Germania für Anfänger, Teil I

  • Es war einer der merkwürdigeren Tagesanfänge in Tariqs Leben, denn als er aufwachte, wusste er zunächst nicht, wo er war. Das Zimmer war fremd, das Bett war fremd, und sein Rücken tat weh, obwohl er so weich lag wie selten in seinem Leben. Sein Körper erinnerte sich immer noch an die Strapazen der Reise – der Reise? –, aber gleichzeitig fühlte er sich auch ausgeruhter. Er schlug die Augen auf, blickte eine hölzerne Decke an und fragte sich, was ihn geweckt hatte. Es dauerte einige Augenblicke, bis er wusste, was es war. Die Stille. Er hörte … nichts. Niemand redete, niemand brüllte herum, kein Pferdestampfen, kein Schnauben, kein Geklapper von Geschirr, kein Knarzen von Leder, … kurz: keine Geräusche eines erwachenden Lagers, die ihn die letzten Tage stets begleitet hatten.


    Vorsichtig setzte er sich auf und sah sich um. Das Bett nahm den Großteil des Raumes ein, ansonsten gab es noch eine fremdartig verzierte Truhe, auf der unzeremoniell seine Kleidung und sein Reisebeutel lagen, einen Tisch mit einem Krug und einer Schüssel. Die Tatsache, dass er all dies in bester Klarheit erkennen konnte, zeigte ihm, dass der Tag schon weit fortgeschritten sein musste. Die letzten Tage war er immer in der Dunkelheit aufgestanden. Das Licht … war anders. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass die Sonne schien. Die Sonne, die er seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte! Eilig stand er auf und ging zum Fenster. Der Himmel war bedeckt, doch hinter der weißen Wolkendecke schimmerte goldenes Licht, gedimmt zwar, verdeckt von einem Schleier, aber trotzdem ganz eindeutig da. Er hatte tatsächlich angefangen zu zweifeln, ob in Germanien jemals die Sonne schien, auch wenn Hadamar anderes behauptet hatte. Nun sah er sie mit eigenen Augen und war einfach nur unglaublich erleichtert.


    Jetzt, wo er direkt am Fenster stand, begann er auch Geräusche wahrzunehmen. Stimmen, die irgendwo miteinander redeten – gerade soweit weg, dass er nicht genau verstehen konnte, was sie sagten, aber doch nahe genug, dass er sie zumindest hören konnte. Er nahm an, dass sich die Sprecher auf der anderen Seite des Hauses aufhielten. Er konnte zu seiner Verwunderung aus dem Fenster einen Fluss sehen, der sich einen Weg durch eine grün-braune Landschaft bahnte.


    Langsam kam auch die Erinnerung an den gestrigen Abend zurück, die Ankunft im Haus der Duccier, die Begrüßung durch Hadamars Familie und … den Abschied von Hadamar, den Tariq nur deshalb mehr oder weniger hatte geschehen lassen, weil er einfach zu müde gewesen war, um zu protestieren. Vielleicht war das gut so, denn jetzt, nach einer guten Portion Schlaf, wusste er selbst, dass ein Protest nur lächerlich gewesen wäre. Er war schließlich kein Kind mehr und Hadamar hatte ihm gesagt, dass es so kommen würde. Er musste sich sofort bei der Legio melden und er, Tariq, würde so lange bei Hadamars Familie unterkommen, bis er zur Ala ging. Anders ging es auch gar nicht und eigentlich konnte er ja froh sein, dass Hadamars Familie ihn so freundlich aufgenommen hatte. Und ihm dieses in seinen Augen riesige Zimmer gegeben hatte, in dem er schlafen konnte. Er hatte noch nie ein so riesiges Zimmer nur für sich gehabt. Dunkel erinnerte er sich auch, dass Octavena es ihm gezeigt und ihm auch einen Krug mit Wasser auf den Tisch hatte stellen lassen.


    Er riss seinen Blick von dem Fluss los – noch immer war er über die Menge an Wasser, die in diesem Land existierte, verblüfft. Er nutzte das Wasser im Krug und die Schüssel, um sich zumindest notdürftig zu reinigen. Um ein Badehaus würde er allerdings nicht herumkommen, vielleicht könnte er später einen von Hadamars Verwandten fragen, ob sie ihm eines zeigten. Er zog sich die sauberste seiner Kleidung an, die er finden konnte und fügte als weiteren Punkt auf seiner Liste hinzu, seine dreckige Kleidung in dem Fluss da drüben zu waschen. Auf die Idee, sie hier jemandem zu geben, der sie für ihn wusch, kam er schlicht und ergreifend nicht – so fremd war ihm der Gedanke, dass andere eine Arbeit für ihn erledigten.


    So weit vorzeigbar, entschloss er sich, das Haus und die Umgebung zu erkunden. Er öffnete die Tür … und stolperte fast über Farold, der offensichtlich schon länger da draußen herumgelungert hatte und nun zusammenzuckte, als Tariq plötzlich vor ihm stand. Tariq grinste. „... und da habe ich mich grade gefragt, wer mir vielleicht das Haus zeigen könnte. Guten Morgen Farold!“

  • Farold hatte ihn informiert, dass es mitnichten morgens war, sondern bereits auf den Mittag zuging und erklärte ihm ganz in Manier des freundlichen Gastgebers, dass man hier nicht so lange schlief. Tariq verkniff sich die Bemerkung, dass auch er zum ersten Mal in seinem Leben überhaupt so lange geschlafen hatte, sondern ließ den Jungen vorlaufen und ihm das Haus zeigen. Er kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Gestern Abend hatte seine Müdigkeit verhindert, dass er viele Details wahrnahm, nun aber, auch durch das Tageslicht besser sichtbar, offenbarte sich ihm die ganze Pracht dieses Domizils. Es war anders als die Pracht, die er aus seiner Heimat kannte und die er dort meist nur aus der Ferne gesehen hatte. Weniger Gold, weniger Glanz, weniger Schnörkel, aber trotzdem wunderschön. Insbesondere gefiel ihm das viele verarbeitete Holz, das er aus Kappadokien eben nicht kannte. Nicht verwunderlich, es schien Tariq so, als ob alle Bäume der Welt sich hier in Germanien versammelt hatten – da blieben für Kappadokien wohl keine mehr übrig! Ein ums andere Mal blieb er stehen, um mit dem Finger über das Holz zu streichen, das sich sehr weich und warm anfühlte, ein Kontrast zu Stein und Marmor, den es hier auch gab.


