Ein Ende und ein Neuanfang

  • Octavena liebte den Frühling. Das hatte sie immer, schon seit ihrem ersten Jahr in Mogontiacum. Damals hatte sie gemischte Gefühle bei dem Gedanken gehabt, Tarraco zu verlassen, und die kalten Winter im Norden waren nie etwas gewesen, womit sie sich richtig hatte anfreunden können. Doch wenn der Schnee endlich schmolz und die Sonne wieder hervorbrach, dann hatte auch Octavena insgeheim ein wenig das Gefühl, dass ihr eine Last von den Schultern genommen wurde. Ein wenig fand sie das selbst albern, aber diese Art von Sentimentalität konnte sie sich dann doch nicht verkneifen. Auch in diesem Jahr hatte sie sich eigentlich auf den Frühling gefreut. Darauf, dass die Tage wieder nicht nur länger, sondern auch wärmer wurden, auf entspannte Spaziergänge über den Markt bei Sonnenschein, auf frisches Grün im Garten und eine erwachende Natur. Sie hatte ja nicht ahnen können, dass in diesem Jahr alles ganz anders kommen würde.


    Es begann damit, dass ihr Mann hustend nach Hause kam. Eine Erkältung sagte er ihr, nichts Besonderes. Und tatsächlich dachte Octavena sich auch zuerst selbst nichts dabei. Ein paar Tage zuvor hatte Farold schon vor sich hin geschnieft und es wäre ja schließlich nicht das erste Mal gewesen, dass das halbe Haus sich irgendetwas von einem der Kinder eingefangen hätte. Doch dann kam zu dem Husten Fieber und zwei Tage später lag Witjon hustend und glühend im Bett, ohne dass sich sein Zustand zu bessern schien. Auch der Arzt, den Octavena schließlich rufen ließ, konnte offenbar nichts daran ändern. Er redete nur irgendetwas von Behandlungen und Mitteln, die Octavena, die sich zu diesem Zeitpunkt schon seit Tagen nicht nur mit ihren eigenen Sorgen, sondern auch mit ihren mehr und mehr verstörten Kindern rumschlug, allerdings kaum verstand. Am Ende schloss er mit dem Rat, dass sie am besten beten sollte - was sie auch tat. Doch vielleicht lag es daran, dass Witjons Götter andere waren als ihre, oder vielleicht hörte keiner von ihnen gerade zu, doch Octavenas Gebete wurden nicht erhört.


    Der Frühling erreichte Mogontiacum, die ersten sonnigen Tage tauchten die Villa Duccia in ein warmes Licht und Numerius Duccius Marsus starb. Und Octavenas so bequem gewordenes Leben geriet wieder einmal ins Wanken.

  • "Mama, Ildrun ärgert mich!"

    "Gar nicht wahr!"

    "Mama!" Farold setzte zu einer weiteren Beschwerde an, doch seine Schwester kam ihm zuvor und versetzte ihm einen Klaps gegen den Arm. Statt weiter zu protestieren, reagierte er jetzt sofort und griff nach Ildruns Haaren, um daran zu ziehen. Die schrie und machte sich daran, die Hände nach den Armen ihres Bruders auszustrecken und ihn zu zwicken, und innerhalb von Sekunden hatten Octavenas Kinder sich vor ihren Augen in ein schreiendes und schimpfendes Bündel verwandelt, bei dem es schwer war, zu erkennen, wo wer anfing und aufhörte.

    "Genug!", fuhr Octavena die Kinder an und stellte die Teller, die sie eigentlich gerade hatte verteilen wollen, klirrend auf den Tisch vor sich. "Alle beide!"

    "Aber-"

    "Kein aber!" Octavena warf ihrer Tochter einen so scharfen Blick zu, dass selbst Farold neben Ildrun ein wenig zusammenzuckte. "Farold, hör auf, deiner Schwester an den Haaren zu ziehen, und Ildrun, hör auf, ihn ständig zu ärgern."

    "Aber er hat angefangen!"

    "Das ist mir vollkommen egal. Du bist die Ältere von euch beiden. Du solltest wissen, wie man sich benimmt."
    Einen Moment lang erwiderte Ildrun darauf nichts, sondern starrte ihre Mutter nur wütend an, die allerdings diesem Blick standhielt, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Egal, wie wehmütig es Octavena manchmal machte, dass ihre Tochter inzwischen doch nicht mehr so klein war - Noch war Ildrun ein Kind und als solches unterschätzte sie noch immer sehr, wie viel von ihrer eigenen Sturheit sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Und wie sinnlos es deshalb war, zu versuchen, Octavena einfach nur nieder zu starren.


    "Papa wäre auf meiner Seite."


    Der Satz saß wie ein fester Schlag in Octavenas Magengrube. Nicht nur, weil es gerade mal ein paar Wochen her war, dass sie Witjon begraben hatten und Octavena in dem Versuch, ihre Familie nun trotzdem irgendwie zusammenzuhalten, ihrer eigenen Trauer bisher kaum Raum gegeben hatte, sondern auch, weil es stimmte. Ildrun wusste das und Octavena genauso. Wäre Witjon hier gewesen, hätte er sehr wahrscheinlich Ildrun in Schutz genommen oder die Lage anders entschärft. Octavena hätte ihn später deswegen angefahren und vielleicht hätten sie sich sogar gestritten, weil sie es leid war, wie Witjons enges Verhältnis zu ihrer gemeinsamen Tochter ihre Autorität untergrub, aber in der Sache hatte das Mädchen schon recht. Ihr Vater wäre auf ihrer Seite gewesen. Und dass er es nicht mehr sein konnte und stattdessen Octavena mit ihrer Tochter statt ihrem Mann stritt, verdeutlichte nur wieder, wie sehr er in der Dynamik ihrer Familie fehlte.


