Hier war Arwid nun, an dem Ort, an dem sein Schicksal vor über zehn Jahren eine dramatische Wendung genommen hatte. Nicht mehr viel erinnerte daran, dass hier einst Menschen gelebt hatten. Die Natur hatte sich längst das wieder zurückgeholt, was man ihr einst abgerungen hatte. Lediglich einige wenige Grundmauern, versteckt zwischen Efeu und Gebüsch, ließ darauf schließen, dass es hier einst geschäftig zugegangen war. Männer, Frauen, Kinder, Familien – Leben. Doch dieses Leben war gewaltsam ausgelöscht worden. Die Häuser hatte man niedergebrannt und diejenigen, die nicht Gefallen oder hingerichtet worden waren, hatte man in Ketten gelegt und verschleppt.
Arwid war noch ein Junge gewesen. Sein Vater und die beiden älteren Brüder waren im Kampf gefallen. Seine Schwester Alsuna hatte lieber den Tod gewählt, statt in die Sklaverei geführt zu werden. Hilflos hatte er mitansehen müssen, wie man seine Mutter geschändet und dann gemeuchelt hatte. Arwid hatte, bis man ihn entdeckt hatte, in seinem Versteck ausgeharrt. Unfähig sich zu rühren. Starr vor Entsetzen. Er hatte das Blut seiner Sippe in der Erde versickern sehen. Dies war ein heiliger Ort.
Arwid stieg von seinem Pferd, welches er sich links des Limes gestohlen hatte. Anschließend hievte er eine verschnürte Gestalt vom Rücken seines Pferdes. Mit einem schmerzerfüllten Seufzer fiel der Gefesselte auf den weichen Moosboden. Zunächst ließ er den sich windenden Körper dort liegen, band sein Pferd an einem Baum fest und entledigte sich seiner Tunika. Ein muskulöser Körper, der mit etlichen vernarbten Wunden und Striemen versehen war, kam zum Vorschein.
Der Germane packte seinen Gefangenen und stellte ihn auf die Füße. Dann zog er seinen Dolch. Der Gefesselte, ein junger Mann kaum älter als sein Entführer selbst, erzitterte, versuchte trotz des Knebels in seinem Mund ein paar bittende Worte zu formen, was ihm allerdings nicht gelang. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn in der Gewissheit gleich sterben zu müssen. Der Dolch jedoch drang nicht in das Fleisch des Gefangenen ein – noch nicht. Er befreite ihn lediglich von dem Strick, der ihn gebunden hatte. Er entfernte auch den Knebel aus dem Mund seines Gefangenen, was unweigerlich dazu führte, dass der Gefangene sofort damit begann, um sein Leben zu winseln. „Bitte Herr, lass mich gehen. Ich werde dich auch nicht verraten. Wenn du mich laufen lässt, dann wartet eine große Belohnung auf dich, ich…“ - „SCHWEIG!“, unterbrach der Germane ihn mit seiner donnernden Stimme. „Herr, nennst du mich also. Jetzt also bin ich dein Herr??“, schrie er und setzte ihm den Dolch an seine Kehle. „Bitte Herr,“ wimmerte der Gefangene, der nur noch der Schatten seiner selbst war. Die Augen des Germanen sprühten vor Hass und Verachtung. Er packte seinen Gefangenen im Nacken und schob ihn vor sich her, bis er an einem großen Baum, einer alten Eiche zum Stehen kam. „Knie nieder!“, befahl der Germane und schubste ihn nach vorne. Der Gefangene sank auf die Knie und hob noch einmal bittend sein Antlitz seinem Mörder entgegen.„Bitte Herr, mein Vater wird dich reich belohnen, wenn du mich nicht tötest!“ Arwid jedoch blieb hart. Nichts, rein gar nichts hätte ihn erweichen können. Er hatte alles ganz genau geplant, all die Jahre über und in seinem Plan hatte das Wörtchen ‚Gnade‘ keinen Platz gefunden. „Das Geld deines Vaters interessiert mich nicht, Römer!“, antwortete Arwid kalt. „Dein Blut für das meiner Sippe!“ Arwid hatte ihn beim Schopf gepackt und seinen Kopf nach hinten gezogen. Die Augen des jungen Mannes waren vor Schrecken geweitet. Noch ehe der junge Römer hätte ‚Nein‘ schreien können, schlitzte Arwids Dolch seine Kehle auf. Das warme Blut des jungen Mannes quoll aus der klaffenden Wunde. Ein letzter Atemzug entwich hörbar der Kehle, dann schwand zusehends das Leben aus dem Körper des Römers.„Sein Blut für euer Blut! Großer Tyr, nimm mein bescheidenes Opfer an und sei mir immer wohlgesonnen, bei dem, was kommen wird!“ Der junge Germane tunkte zwei Finger in das noch warme Blut und strich es in sein Gesicht und an seinen nackten Körper.
Nachdem er den toten Körper seines Gefangenen entkleidet hatte, band er den Strick um seine Füße und hängte ihn kopfüber an einen festen Ast der Eiche. Dort ließ er ihn hängen. Dann zog er seine Tunika wieder über, band sein Pferd los und verließ diesen Ort für immer.
Sein Hass und sein Verlangen nach Rache trieb Arwid weiter. Sie alle, die sich jenseits der Limes in Sicherheit wähnten, sollten dafür bezahlen, was man ihm, seiner Familie und seinem Volk angetan hatte! Er war auf dem Weg. Er würde bald bei ihnen sein!