Tief in der Provinz Germania Superior, irgendwo zwischen Mogontiacum und Borbetomagus, lag der Hof des Schweinebauers Brigio und seiner Frau Lydia. Der Schweinehof des Brigio war einer der wenigen landwirtschaftlichen Betriebe, die nicht unter den Fittichen eines römischen Großgrundbesitzers standen. Brigio züchtete nun seit über dreißig Jahren Schweine. Die ersten Jahre waren hart gewesen und er lebte mit seiner Frau von der Hand in den Mund. Mittlerweile hatte er sich einen Ruf erarbeitet und pflegte gute Beziehungen in den römisch-germanischen Städten, die ihm zu einem geregelten Einkommen verhalfen. Er besaß über hundertfünfzig Schweine, die er nachts in Ställen hielt und die tagsüber in einem großen Eichenwald weideten. Sein Fleisch lieferte er bis nach Italia im Süden, Britannia im Norden und Gallia im Westen. Tagein tagaus ging das Leben auf dem Hof seinen geregelten Gang. Brigio war zufrieden und schätzte das einfache Leben auf dem Land - genauso wie seine Frau Lydia, die ihn nicht nur tatkräftig bei der Schweinezucht unterstützte, sondern sich auch um die Erziehung ihres gemeinsamen Ziehsohns Nero kümmerte.
Heute jedoch nahm dieser geregelte Gang eine vorhersehbare Wendung. Es war der Tag gekommen, an dem Nero den Schweinehof verließ und in neue Welten aufbrechen wollte. Viele Jahre hatten Brigio und Lydia ihrem Ziehsohn seine Herkunft verschwiegen, denn sie waren glücklich gewesen. Es war wohl das schlechte Gewissen, dass sie vor etwa einem Jahr dazu bewegte, ihm die Wahrheit zu erzählen. Wochenlang hatte Nero daraufhin kein Wort mit Brigio oder Lydia gewechselt. Er war wütend gewesen. Später reifte in ihm jedoch die Erkenntnis, dass er womöglich genauso gehandelt hätte. Vielleicht war es egoistisch, vielleicht war es auch der natürliche Schutzinstinkt von Eltern, die ihr Kind wie das Eigene großgezogen hatten. Neros ‚wahre‘ Familie hatte sich nie für ihn interessiert. Er kannte nun den Namen seiner Mutter, die ihn weggegeben hatte, als er wenige Monate alt gewesen war. Über seinen Vater dagegen hatten Brigio und Lydia geschwiegen – vielleicht, weil sie es nicht besser wussten, vielleicht, weil sie ihm noch immer nicht die ganze Wahrheit anvertrauen wollten.
Für Nero war es zunächst ein Schock gewesen. Er hatte sich mit dem einfachen Leben auf dem Schweinehof arrangiert und hatte sich aufgrund der Annahme, ein einfacher Bauer zu sein, auch nie zu höheren Aufgaben berufen gefühlt. Er sollte dereinst den Hof von Brigio übernehmen und eine stattliche Frau heiraten, die ihm Kinder gebar und mit der er gemeinsam die Tradition des Schweinebauers fortführen konnte. Nun gestaltete sich aber alles anders. Es hatte viele Monate gedauert, bis Nero sich über seinen weiteren Weg bewusst geworden war. Kurzzeitig hatte er sich mit dem Gedanken angefreundet trotz alledem auf dem Schweinehof zu bleiben. Letztlich siegte jedoch das zehrende Verlangen, einen neuen Weg zu beschreiten und seine Herkunft zu ergründen.
Der Abschied war emotional gewesen. Wenngleich Nero seine bitterkühle Mine wahrte, war er innerlich berührt gewesen. Unter Tränen hatte sich Lydia entschuldigt und Nero hatte sie beschwichtigt, denn sein anfänglicher Zorn über diese Lüge hatte sich in Dankbarkeit gewandelt. Selbst Brigio, ein Bär von einem Mann mit kräftiger Statur und langem schwarzen Bart, hatte die ein oder andere Träne vergossen. Nero hatte angekündigt zurückzukehren, sobald es seine neuerlichen Pläne zuließen und war von dannen gezogen.
Mit etwas Proviant und der Kleidung, die er am Leibe trug, schritt Gaius Germanicus Nero nun über Feldwege und Wälder nach Mogontiacum, wo er ein neues Leben beginnen wollte.