    In der großen Halle blieb er stehen und betrachtete ein seltsames Bild, auf dem Wörter durch teils verschnörkelte Linien miteinander verbunden waren. „Was ist das?“ fragte er Farold, während er versuchte, die Wörter zu lesen. Leise wiederholte er die einzelnen Silben, bis er begriff, dass es Namen waren. Namen der duccischen Familie. „Das ist der Familienstammbaum“, erklärte Farold, als sei dies das Offensichtlichste der Welt. „Gibt's da, wo du herkommst, sowas nicht?“ So war es eigentlich die ganze Führung hindurch gegangen – auf jede Frage, die Tariq stellte, kam eine neugierige Gegenfrage, wie es denn in Tariqs Heimat war und ob es dort so etwas auch gab. Tariq hob die Schultern. „Vielleicht haben die reichen Familien so etwas. Gesehen habe ich noch keinen.“ Ein Gefühl von Traurigkeit ergriff ihn, ähnlich wie er es an Hadamars Samhain verspürt hatte. Er wusste ja noch nicht mal, wie seine eigenen Eltern hießen, ob er möglicherweise Geschwister, Vettern, Nichten oder Neffen hatte. So ein Stammbaum, auf dem die ganze Familie zu sehen war, davon konnte er nur träumen.


    Farold schien zu spüren, dass sich die Stimmung verändert hatte, ohne genau zu wissen, was los war. „Jetzt haben wir doch genug angeguckt, oder? Vielleicht können wir verstecken spielen. Draußen. Es scheint die Sonne.“ Tariq fand den Gedanken, raus in die wenn auch verschleierte Sonne zu gehen, ziemlich reizvoll. Andererseits bekam er langsam Hunger. Er hatte heute noch nichts gegessen …

    „Ich kenn ein paar ziemlich gute Verstecke! Da versteck ich mich auch oft vor meiner Mutter.“

    „Aber ich kenne mich hier ja noch gar nicht aus. Wenn du mir nicht alles zeigst, weiß ich ja gar nicht, wo ich anfangen müsste zu suchen. Pass auf, ich mach dir einen Vorschlag. Ich gehe erst mal in die Küche und esse ein bisschen was, ich hab nämlich Hunger. Und dann gehen wir zusammen raus.“


    Farold wirkte nur mäßig begeistert, offenbar hatte er die Erfahrung gesammelt, dass Erwachsene, wenn sie denn mal anfingen zu essen, so schnell damit nicht aufhörten. Dennoch trottete er ergeben in Richtung Küche. Auf dem Weg trafen sie auf Farolds Mutter. „Salve Octavena“, grüßte Tariq. „Dein Sohn war so nett, mir ein bisschen das Haus zu zeigen. Jetzt wollten wir etwas zu essen organisieren.“ „Ich nicht, ich bin satt!“ erklärte Farold und warf seiner Mutter einen hoffnungsvollen Blick zu, dass sie sich darum kümmern möge.

  • Während Tariq ausschlief, war Octavena am selben Morgen wieder einmal früh auf den Beinen gewesen. Eigentlich wäre das nicht zwingend nötig gewesen, denn jetzt, wo der Winter mehr und mehr über die Villa hereinbrach, verlief auch das Leben im Haus in ruhigeren Bahnen als noch im Sommer, aber Octavena fühlte sich in letzter Zeit selbst mehr und mehr rastlos und damit war von der Ruhe, die diese Jahreszeit sonst bringen konnte, bei ihr wenig zu spüren. Und Winter hin oder her: In einem großen Haus wie der Villa gab es auch mit zwei Hausherrinnen immer genug zu tun. Und wenn nicht, dann waren da immer noch Ildrun und Farold, die ihrerseits ihrer Mutter genug Gründe lieferten, wenig stillzustehen. In Farolds Fall war das heute die Ermahnung gewesen, den schlafenden Tariq nicht zu wecken, und in Ildruns Fall hatte es eine Diskussion darüber gegeben, dass zwar draußen die Sonne schien, sie das aber nicht davon befreite, einen Mantel anzuziehen. Octavena war sich fast sicher, dass ihre Tochter nur dagegen war, weil Octavena es gewesen war, die sie dazu aufgefordert hatte, den Mantel anzuziehen, aber am Ende waren die beiden eben doch wieder aneinander geraten, ehe Ildrun schlecht gelaunt von dannen gezogen war. Eigentlich hatte Octavena angenommen, dass die Sache damit erledigt sein und Ildrun sich schon fügen würde, aber dann hatte sie den Mantel ihrer Tochter doch wieder achtlos auf dem Boden gefunden und damit war klar gewesen, dass die Diskussion von vorhin in Kürze in die zweite Runde gehen würde.


    Mit dem Mantel in der Hand war Octavena also gerade auf dem Weg nach draußen, um ihre Tochter zu suchen, als sie auf Tariq und Farold traf. "Salve, ihr beiden", grüßte sie und musste ein amüsiertes Grinsen unterdrücken, als Farold auf Tariqs Erklärung hin erst einmal verkündete, schon satt zu sein. Im Grunde grenzte es schon an ein kleines Wunder, dass er bei dem guten Wetter nicht längst nach draußen verschwunden war, um wahlweise mit seiner Schwester oder einem der Kinder der Hausangestellten über das Gelände zu toben. "Soso", sagte sie und legte kurz den Kopf schief. Vielleicht tat sich hier ja doch eine gute Gelegenheit auf, die Sache mit dem Mantel ihrer Tochter nicht einfach unter den Tisch fallen zu lassen, sich aber trotzdem nicht schon wieder mit Ildrun über irgendeine alltägliche Banalität zu streiten. "Na, wenn du schon satt bist, kannst du mir ja einen Gefallen tun." Sie hob die Hand, in der sie besagten Mantel hielt, und hielt das Kleidungsstück ihrem Sohn entgegen. "Bringst du Ildrun ihren Mantel nach draußen? Und sag ihr, ich will keine Widerrede hören. Es scheint vielleicht gerade die Sonne, aber ich will trotzdem nicht, dass einer von euch beiden krank wird."

    Farold legte seinen Kopf schief und sah skeptisch zu seiner Mutter auf. "Sie schmollt wieder, oder?", fragte er rundheraus und Octavena schnalzte tadelnd mit der Zunge.

    "Farold. Sei nett zu deiner Schwester. Verstanden?"

    Farold grinste breit, als er offenbar begriff, dass das kein Widerspruch zu seiner Vermutung gewesen war, und im nächsten Moment schnappte er sich den Mantel. "Ich such sie." Er winkte Tariq zu und ehe Octavena es sich versah, war er auch schon dabei, seinen Worten Taten folgen zu lassen und davon zu laufen.

    "Und du sollst dir auch etwas Warmes anziehen, wenn du raus gehst!"

    "Ja-haaa", schallte es zurück, während Farold schon um die nächste Ecke bog. "Weiß ich!"

    Kopfschüttelnd sah Octavena ihrem Sohn zuerst nach, wie er verschwand, ehe sie sich dann wieder Tariq zuwandte. "So viel dazu", sagte sie mit einem kleinen Lächeln. "Dann würde ich sagen, ich helfe dir stattdessen mal dabei, etwas zu essen zu bekommen." Sie nickte in die entgegen gesetzte Richtung zu der, in die gerade Farold davon gelaufen war. "Komm mit, ich zeige dir die Küche."

