Ruhig und still war es in der Seitengasse, durch die er schritt. Es gab in Rom auch Nachts genügend Orte an denen das Leben pulsierte, aber hier und jetzt war es still und leer. Keine andere Menschenseele befand sich mit ihm auf dieser Straße. Es war auch nicht unbedingt die beste Gegend. Unrat lag in manchen Ecken und auch der Geruch nach verfaultem Essen und Fäkalien war nicht zu ignorieren. Aber Laevinus interessierte sich nicht wirklich dafür. Er hing seinen Gedanken nach. Vom Aventinus her kommend, war er schon eine Weile unterwegs. Hatten seine Schritte ihn anfangs noch ziellos durch die Straßen geführt, hatte er mittlerweile wieder bemerkt wo er war. Zumindest mehr oder weniger. Er musste irgendwo zwischen dem Esquilinus und dem Capitolinus sein. Wenn er durch Gassen oder Häuserspalten blickte, konnte er das Ampitheater sehen, welches er schon passiert hatte. Die beste Wohngegend schien er hier wirklich nicht erwischt zu haben, was ihm aber im Moment nicht gleichgültiger hätte sein können.
Sein Gang führte ihn nun wieder nach Südwesten, hin zum Amphitheater und zum Forum. Nach Hause wollte er nicht und so folgte er einer inneren Eingebung und änderte seine Richtung also wieder. Hatte er am heutigen Abend richtig entschieden? Diese Frage stellte er sich seit seinem Aufbruch vom Anventin schon zum etlichsten Mal. Es war seine Entscheidung gewesen, seine alleine. Niemand hatte ihn gedrängt. Er selber war das Monster. War es das wert gewesen? Wieder dachte er an Aviana, an ihr tränennasses Gesicht. War er von allen Göttern verlassen, dass er solch eine dumme Entscheidung gefällt hatte? Er hatte sie verlassen. Seit zwei Jahren kannten sie sich nun, zwei wunderschöne Jahre in denen er die glücklichsten Stunden seines Lebens verbracht hatte. Sie hatte ihn geliebt, das hatte er deutlich gespürt und auch er... sein Herz sehnte sich nach ihr und es wollte bei dem Gedanken an ihre Trauer zerspringen. Er war ein Monster, das hatte er in jenem Moment begriffen da er sie auf der Straße hatte stehen lassen und ihr Schluchzen gehört hatte. Er hatte sich nicht umgesehen, war immer weiter gegangen und hatte damit begonnen sich zu hassen.
Aber es war immer der Ausgang gewesen, den sie beide hätten kommen sehen müssen. Er war ein Patrizier, Sohn einer einflussreichen Familie und dazu bestimmt einst in die Fußstapfen seiner Vorfahren zu treten. Sie war die Tochter eines Händlers und sie würde einmal einen Händler heiraten und ein einfaches Leben führen. Als er sie damals zum ersten Mal gesehen hatte, jung und wunderschön, voller Lebensfreude und Freundlichkeit, hatte er eine Weile lang geglaubt dass sie beide eine Zukunft haben könnten. Aber die Wahrheit hatte ihn schnell eingeholt. Er konnte keine Frau von niederer Geburt ehelichen. Eine Frau ohne jegliche Verwandschaft die ihm Vorteile bieten könnte. Er hatte diese Entscheidung fällen müssen. Für seinen Vater, für seine Vorfahren. Sie alle erwarteten von ihm dass er ihnen gerecht wurde.
Mittlerweile hatte er das Forum erreicht. Das Zentrum Roms. Hier waren einige Menschen unterwegs und doch war es um einiges ruhiger als am Tage. Prunkvolle Bauwerke säumten das Gelände und marmorne Statuen erhoben sich stolz von ihren Sockeln. Fand er hier Bestätigung? Er blieb vor einer Statue stehen, die einen Reiter darstellte. Hoch auf einem Sockel saß der Reiter auf seinem marmornen Pferd, war gekleidet in Rüstung und gekrönt von einem Lorbeerkranz. Streng und stoisch schien der Blick zu sein, unbeeindruckt von dem Schmerz den Laevinus mit sich trug. Kaiser Augustus, der Erneuerer Roms, der Größte unter all seinen Herrschern. Ob es vermessen war sich zu fragen ob dieser Mann einst ähnliche Opfer bringen musste? Ob er auch hatte wählen müssen zwischen einem einfachen aber glücklichem Leben und dem Leben welches er am Ende gelebt hatte? Laevinus fand es vermessen. Natürlich war er selber ein Niemand im Vergleich zu diesem Manne. Und was war sein Schmerz im Angesicht von etwas so viel größerem?
Rom brauchte ihn nicht. Sich so etwas einzureden war vermessen. Rom würde auch weiterbestehen wenn er, Lucius Aurelius Laevinus, sich für das Leben in Schande entschieden hätte. Eine Enttäuschung für seine Familie wäre er gewesen, eine Verschwendung vielleicht sogar. Aber selbst die Gens Aurelia hätte es in ihrer Gesamtheit vermutlich nicht sonderlich erschüttert wenn er sich nicht für die Politik entschieden hätte. Er hatte diese Entscheidung für sich getroffen. Denn am Ende war ihm sein eigener Weg eben wichtiger gewesen als das Glück seiner Aviana. Als sein Glück. Er wollte mehr für sich als ein einfaches Leben. Er wollte ein bedeutsames Leben führen, wollte Macht und Einfluss. Und all dies konnte er nicht erreichen mit der Tochter eines einfachen Händlers an seiner Seite. Es war nicht einfach die Schuld nicht abwälzen zu können. Er versuchte immer wieder sich einzureden dass es ja seine Pflicht war, aber eine fiese innere Stimme schalt ihn dann jedesmal einen Lügner. Man hatte immer eine Wahl und er hatte seine am heutigen Abend getroffen.
Von Schuldgefühlen, Trauer und Selbsthass zerfressen ließ er sich am Fuße der Statue auf den Boden sinken, den Rücken gegen den steinernen Sockel lehnend. Er trug unauffällige Kleidung. Keine Lumpen, aber eben auch keine Kleidung die seinen Wohlstand deutlich zeigte. Wer Nachts alleine auf Roms Straßen unterwegs war, der Tat gut daran nicht so auszusehen als würde sich ein Überfall lohnen. Sein Blick richtete sich nun hinauf, zum sternenklaren Nachthimmel hin und seine Augen waren getrübt von Tränen. Heute Nacht würde er noch einmal um sich und Aviana weinen. Morgen dann würde sein neues Leben beginnen. Morgen würde er den ersten Schritt tun. Es gab nun kein zurück mehr.