe arbeiten. Der Kopf will ruhig sein, aber das Blut schäumt zuweilen. So ist das beim Mann." Er überzeugte sich, ob Sisenna halbwegs verstand, dann fuhr er fort. "Bei Hengsten kommt außer diesem schäumenden Blut noch Raffgier dazu. Jeder Hengst will alle verfügbaren Stuten haben. Du weißt, bei Männern ist das in der Regel anders." Er fragte sich, ob sie das wirklich wusste, aber andererseits sah man immer einen Mann und eine Frau in Ehe; Seitensprünge nicht ausgeschlossen.

    "Das heißt, wenn ein Hengst nicht mehr trainieren kann, hat er nur noch Stuten im Kopf und prügelt sich darum mit den anderen Hengsten. Sie beißen einander und steigen und manchmal kommt es dabei sogar zu Todesfällen. Das wollen wir doch nicht, oder?"

    Er richtete sich etwas auf, weil er seine Einleitung sehr gelungen fand und ihn das erleichterte.

    "Jetzt gibt es einen Trick, mit dem man das schäumende Blut so zusagen ablassen kann." Er stockte. Diesen Satz hätte er lieber zurückgenommen, weil es sich stets rächte, wenn er bei Sisenna schlimme Dinge verniedlichte. "Also es ist kein Trick, es ist ein …" Ihm fehlte das passende Wort. Als ihm Momente später noch immer nichts Kindgerechtes eingefallen war, sprudelte er heraus: "Es ist ein Schnitt." Er traute sich nicht, Sisenna anzusehen.

  • Ihre Augen wechselten von groß, wenn sie das Gehörte erstaunte, zu zusammengekniffen, wenn sie die Erklärung nicht verstand. Leider verstand sie von dem Gesagten einiges nicht und das, obwohl sie genau zuhörte. Immerhin stimmte sie durch Kopfnicken zu, als der Onkel sagte, er wollte keinen Todesfall durch Kampf. So lange sie jedoch überlegte, ein glimpfliches Ablassen von schäumenden Blut ging an ihrem Körper nicht und demzufolge wohl auch nicht bei einem Tier. Der Onkel bestätigte das, indem er einen Schnitt erwähnte, was Sisenna an religiöse Opferungen erinnerte. Sie riss die Augen auf. Ihr Misstrauen wuchs nicht allein wegen dem Schnitt, den sie sich furchtbar vorstellte. Sie misstraute vor allem, weil der Onkel erst herumdruckste, bevor er mit der Sprache herausrückte. Sie war vielleicht jung an Jahren, aber nicht dumm. Hier stimmte etwas nicht, daher fragte sie nach.


    "Schneiden tut weh. Er wird sich quälen. Wo überhaupt wird geschnitten und wie stoppt ihr am Ende das Bluten. Die armen Opfertiere müssen dabei immer sterben!"

  • Wo hatte er sich nur hineinmanövriert? Die Lage war nicht nur verzwickt, er sah keinen Ausweg, weil ihm die Worte fehlten. Nichts würde Sisenna zufriedenstellen, das glaubte er, und gleichzeitig wurde ihm bewusst, wie schäbig der Vorgang des Kastrierens war, wenn kein mildes Wort diese Prozedur erklären konnte.

    "Weißt du was? Wir versuchen es erst einmal ohne kastrieren." Er lächelte hilflos, dann floh er aus dem Raum.

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