    Damit wandte sie sich schon direkt um und setzte sich in Bewegung, wobei sie sich mit einem Blick über die Schulter vergewisserte, ob Tariq ihr auch folgte. "Hast du gut geschlafen?", fragte sie ihn, während sie ihn durchs Haus in Richtung Küche führte. "Ich hoffe Farold hat dich nicht geweckt. Ich habe ihm vorhin schon das Versprechen abnehmen müssen, dass er dich in Ruhe ausschlafen lässt."

  • Tariq verfolgte das Gespräch zwischen Farold und seiner Mutter, ohne genau zu verstehen, warum Farolds Schwester, die er bisher noch nicht zu Gesicht bekommen hatte, ihren Mantel nicht angezogen hatte. Es klang so, als sei dies eine wiederkehrende Diskussion. Tariq verstand zwar nicht, wieso hier irgendjemand mehr frieren wollen würde als nötig, aber vielleicht war Farolds Schwester ja hart im Nehmen. Er fragte aber lieber nicht nach, sondern winkte Farold hinterher, der nun mit dem Mantel von dannen zog. Dann folgte er Octavena in Richtung Küche, dankbar für die Aussicht, in Kürze etwas zu essen zu bekommen.


    „Danke, das ist nett von dir.“ Eigentlich konnte er immer essen, und das nicht nur, weil es Zeiten gegeben hatte, in denen er hatte hungern müssen. Bei Octavenas nächsten Worten musste er grinsen. „Sehr gut. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so lange geschlafen, ehrlich gesagt. Ihr hättet mich aber ruhig früher wecken können.“ Laut Farold schlief man ja hier nicht so lang, und eigentlich wollte er da nicht unangenehm auffallen. Er war sich sicher, dass es immer noch ein sanfteres Erwachen gewesen wäre, als auf der Reise hierher, wo ihn das eine oder andere Mal ein wohl platzierter Fuß aus dem Reich der Träume befördert hatte.


    „Oh Farold hat mich nicht geweckt. Ich bin davon aufgewacht, dass es so unglaublich ruhig war. Klingt vielleicht seltsam, aber in den letzten Tagen war um mich herum immer was los … und da, wo ich früher gewohnt habe, auch.“ Irgendwie hatte er den Eindruck, dass die Menschen hier allgemein ruhiger waren und weniger herumschrien. In Caesarea und Satala war allein die alltägliche Geräuschkulisse eine andere. Gut, er hatte damals auch nicht in so einem riesigen Haus mit noch riesigerem Gelände gewohnt. Vielleicht war es in den Palästen der Reichen auch ruhiger. Und in der Stadt Mogontiacum selbst wiederum lauter. „Er hat ganz brav vor der Tür gewartet, auch wenn das bestimmt nicht leicht war für ihn.“ Wieder grinste Tariq. „Und er hat mir einen Teil vom Haus gezeigt. Es ist ein wirklich schönes Haus, gestern hab ich das gar nicht so wahrgenommen.“

  • "Ach, du bist unser Gast und du hast gestern wirklich sehr müde gewirkt", gab Octavena entspannt zurück und zuckte mit den Achseln. Sie war sich am Tag zuvor nicht einmal sicher gewesen, wie viel er vor Müdigkeit noch mitbekommen hatte, als sie ihm das Gästezimmer gezeigt hatte. Schon allein deshalb hatte sie auch Farold am nächsten Morgen prophylaktisch abgefangen, damit er Tariq schlafen ließ. "Was nach so einer langen Reise auch kein Wunder ist. Und ihr müsst ja recht unvermittelt aufgebrochen sein, wenn Hadamar nicht einmal mehr eine Nachricht schicken konnte, dass er wieder nach Mogontiacum versetzt worden ist."


    Tariqs Bemerkung über das Haus ließ Octavena dagegen kurz innehalten. "Ja, das ist es wirklich." Lächelnd ließ sie ihren Blick über ihre Umgebung gleiten. Manchmal, irgendwo zwischen Alltagstrott und den großen und kleinen Sorgen darüber hinaus, vergaß sie selbst ein bisschen, wie schön sie es eigentlich hier hatten. Wie so vieles in ihrem Leben war auch das nichts gewesen, was Octavena für sich vorhergesehen hätte, aber über die Jahre war eben dieses Haus schlicht auch ihr Zuhause geworden. "Mein Mann hat die Villa hier draußen vor Jahren bauen lassen, nachdem das alte Haus der Familie in der Stadt abgebrannt ist", erklärte sie und wandte sich wieder zu Tariq um. "Das Anwesen hier ist im Vergleich abgelegener, aber inzwischen mag ich die Ruhe, die man hier draußen hat, auch sehr." Sie grinste ein wenig, während sie weiterging. "Na ja, so ruhig es hier jedenfalls wird, mit Kindern im Haus."


    Sie erreichten die Küche und Octavena grüßte wie immer kurz Marga, die sich aber, ebenfalls wie immer, weder von Octavenas Anwesenheit noch von dem Gast, den sie im Schlepptau hatte, groß aus dem Konzept bringen ließ, sondern mit Ilda beschäftigt war, die offensichtlich irgendetwas falsch gemacht hatte. Octavena nahm das beiläufig zur Kenntnis, entschied sich aber dagegen, sich einzumischen, einerseits weil es so gut wie immer unklug war, Marga in so einer Situation unnötig in die Quere zu kommen, und andererseits weil sie vermutlich ohnehin recht hatte. Und wenn es doch um irgendetwas Gravierendes oder etwas ging, das Octavena auch zu beschäftigen hatte, dann würde Marga sie das ohnehin noch früh genug wissen lassen. Also ließ Octavena sich stattdessen einfach am Tisch nieder, wo noch die Reste vom Frühstück bereitstanden. "Bedien dich", sagte sie zu Tariq und ließ ihm dann einen Moment Zeit, um sich ebenfalls zu setzen. Erst dann wurde ihr damit auch bewusst, dass sie noch gar nicht wusste, wie lange Farold Tariq durch die Villa geführt hatte, ohne dabei ausgerechnet an der Küche vorbeizukommen. "Wie viel vom Haus hat dir Farold eigentlich schon gezeigt?", fragte sie deshalb und nutzte die Gelegenheit, um den Bogen zurück zu ihrem Thema von gerade eben und dem Rest der Familie zu schlagen. "Wenn du Lust hast, solltest du dir übrigens bei dem guten Wetter später dann mal von einem der anderen ein bisschen was vom Gelände zeigen lassen, gerade draußen im Garten ist es bei gutem Wetter sehr schön. Meine Kinder machen das sicher, wenn du sie fragst, und sonst bekommst du bestimmt jemand vom Rest der Familie eingespannt."

