Ildruns Zimmer

  • Ildrun konnte sich nicht mehr an eine Zeit erinnern, als ihre Familie nicht in der Villa Duccia gelebt hatte. Das war auch kein Wunder, schließlich war sie zwar, anders als ihr Bruder, noch nicht hier geboren worden, aber auch noch ein Baby gewesen, als ihre Eltern damals ihr neues Schlafzimmer in der Villa bezogen hatten. In diesem Schlafzimmer hatte Ildrun auch sehr lange geschlafen, schließlich war es von Anfang an so gedacht gewesen, dass dort nicht nur der Hausherr und seine Frau, sondern auch ihre Kinder unterkamen. Irgendwann zwischen dem Tod ihres Vaters und den andauernden Spannungen zwischen ihr und ihrer Mutter war Ildrun dann aber doch in ein eigenes Zimmer umgezogen und inzwischen war sie heilfroh darum. So hatte sie zumindest irgendeinen Rückzugsort vor ihrer kontrollsüchtigen Mutter. Die hatte auch zur Abwechslung wenigstens ein Mal nicht protestiert, sondern sofort nachgegeben. Und so hatte Ildrun eben inzwischen ihr eigenes, getrenntes Schlafzimmer. Der Raum war natürlich deutlich kleiner als das große Schlafzimmer ihrer Eltern - oder jetzt viel mehr nur noch ihrer Mutter - aber wie bei allen Schlafzimmern der Villa war auch dieser Raum mit allem ausgestattet, was seine Bewohnerin so brauchen konnte: Neben dem Bett gab es hier auch eine Kleidertruhe, eine weitere für Spielzeug, auch wenn Ildrun aus dem Alter inzwischen mehr und mehr raus war, und einen Schminktisch, den sie zwar bisher vollkommen ignorierte, den ihre Mutter aber trotzdem hatte aufstellen lassen. Und, natürlich, konnte man auch hier wieder besonders an der Wandbemalung ganz genau sehen, dass die Familie, der dieses Haus gehörte, germanische Wurzeln hatte - ein weiterer Grund, warum Ildrun das Zimmer mochte und sich hier wohlfühlte. Alles an dem Zimmer fühlte sich vertraut an, nach ihr. Etwas, das nur ihr gehörte. Ihr Reich.

  • Ildrun lag in ihrem Zimmer auf dem Bett und starrte die Decke an. Buchstäblich. Der Winter brach mehr und mehr über Germanien und die Villa Duccia herein und damit wurde das Leben in der Villa auch wieder ... langsamer. Ruhiger. Sie hockte mehr mit ihrer Familie aufeinander als noch im Sommer, weil die nun alle auf die eine oder andere Weise sich ins Haus zurückzogen und Ildrun ihrerseits auch selbst nicht mehr so viel Zeit draußen auf dem Gelände um das Haus herum oder bei den Ställen verbringen konnte. Aber immerhin ihre eigenen vier Wände hatte sie noch. Ihren eigenen Rückzugsort. Immerhin etwas. So konnte sie wenigstens auch ihrer Mutter und ihren ewigen Regeln aus dem Weg gehen, während die seit neustem versuchte, sich zwischen dem Haushalt und der Verwaltung des Erbes von Ildruns Vater zweizuteilen, und so im Moment besonders nervig war.


    "Schmollst du wieder?" Eine vertraute Stimme riss Ildrun aus ihren Gedanken und sie wandte noch gerade rechtzeitig den Kopf, um zu sehen, wie ihr Bruder an der Tür den Kopf in den Raum streckte und herein lugte. Sie warf ihm bei der Frage einen scharfen Blick zu, doch Farold ließ sich davon - wie meistens - absolut nicht beeindrucken, sondern öffnete die Tür einfach vollends, um in den Raum zu treten.

    "Hast du mal von Klopfen gehört?", murrte Ildrun und starrte wieder an die Decke über sich.

    "Ich soll dich runter holen. Mama will für Besorgungen in die Stadt und will, dass du mitkommst."

    "Keine Lust."

    "Mama sagt, dass du trotzdem kommen sollst." Er lief durch den Raum und ehe Ildrun es sich versah, zog Farold an ihrem Arm, um sie dazu zu bewegen, vom Bett aufzustehen.

    "Farold!" Ildrun setzte sich ruckartig auf und entzog ihm ihren Arm. "Warum sind deine Hände schon wieder klebrig?"

    Ihr Bruder grinste von einem Ohr zum anderen. "Ich hab gebastelt!", verkündete er fröhlich. "Willst du's sehen? Wenn du mitkommst, zeig ich's dir."

    Ildrun schüttelte den Kopf. "Ganz sicher nicht. Ich bleib hier."

    "Und was soll ich dann Mama sagen?"

    Ildrun seufzte genervt. "Genau das."

    Doch ihr Bruder blieb unbeeindruckt und zerrte erneut an ihrem Arm. Verdammt, warum musste er nur so stur sein? Manchmal fragte sie sich doch, ob nicht Farold heimlich der größte Sturkopf der Familie war, obwohl selbst Ildrun wusste, dass normalerweise sie und ihre Mutter sich ein sehr enges Rennen um diesen Titel lieferten. "Mama will, dass du mit in die Stadt gehst, um Onkel Varus zu begleiten. Also lass die Schmollerei bevor sie selber zu dir kommt und ihr euch streitet."

    Ildrun stöhnte und setzte sich wieder auf. Wenn Farold in dieser Laune war, dann war mit ihm nicht zu diskutieren. Und in einem hatte er recht: Die Sache war es nicht wert, sich deshalb mit ihrer Mutter zu streiten. Dann würde sie wohl heute in die Stadt gehen. Da konnte ihr immerhin nicht die Decke auf den Kopf fallen.

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