Wie ein Lauffeuer hatte es sich unter den astrologisch gesinnten Damen der Stadt verbreitet: die berühmte Sterndeuterin, die große Semiramis, gastierte in Rom. Nur für kurze Zeit! Eine echte Babylonierin sei sie, auf Du und Du mit den Geheimnissen des Kosmos, eingeweiht in die ewigen Mysterien der Schicksalsmächte. Und manche flüsterten auch, sie sei in Wirklichkeit ein uralter Sternengeist des Zweistromlandes, der nun im Körper einer Frau erneut durch die Welt wandele, um die Sterblichen ihr geheimes Wissen zu lehren.
Die Gelegenheit konnte Marcella sich nicht entgehen lassen. In ihrer weißen Sänfte, die mit Blumen und allerlei goldenem Acanthuswerk verziert war, schaukelte sie über die Menschenmenge in Richtung Circus Maximus. Sie ruhte bequem in den weichen Kissen und streichelte ihren Lieblingspudel. Das schneeweiße Hündchen hechelte träge. Es war nach Löwenart geschoren und komplett überfüttert. Auch eine Zofe war dabei. Die Sänfte wurde von sechs kraftstrotzenden Nordmännern getragen, die alle in die Farben des matinischen Familienwappens gekleidet waren.
So ging es komfortabel zu den Arkaden, wo sich vor dem großen Zelt der berühmten Wahrsagerin bereits eine lange Schlange gebildet hatte. Ein kupferhäutiger Mensch in exotischen Gewändern überwachte den Einlass.
Natürlich hatte Marcella nicht vor, zu warten wie das einfache Volk. Sie schickte ihre Zofe mit einer monetären Aufmerksamkeit zu dem Wächter, der sie prompt an der Schlange der Wartenden vorbeiführte, und mit einer tiefen Verbeugung in das dämmrig dunkle Innere des Zeltes geleitete.
Hui, wie war das aufregend! Schwaden süßlichen Rauches wanden sich träge, darauf zeichneten sich scharf die einzelnen von oben hereinfallenden Lichtstrahlen ab. In zwei Feuerschalen waberten grüne Flammen, tauchten den Umriss der Wahrsagerin in ein unheimliches leichenhaftes Licht. Ein hoher Kopfschmuck schimmerte, von diesem hingen Ketten von Knochen-Perlen und umrahmten das tief gefurchte Gesicht der großen Weisen. Stechende Augen, ein hypnotischer Blick. An eine Vogelkralle erinnerte die hagere Hand mit den schweren Armreifen, die sich Marcella entgegenstreckte.
"Komm, mein Kind, komm nur." raunte die große Semiramis geheimnisvoll. "Du möchtest dein Geschick erfahren? Doch bedenke wohl, was einmal erschaut, wird nimmer vergessen. Die Sterne lügen nicht. Freud und Leid haben die Unsterblichen dir zugemessen, und für schwache Gemüter mag Unwissenheit ein Segen sein..."
Eine kalter Schauer lief kribbelnd über Marcellas Rücken. Doch sie hob das Kinn und erklärte fest:
"Ich will wissen was die Zukunft für mich bereit hält."
"Ah, ein wacher Geist, unerschrocken und bereit wahrhaft zu sehen..."
"Ausserdem" präzisierte Marcella. "...will ich wissen, wann mein Großvater seinen letzten Atemzug tun wird."
Sie hatte den alten Familienpatriarchen ja sehr gerne, aber das Erbe, das sie beim Todes des Proconsulars erwartete, würde sie schlagartig zu einer der allerreichsten Frauen des Imperiums machen. Vorausgesetzt, dass Großvater auf seine alten Tage nicht irgendwelchen Erbschleichern auf den Leim ging.
"So sei es."
Mystische Worte murmelnd, bestimmt war das die Sprache der alten Babylonier, verstreute die Zauberin zwei Handvoll Asche auf dem vor ihr ausgebreiteten Tuch. Sie reichte Marcella einen Stab, der sich eiskalt anfühlte, und schwer war, wie Blei und gebot ihr:
"Schreibe den Tag deiner Geburt in die Asche."