  • Tariq war erleichtert, dass Octavena ihm die Tatsache, dass er so lange geschlafen hatte, nicht krumm zu nehmen schien. „Ja, das sind wir“, erwiderte er zum Thema Aufbruch. „Kurz, nachdem Hadamar mich gefragt hat, ob ich mitkommen will, sind wir eigentlich auch schon los.“ Obwohl er damals in der konkreten Situation überfordert gewesen war, war er froh, dass alles so schnell hatte gehen müssen und er überhaupt keine Zeit gehabt hatte, nachzudenken. Auch, wenn es scheinbar wenig gab, das Tariq mit seiner Heimat verband, war der Ort doch vertraut – und in gewisser Weise ein Teil von ihm. Das wurde ihm erst jetzt richtig bewusst, seitdem er nicht mehr dort war. Hätte er Zeit gehabt, nachzudenken, wären ihm vielleicht Zweifel gekommen, ob er wirklich so einfach an einem anderen Ort leben konnte. So aber hatte die Vorfreude auf das Abenteuer und die Reise ins Unbekannte überwogen.


    Auf dem Weg zur Küche erzählte Octavena ein bisschen was zum Haus. „Es gab ein Haus in der Stadt, das abgebrannt ist?“ Das klang nach einer spannenden Geschichte, wobei es in der konkreten Situation für alle Beteiligten vermutlich eher katastrophal gewesen war. Ein Teil von Tariq fragte sich, wie bei dem ganzen Wasser, das hier vom Himmel fiel, überhaupt irgendetwas abbrennen konnte, aber den Kommentar verkniff er sich. Immerhin schien ja heute die Sonne, und im Sommer war es laut Hadamar auch wärmer. Er grinste kurz, als sie die Kinder erwähnte. „Na ja, solange nur die Kinder die Ruhe stören, ist es ja gut. Habt ihr keine Angst vor Überfällen? Oder passiert das hier nicht, wegen dem vielen Militär in der Stadt?“ Laut Hadamar war die Stadt um die Kastelle herum errichtet worden – und es waren die Legio, die Ala und die Classis hier. Eigentlich müsste man verrückt sein, wenn man einen Überfall plante. Andererseits könnte man mit einem kleinen Trupp, der vorsichtig vorging, in einem abgelegenen Anwesen schon einsteigen.


    In der Küche traf Tariq wieder auf Ilda, die ihnen gestern geöffnet hatte. Diese bekam gerade von einer alten Frau – vermutlich die Köchin – eine Standpauke verpasst. Tariq hatte ein wenig Mitleid, mischte sich aber nicht ein. Erstens machte das seiner persönlichen Erfahrung nach nur alles schlimmer für die betroffene Person und zweitens schien Octavena an der Szene nichts Bemerkenswertes zu finden, denn sie mischte sich ihrerseits nicht ein. Was sie wohl tun würde, wenn es tatsächliche Schikane wäre … so zumindest schätzte er sie ein. Er setzte sich und langte beim Essen ordentlich zu. „Ein bisschen was hier unten hat er mir gezeigt“, meinte er kauend, ohne sich bewusst zu sein, dass mit vollem Mund sprechen nicht die feine Art war. Aber eine gute Kinderstube hatte er nun mal nicht genossen und hier in der Küche fühlte er sich irgendwie wohler als in den repräsentativen Räumlichkeiten. Da konnte er sogar für einen Moment vergessen, dass Octavena eigentlich eine feine Dame war. „Den Raum mit dem Stammbaum zum Beispiel.“ Er schluckte herunter. „Er hat gesagt, oben sind die Schlafräume.“ Die gingen ihn wohl kaum etwas an – auch, wenn er vermutete, dass Farold sie ihm sogar zeigen würde, wenn er fragte. „Ja, Farold hat schon gesagt, dass er draußen verstecken spielen will mit mir“, meinte Tariq mit leichtem Grinsen. „Da habe ich gesagt, dass er mir erst alles zeigen muss, weil ich ja sonst nicht weiß, wo ich anfangen muss zu suchen. Das Gelände draußen scheint ziemlich groß zu sein. Ich habe aus meinem Fenster einen Fluss gesehen. Gehört der auch dazu? Ich hatte schon überlegt, dort meine Sachen zu waschen.“ Natürlich konnte er dies auch drinnen tun, aber wenn der Fluss schon da war ... Auf die Idee, es jemanden für ihn erledigen zu lassen, kam er gar nicht.

  • "Ja, aber das ist inzwischen schon eine ganze Weile her", gab Octavena zurück, die merkte, wie Tariq bei der Erwähnung des alten Hauses hellhörig wurde. "Ich weiß noch, wie wir von dem Geruch von Rauch geweckt wurden und dann nur so schnell es ging alle nach draußen gelaufen sind." Genau genommen stimmte das nicht ganz. Octavena jedenfalls war eigentlich von einem schrillen Schrei geweckt worden, der Geruch von Rauch war ihr erst später in die Nase gestiegen, aber damit hätte sie den Schrecken dieser Nacht in ihrer Zusammenfassung unnötig überdeutlich heraufbeschworen. "Zum Glück wurde niemand verletzt." Wenigstens äußerlich. Gerade für die Familie war diese Nacht natürlich trotzdem schrecklich gewesen und selbst Octavena, die im Verhältnis kaum Bezug zu diesem Haus gehabt hatte, weil sie und Witjon damals noch nicht lange verheiratet gewesen waren, hatte diese Nacht nicht kaltgelassen. Für die anderen, für die dieses Haus tatsächlich ein richtiges Zuhause gewesen war, war das Feuer natürlich deutlich schlimmer gewesen. Das hatte Octavena selbst noch bei ihrem Mann gespürt. In ihrer Erinnerung hatte Witjon zwar einerseits mehr oder weniger sofort angefangen, die Löscharbeiten und die Unterbringung der jetzt obdachlosen Familienmitglieder zu koordinieren, aber später, als er irgendwann im Haus ihres Onkels dann zu ihr ins Bett gekommen war, hatte er sie trotzdem so eng an sich gezogen wie selten. "Das Haus war aber trotzdem Schutt und Asche und statt es wieder aufzubauen sind wir direkt hier raus gezogen."


    Die Frage nach den Überfällen dagegen überraschte Octavena ein wenig. "Nein." Sie schüttelte den Kopf. "Es machen natürlich in der Stadt immer mal wieder Neuigkeiten von Überfällen in der Provinz die Runde, Soldaten reden schließlich genauso wie alle anderen, aber wir sind hier immer sicher gewesen. Dafür sind wir wohl wirklich noch immer zu nah an Mogontiacum dran." Tatsächlich hatte Octavena das auch immer für selbstverständlich genommen. Mogontiacum war sicher und das Umland ganz genauso. Natürlich, Gerüchte gab es immer und mal war da mehr dran und mal weniger, aber sie konnte sich nicht erinnern, sich deshalb je wirklich Sorgen gemacht zu haben. Ihr war das immer endlos weit weg vorgekommen. Oder wenigstens weit genug weg, als dass sie nie intensiver darüber nachgedacht hatte.