    Octavenas Züge mussten inzwischen vollkommen entgleist sein, denn für den Bruchteil einer Sekunde huschte so etwas wie Bedauern über Ildruns Gesicht, doch noch bevor ihre Mutter etwas erwidern konnte, war der Ausdruck auch wieder verschwunden und sie machte auf dem Absatz kehrt und stürmte aus dem Raum, dicht gefolgt von Farold, der sich bei der Wahl zwischen seiner wütenden Schwester und seiner frustrierten Mutter wohl entschloss, lieber Ildrun nachzugehen.

    Octavena dagegen sank, kaum dass beide verschwunden waren, auf einen Stuhl und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Und wieder schien sie alles falsch zu machen. Ildrun entglitt ihr mit jedem Tag ein bisschen mehr und zu allem Übel saß auch noch Farold zwischen den Stühlen, einfach nur, weil er zu jung war, um ganz zu verstehen, was hier eigentlich vor sich ging. Das Schlimmste war vielleicht, dass sie, während sie selbst ihren Mann mehr vermisste als sie es zugeben konnte oder es gar vor der Familie oder ihren Kindern zeigen wollte, ihren eigenen Vater gleichzeitig in sich selbst wieder erkannte. Er hatte nach dem Tod ihrer eigenen Mutter auch nicht gewusst, wie er seine sture und eigensinnige Tochter anpacken sollte, und am Ende hatte das in Geschrei, Tränen und Octavenas Reise nach Mogontiacum geendet. Und bei allem Ärger, Octavena wusste, dass sie es sich selbst nie verzeihen würde, wenn ihre Beziehung zu Ildrun enden würde wie die zu ihrem eigenen Vater.


    Mit einem tiefen Seufzen rieb sich Octavena die Augen. Die Situation konnte nicht mehr lange einfach so weitergehen, das war ihr selbst klar. Sie hatte in den letzten Wochen versucht, einfach so weiterzumachen als wäre nichts gewesen, in der Hoffnung, dass Normalität schon von allein einkehren würde, aber wenn ihre wiederholten Schlagabtäusche mit ihrer Tochter eins verdeutlichten, dann, dass die Strategie alles andere als aufging. In ihrem Versuch, sich selbst mit dem Haus und ihren Kindern beschäftigt zu halten, wurde Octavena auch selbst nur immer gereizter und es war auch nicht das erste Mal, dass das nicht nur ihr selbst, sondern auch den Hausangestellten auffiel. Ganz davon zu schweigen, dass Octavena auch schon vor Wochen versprochen hatte, ein weiteres Paar helfende Hände im Haus einzustellen, das aber dann doch nicht getan hatte, weil sie den Moment gefürchtet hatte, in dem ihre Tage nicht mehr von morgens bis abends mit Arbeit gefüllt waren und sie sich mit ihren eigenen Gedanken auseinandersetzen musste. Trotzdem: Ganz egal, wie sie es drehte und wendete, es musste etwas geschehen. Egal, wie sie es drehte und wendete, so konnte es nicht mehr weitergehen. Nicht nur um ihrer Kinder willen, sondern auch weil sie selbst erst einmal etwas mehr Luft zum Atmen brauchte. Ansonsten würden sie nie wieder zu Normalität finden.

  • Ein paar Tage nachdem ein Bote mit einem Brief zuerst in der Casa Petronia eingetroffen war, fand dieser Brief nun auch seinen Weg zu Octavena in die Villa Duccia. Sie hatte sich zuerst nichts dabei gedacht und hatte begonnen, den Brief einfach so zwischen Tür und Angel zu lesen, doch kaum, dass ihr klar wurde, worum sich sein Inhalt drehte, erstarrte sie und starrte einen Moment lang nur stumm auf das Schriftstück in ihren Händen. Witjons Erbe. Natürlich. Sie war sich nicht sicher, warum sie sich das nicht vorher schon gedacht hatte, aber irgendwie traf sie die Tatsache, dass sie nun auch offiziell aufgefordert wurde, zu entscheiden, ob sie das Erbe ihres Mannes antreten wollte, auf eine Weise, die sie so nicht hatte kommen sehen. Nicht, dass seine Abwesenheit in der Villa nicht in jedem Fall jeden Tag nur allzu spürbar war. Aber wenn selbst die Mühlen der Verwaltung in Rom sich inzwischen darum kümmerten, das Ableben ihres Mannes finanziell und rechtlich abzuwickeln, dann hatte das noch einmal eine ganz eigene Endgültigkeit, die auf ihre Weise schmerzte.


    Natürlich war es in der Sache keine Frage. Octavena würde dieses Erbe antreten, schließlich ging es hier auch um ihr Auskommen und das Erbe ihrer Kinder. Also setzte sie sich hin und schrieb ihre Antwort.

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!