    "Ah, ja, der Stammbaum ist beeindruckend, wenn man ihn das erste Mal sieht." Octavena schmunzelte ein wenig, teils weil Farold ausgerechnet diesen Teil des Hauses Tariq gezeigt hatte, teils weil es sie ein wenig amüsierte, wie Tariq das Essen vor sich in sich hinein schaufelte. Sie mochte ihn bisher, hatte sich aber auch noch nicht vollständig einen Reim auf ihn oder darauf gemacht, wie er bei Hadamars überraschender Rückkehr ins Bild passte. Tariq war merklich darum bemüht, höflich zu sein - das war Octavena am Tag zuvor schon aufgefallen, als er sich beeilt hatte, zu betonen, dass sie nicht alt aussah - aber er schien ihr dabei auch etwas unsicher, so als versuchte er sich an Regeln zu erinnern, die ihm eigentlich nicht lagen. Und die Art, wie er sich das Essen hineinschaufelte, bestätigte nur weiter ihre Vermutung, dass Hadamar Tariq aus Verhältnissen aufgelesen haben musste, in denen wahrscheinlich regelmäßige Mahlzeiten nicht selbstverständlich gewesen waren. Das hätte auch erklärt, warum Tariq Hadamar bis nach Germanien gefolgt war. Genauso wie es Octavena darin bestätigte, diese Vermutungen weiterhin geflissentlich für sich zu behalten und nicht weiter nachzubohren, nur weil sie neugierig war. Danach würde sie eher ihren Schwager bei Gelegenheit fragen, ehe sie Tariq, der sich so offensichtlich Mühe gab, von Hadamars Familie gemocht zu werden, mit einer zu direkten Frage verschreckte.


    Deshalb beließ sie es auch bei diesem Gedanken und amüsierte sich stattdessen darüber, dass Farold scheinbar direkt versucht hatte, Tariq zum Spielen nach draußen zu locken. "Ist es", erwiderte sie bestätigend, als Tariq das weitläufige Gelände ums Haus erwähnte, und lachte schon im nächsten Moment leise auf. "Mit Farold da verstecken zu spielen, kannst du aber nur verlieren. Der kennt jedes Versteck in- und auswendig und ich habe selber oft genug meine Probleme, ihn oder seine Schwester zu finden, wenn sich einer der beiden irgendwo draußen verkrochen hat. Da versucht er, auszunutzen, dass er weiß, dass er sich hier besser auskennt als du." Die Bemerkung über den Fluss dagegen bestätigte Octavenas vage Vermutung von eben, dass Tariq es gewöhnt war, sich mehr oder weniger allein um sich selbst zu kümmern. Sie lächelte freundlich. "Und ja, der Fluss gehört auch zum Gelände, aber du kannst deine Sachen auch einfach Ilda geben." Octavena warf einen beiläufigen Blick über ihre Schulter, aber Ilda hatte sich nach der Standpauke schon wieder verzogen. "Oder du lässt sie einfach in deinem Zimmer liegen und ich gebe Ilda Bescheid, dass sie deine Sachen mitnehmen soll, wenn sie sich ohnehin um die Wäsche kümmert." Sie wandte sich wieder Tariq zu. Ein wenig hatte sie ja das Gefühl, ihm die Gastfreundschaft anbieten zu müssen, die wahrscheinlich die meisten anderen Gäste, die sie sonst so hätten haben können, für selbstverständlich genommen hätten. Nicht dass sie das gestört hätte - sie gab gerne die Gastgeberin und kümmerte sich als solche auch gerne um ihre Gäste - eher rührte es Octavena etwas, weil sie das umgekehrt selbst nicht erwartet hätte. "Allgemein kannst du gerne einfach fragen, wenn du etwas brauchst." Sie hielt ihren Tonfall locker, um sicherzugehen, dass sie ihm auch mit ihrem nächsten Satz nicht das Gefühl gab, beleidigt zu sein, sondern ihre Worte, wenn überhaupt, ein wenig selbstironisch meinte. "Wie gesagt, du bist unser Gast und ich würde hier einen schlechten Haushalt führen, wenn wir uns nicht gut um unsere Gäste kümmern würden."

  • Tariq hörte gespannt zu, als Octavena von dem abgebrannten Haus berichtete. Wie immer, wenn jemand erzählte, spann sein Kopf die Geschichte weiter und reicherte sie mit Details an, sodass er die Ereignisse jener fernen Nacht vor seinem geistigen Auge zu sehen meinte. Und wie meist standen dabei weniger der Schrecken und der Verlust im Vordergrund, sondern eher der Nervenkitzel und der Aktionismus. „Ja, zum Glück ist nichts passiert“, pflichtete er Octavena dennoch bei, als diese sagte, dass niemand zu Schaden gekommen war. Das Feuer war kein gnädiger Feind und die Verletzungen, die es zufügte, meist schrecklich. „In meiner Heimat wird erzählt, dass in den Elementen, wie dem Feuer, Geister wohnen, die besänftigt werden müssen.“ Vielleicht hatte die Familie das nicht getan. Andererseits wussten die Germanen und auch die Römer vielleicht nichts von den Djinni seiner Heimat. Tariq beschloss, vorsichtshalber ein paar Opfergaben in den Kamin zu werfen, damit zumindest diesem schönen Haus nichts passierte. Vielleicht hatten die Djinni hier keine Macht, aber sicher war sicher! „Das neue Haus ist sehr schön geworden. Es ist das schönste Haus, in dem ich jemals war.“ Wenn man bedachte, dass die Liste der von Tariq besuchten schönen Häuser nicht eben lang war, mochte es wie ein leeres Kompliment wirken, aber er meinte es tatsächlich von Herzen – und sagte es auch so.


    „Das ist gut zu wissen“, kommentierte Tariq Octavenas Bemerkung, dass das Haus aufgrund seiner Nähe zu Mogontiacum sicher sei. „In Caesarea wird hin und wieder bei den Reichen eingebrochen.“ Er sagte nicht, dass er auch schon mal bei so einem Ereignis dabei gewesen war. Dieses hatte seine Nerven arg strapaziert, er konnte von Glück sprechen, dass er damals entkommen war. Einer der Jungen, die dabei gewesen waren, war gefasst worden – Tariq hatte ihn nie wiedergesehen. „Habt ihr Hunde?“


    Tariq grinste, als es um Farold und seine Verstecke ging. Er erzählte Octavena nicht, dass der Junge offenherzig davon berichtet hatte, dass er diese auch nutzte, wenn er sich vor seiner Mutter verstecken wollte. „Ja, das kann ich mir vorstellen. Deshalb habe ich auch gleich abgelehnt ... irgendwann ist es ja auch langweilig für ihn, wenn ich ihn nie finde.“ Mal ganz abgesehen davon, dass Tariq sich schnell von neuen Dingen ablenken lassen, und darüber seine Suche womöglich vernachlässigen oder ganz vergessen würde.


    Tariq spürte, dass er langsam satt wurde. Das hielt ihn allerdings nicht davon ab, weiter zu essen – immerhin stand noch genug auf dem Tisch! Als Octavena erwähnte, dass er seine Wäsche Ilda geben konnte, hielt er mit dem Kauen inne. Der Gedanke, dass jemand anderes seine Wäsche waschen sollte, war ihm … nun ja, völlig fremd. Selbst bei Soufian hatte er das immer erledigen müssen. Also, die komplette Wäsche – seine und die von Soufian. Das jemand so etwas umgekehrt für IHN erledigen sollte, war absolutes Neuland. Er starrte Octavena also völlig überrascht an, als diese ihm erklärte, dass er einfach fragen müsse, wenn er etwas brauche und sie eine schlechte Gastgeberin sei, wenn sie sich nicht um ihn kümmere. Er bemerkte wohl, dass sie ihn damit nicht zurechtweisen, sondern ihm eher das Gefühl geben wollte, dass es in Ordnung war, wenn er fragte. Dennoch wusste Tariq im ersten Moment nicht, was er antworten sollte. Er versuchte sich vorzustellen, wie er Ilda seine Wäsche überreichte und sie aufforderte, diese zu waschen. Es war ein merkwürdiger Gedanke. Unwillkürlich blickte er sich in der Küche um, aber Ilda war nicht mehr da. Nur die Köchin saß auf einem Stuhl in der Ecke, direkt neben dem Ofen, und schien zu schlafen. Nun, sie war auch schon uralt!


    Tariq kaute und schluckte. „Also … na ja … wenn das in Ordnung ist, dann mache das.“ Er lächelte verlegen. „Und ihr seid bestimmt keine schlechten Gastgeber. Ich bin es einfach gewohnt, sowas selbst zu machen.“ Zum ersten Mal wurde ihm klar, dass es auch für Hadamars Familie komisch sein musste, dass er hier war. Dass hier zwei unterschiedliche Welten aufeinandertrafen – und derjenige, der die Brücke zwischen beiden hätte schlagen können, nämlich Hadamar, nicht da war.

  • Octavena registrierte die Neugier, die sich weiter auf Tariqs Zügen hielt, während sie von dem Brand der alten Casa erzählte, sagte dazu aber nichts. Eigentlich lieferte das Feuer wirklich keine schöne Geschichte, aber sie verstand durchaus, warum sie trotzdem eine gewisse Faszination auf jemanden ausüben konnte, der nicht mit dabei gewesen war. Sie hatte in der Vergangenheit ihrerseits schon Farold ausgebremst, der im falschen Moment zu neugierige Fragen über diese Nacht gestellt hatte ohne zu merken, dass er das tat. "Feuergeister kennen wir hier nicht", sagte sie also stattdessen und legte ein wenig den Kopf schief. "Wie besänftigt man solche Geister in deiner Heimat?" Bei seinen nächsten Worten und dem Kompliment über das dagegen lächelte sie dann ehrlich. So wie er sich benahm, bezweifelte Octavena, dass er tatsächlich groß Vergleichswerte dafür hatte, aber seine Worte klangen aufrichtig und sie war sowohl uneitel als auch sonst gefestigt genug, um sich nicht groß am möglichen Inhalt des Kompliments im Gegensatz zur Intention aufzuhängen. "Vielen Dank", erwiderte sie und lächelte dabei warm. "Mir gefällt es hier auch sehr gut."


    Die Frage danach, ob oder wie weit das Leben in der Villa sicher war, überraschte Octavena ehrlich, genauso wie Tariqs Erklärung, woher der Gedanke kam. Seit sie Kinder hatte - und besonders seit dem Tod ihres Mannes - machte sich zwar selbst oft eher zu viel Sorgen als zu wenig, aber Sicherheit war nie etwas gewesen, worüber sie sich Gedanken gemacht hatte. Nicht in Mogontiacum und in Tarraco erst recht nicht. Die Bemerkung machte aber noch einmal deutlich, wie weit Tariqs bisheriges Leben von dem Moment hier und jetzt weg sein musste. Mogontiacum war eine römische Stadt, aber Octavena erinnerte sich selbst noch gut daran, wie fremd ihr Vieles in Germanien zu Beginn vorgekommen war. Und sie war damals zunächst einmal nur zu ihrem Onkel gezogen, was zwar neu, aber immerhin kein vollkommener Kulturschock gewesen war. "Oh, ja, wir haben Wachhunde." Octavena nickte langsam. "Zwei. Mein Mann hat die beiden vor Jahren angeschafft und abrichten lassen." Und jetzt hatte Ildrun - ganz zum Missfallen ihrer Mutter - aus unerfindlichen Gründen einen Narren an den beiden gefressen. Der Gedanke ließ einen kurzen Impuls der Sorge in Octavena aufsteigen, den sie allerdings eilig bei Seite schob. Das tat jetzt nichts zur Sache. "Vielleicht hast du die beiden gestern schon im Vorbeigehen gesehen. Die sollten eigentlich normalerweise vorne am Eingang unterwegs sein."


    Der Gedanke von vorhin, dass Tariq sich hier gerade vermutlich auf mehreren Ebenen auf unbekanntem Terrain bewegte, bestätigte sich kurz darauf noch einmal. Er sah sie mit einem so entgeisterten Blick an, als sie ihm sagte, dass er hier seine Wäsche auch mit der der anderen waschen lassen konnte, dass Octavena beinahe ein wenig amüsiert geschmunzelt hätte, sich den Ausdruck aber noch gerade so verkniff, um ihn nicht weiter zu verunsichern. Es war wirklich ... ungewohnt und vielleicht auch ein klein wenig unterhaltsam, einen Gast zu haben, dem es so vollkommen fremd zu sein schien, dass andere etwas für ihn taten. Octavena auf der anderen Seite kannte das kaum anders. Für sie war ihre Hochzeit mit Witjon durchaus ein Aufstieg gewesen - schließlich war er lange einer der einflussreichsten Männer der Stadt gewesen - aber auch davor hatte sie immer in einem Haushalt gelebt, in dem andere das meiste für sie taten. Und auch jetzt kümmerte Octavena sich zwar gerne persönlich darum, dass auch wirklich alles im Haus erledigt wurde und gut erledigt wurde, aber es gab einen Unterschied dazwischen, alle Aufgaben zu koordinieren, im Vergleich dazu, sie selbst zu erledigen.


    Trotzdem beschloss Octavena weiter, Tariqs Verlegenheit einfach zu übergehen. "Das habe ich mir schon gedacht", erwiderte sie gelassen. "Aber keine Sorge, wir haben hier ein großes Haus, da fällt so viel an, dass ein bisschen mehr oder weniger Arbeit kaum ins Gewicht fällt." Octavenas Blick glitt zurück zum Essen zwischen ihnen. Kurz überlegte sie, ihn zu fragen, ob er genug hatte, schon allein weil sie früher oder später wohl besser doch noch einmal draußen nach ihren Kindern schauen sollte, entschied sich aber dagegen. Sie wollte Tariq nicht hetzen und Ildrun und Farold würden noch etwas warten können. Zumal es sowieso sein konnte, dass die beiden längst irgendeinem der anderen Erwachsenen in die Arme gelaufen waren und damit die Diskussion mit dem Mantel ohne Octavenas Zutun längst durch war. "Hast du schon Pläne für den Rest des Tages?"

  • Tariq nickte mit der ganzen Weisheit seiner sechzehn Jahre. „Mmh, das dachte ich mir. Möglicherweise haben sie hier keine Macht, immerhin ist dieses Land sehr nass. Da würde ich mich als Djinn des Feuers auch nicht wohl fühlen.“ Möglicherweise gab es hier auch gar keine Djinni, immerhin hatten selbst manche Römer in Cappadocia, die nicht von dort stammten, nie von ihnen gehört. Vielleicht gab es hier andere Geister? Es wäre vermutlich besser, sich zu informieren, ansonsten könnte man ungewollt irgendeinen Unmut auf sich ziehen, ohne sich dessen bewusst zu sein. „Was für Geister gibt es hier denn? Oder gibt es hier gar keine?“ fragte er deshalb Octavena. Auch, wenn sie ursprünglich nicht von hier stammte, lebte sie doch schon lange in Germania. „Wie man sie besänftigt? Man reicht ihnen Opfer dar, so wie den römischen Göttern. Ich habe ihnen meist etwas zu essen gegeben, weil Essen immer wertvoll für mich war. Und ein alter Mann, der viel von ihnen wusste, sagte mir einmal, ein Opfer dürfe nicht belanglos sein.“ Mit einem Grinsen schob er hinterher: „Aber vielleicht sind die Feuergeister auch einfach verfressen. Ich könnte es mir gut vorstellen, denn Flammen verzehren ja alles und hören erst damit auf, wenn sie nichts mehr finden. Aber vielleicht gibt es sie hier auch gar nicht … und hier muss man irgendwem anderes opfern.“ Dennoch entschied er, heute Abend, wenn alle Feuer entzündet waren, ein wenig Brot hineinzuwerfen.


    „Das ist gut“, nickte er, als Octavena die Wachhunde erwähnte. Wachhunde waren für Diebe ein einziges Ärgernis – zumindest, wenn sie darauf tatsächlich abgerichtet waren. Tariq hatte auch von Hunden gehört, die sich mit Nahrung besänftigen ließen, ähnlich wie die Djinni. Aber das waren dann wohl keine richtigen Wachhunde. „Ich erinnere mich nicht, ich war gestern wohl zu müde, um darauf zu achten. Aber ich würde sie mir gern anschauen.“ Er wusste selbst nicht genau, warum er danach fragte. Eigentlich mochte er Hunde nicht sonderlich. Auf der Straße waren sie nur Konkurrenz um Nahrung und in den Häusern der Reichen wie gesagt ein Ärgernis, aber er hatte das Bedürfnis, sich in irgendeiner Form nützlich zu machen. Und sich davon zu überzeugen, dass dem Haus kein Unheil drohte, war etwas, das er tun konnte.


    Irgendwann ereilte ihn ein äußerst ungewohntes Gefühl: Er war satt. Eigentlich schon seit einer geraumen Weile, aber er hatte trotzdem weiter gegessen, denn das Essen war schließlich da. Jetzt schob er den Teller weg – auch wenn ein wenig Wehmut in seinem Blick lag. Mehr ging wirklich nicht rein, das konnte man drehen und wenden wie man wollte. „Dann … würde ich sie im Zimmer lassen“, sagte er zum Thema Wäsche. Diese Ilda in die Hand zu drücken und ihr zu sagen, sie solle sie waschen, brachte er trotz des Wissens, dass es ihr nichts ausmachte, nicht über sich. Noch nicht. „Ich würde mich gerne irgendwo waschen oder ein Bad nehmen. Die Reise war ziemlich lang ...“ Der Fluss war dazu wohl auch der falsche Ort, zumal das Wasser bei der Jahreszeit ziemlich kalt sein musste.

  • Octavena schmunzelte amüsiert. "Nass" wäre nicht das erste Wort gewesen, womit sie Germanien beschrieben hätte, aber es traf das Land hier trotzdem recht gut. Sie hätte vermutlich zuerst an die Kälte gedacht, gerade um diese Jahreszeit, aber egal ob kalt oder nass, Feuergeister passten tatsächlich nicht hierher. "Die Römer kennen zumindest Flussgeister", erwiderte sie. "Aber die müssen eher selten besänftigt werden, jedenfalls wohl nicht so wie eure Djinni. Nach germanischen Geistern solltest du aber eher Hadamar oder seine Geschwister fragen. Da bin ich die falsche, um dir großartig etwas erzählen zu können." Das stimmte tatsächlich nur bis zu einem gewissen Grad. Octavena lebte inzwischen lang genug in einer germanischen Familie, zu der ja nicht zuletzt auch ihre eigenen Kinder gehörten, um ein paar Dinge zumindest aufgeschnappt zu haben, aber abgesehen davon, dass die anderen sich tatsächlich besser damit auskannten, würde Tariq die Frage vielleicht nutzen können, um mit dem Rest der Familie genauso ein wenig ins Gespräch zu kommen. Dem neugierigen, aber etwas unsicheren Eindruck nach, den er bisher auf Octavena machte, konnte das vielleicht nicht schaden.


    Als Tariq dagegen erwähnte, gerne die Wachhunde sehen zu wollen, hob Octavena kurz überrascht die Brauen. Sie hatte angenommen, dass er nur aus Höflichkeit nach den beiden gefragt hatte, auch wenn natürlich nichts dagegen sprach, wenn er sich die Tiere ansehen wollte. "Du kannst gerne mal beim Tor vorbeisehen, eigentlich sollten sie wie gesagt meistens da sein. Sonst ist wahrscheinlich meine Tochter mit ihnen hier irgendwo auf dem Gelände unterwegs", erklärte sie. "Magst du Hunde? Oder warum interessierst du dich für die beiden?"


    Octavena registrierte kurz darauf das leichte Bedauern, mit dem Tariq den Teller mit dem Essen vor sich schließlich zur Seite schob, und beschloss, dieses Detail im Hinterkopf zu behalten. Es passte zu seiner allgemeinen Zurückhaltung und dazu, wie er vorher schon das Essen in sich hinein geschaufelt hatte. Er war es wohl wirklich gewohnt, dass er sich primär selbst um sich kümmern musste. "In Ordnung, dann gebe ich Ilda Bescheid wegen der Wäsche." Octavena nickte und sprach damit auch weiterhin die Gedanken, die sie sich so machte, nicht aus, um Tariq nicht am Ende noch mehr in Verlegenheit zu bringen. "Und ein Bad können wir dir auch nachher noch einlassen. Nach der Reise war das ja sowieso nur zu erwarten." Sie nickte in Richtung des Tellers. "Brauchst du sonst noch etwas? Sonst kann ich dir den Weg zurück zeigen und fange dann mal Ilda ab." Ein schiefes Grinsen erschien auf ihren Zügen. "Und ich sollte wohl mal für alle Fälle draußen nach Farold sehen. Nachdem er heute schon den ganzen Morgen die Füße still gehalten hat, hat er jetzt sicher nur Flausen im Kopf."

  • „Flussgeister?“ fragte Tariq interessiert. „Na, das passt schon eher bei dem vielen Wasser.“ Wobei Octavena hier von den Römern gesprochen hatte und nicht von den Germanen. Aber in Rom gab es auch einen Fluss, hatte er gehört. Als Octavena meinte, zu den germanischen Geistern solle er Hadamars Familie befragen, nickte Tariq: „Werde ich machen.“ Solche Geschichten interessierten ihn. Einmal, weil Geschichten allgemein ihn interessierten. Aber in dem Fall eher, weil Geschichten von Göttern und Geistern eines Landes einen Einblick in dessen Seele gaben. Und ihm war dieses Land nach wie vor sehr fremd.


    Bei den Hunden wirkte Octavena überrascht ob seiner Nachfrage. „Danke, ich werde sie nachher mal suchen gehen.“ Dann zögerte er kurz. „Mögen? Nein, eigentlich mag ich Hunde nicht sonderlich, aber ich wollte mal schauen, ob sie gute Wachhunde sind. Ob das Haus gut geschützt ist ...“ Er zögerte. Möglicherweise wollte die Familie das gar nicht. Wahrscheinlich hatte sie einen Wachhund-Experten, so wie sie eine Person hatte, die Wäsche wusch, und eine, die Essen kochte, und jemanden, der sich um die Pferde kümmerte. Da lag die Vermutung nahe, dass es auch jemanden gab, der die Wachhunde abrichtete und sich um sie kümmerte. Und der würde wohl auch wissen, ob die Hunde ihre Aufgabe gut zu erledigen wussten. „Aber wahrscheinlich braucht ihr mich gar nicht dafür. Ihr habt bestimmt jemanden, der sich gut um sie kümmert.“ Er wollte schon wieder verlegen werden, aber ein Detail an Octavenas Worten erregte seine Aufmerksamkeit. „Wieso läuft deine Tochter mit ihnen herum? Kümmert sie sich um die Hunde?“ Das würde ihn dann doch ziemlich überraschen.


    „Nein, sonst brauche ich nichts.“ Sie hatte bestimmt noch anderes zu tun. „Danke, dass du dir die Zeit genommen hast! Ich werde die Hunde anschauen gehen, auch wenn's wahrscheinlich unnötig ist, und dann an den Fluss. Oder andersrum.“ Der Fluss faszinierte ihn, den musste er sich mal aus der Nähe betrachten. Vielleicht machten sich die Flussgeister bemerkbar. „Und dann komme ich für das Bad zurück.“ Farold hatte ihm den Ort gezeigt, an den er dafür musste, den würde er schon allein wiederfinden.

  • Octavena musste sich erneut ein wenig zusammennehmen, um sich nicht zu deutlich anmerken zu lassen, wie … ja, fast schon rührend sie insgeheim manche von Tariqs Fragen fand. Nicht, dass an seinem Gedankengang etwas falsch oder sie deswegen beleidigt gewesen wäre, aber für Octavena lag es auf der Hand, dass ein Anwesen wie die Villa gut geschützt war. Vermutlich spielten die Hunde dabei nicht einmal die größte Rolle, sonst hätte Leif sich vermutlich längst auf ihre Seite geschlagen, statt ihr zu versichern, dass nichts dabei war, wenn Ildrun an den Hunden hing und ständig mit den beiden durch die Gegend lief. Und auch sonst war die Villa sicher, das war so ein Haus immer. Dafür steckte hinter dem Bau der Villa und der Familie, die sie bewohnte, auch eindeutig genug Geld und Ansehen.

    "Oh, nein." Octavena schüttelte auf die Frage nach Ildrun und ob sie sich um die Hunde kümmerte knapp den Kopf. "Das wäre dann wohl eher Leif, der hat die beiden schon vor Jahren für meinen Mann abgerichtet", erwiderte sie und lächelte weiter, wenn auch ein klein wenig gezwungen. "Ildrun mag nur Tiere und hat eine Schwäche für die Hunde. Sie soll die beiden eigentlich am Tor oder bei den Ställen lassen, wo sie hingehören, aber sie hört da nicht immer auf mich." Oder nie. Und weil es im Moment einfacher war, sich ihre Streitereien mit Ildrun ganz bewusst auszusuchen statt sich mehr oder weniger ohne Unterbrechung mit ihr anzugiften, ließ Octavena sie in dieser Sache im Speziellen einfach in Ruhe. Auch wenn das vermutlich nicht ewig so würde weitergehen können. Aber das waren alles keine Dinge, mit denen Tariq sich beschäftigen musste, also behielt Octavena das für sich.


    "Gerne", sagte sie stattdessen, nachdem sie die letzten organisatorischen Dinge für den Tag geklärt hatten und Tariq sich bei ihr für ihre Zeit bedankte. "Wenn dir später noch etwas einfällt, kannst du sonst auch die anderen oder die Hausangestellten fragen." Sie erhob sich von ihrem Platz am Tisch und sah kurz zu Marga hinüber, die aber in der Ecke döste, woraufhin Octavena beschloss, sie einfach in Ruhe zu lassen. Dass die Reste vom Frühstück noch weggeräumt werden mussten, musste sie der alten Köchin nicht noch einmal extra sagen und sie zu wecken hätte sie vermutlich eher geärgert als die Teller kommentarlos stehenzulassen. Und auch wenn Octavena als Hausherrin genau genommen nichts von Marga zu befürchten hatte, hatte sie schnell begriffen, dass es für alle im Haus besser war, wenn sie sich gut verstanden, und diese Strategie auch nie bereut. Sie nickte in Richtung Tür, um Tariq wie versprochen den Weg zurück durchs Haus zu zeigen und ihm noch, wenn nötig, ein paar Fragen zu beantworten, wo was war, ehe sie sich auf die Suche nach Ilda machte. Und dann würde erstmal Farold dran sein. Der hatte vorhin so verdächtig unbeeindruckt geklungen, als sie ihn daran erinnert hatte, sich etwas Warmes anzuziehen, da würde Octavena sicher noch einmal nachhaken müssen, bevor sie sich um ihre eigentlichen Aufgaben für heute kümmerte.

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