Grab des Lucius Iunius Varus

  • Die Parentalia hatte ich zuletzt als Kind gefeiert, bevor ich nach Alexandria geschickt wurde. Damals hatte ich das Fest als recht fröhlich in Erinnerung, wobei mir der Sinn und Zweck nicht ganz klar war. Dafür hatte mir damals der Gedanke gefallen, an diesen Tagen den Ahnen nahe zu sein. Natürlich verschwendete ich als Kind keinen Gedanken daran, dass auch mein eigener Vater einmal zu den verstorbenen Ahnen gehören würde. Wie doch die Zeit verging!


    Nun war ich also am Grab meines Vaters, welches ich tatsächlich zum ersten Mal seit meiner Rückkehr nach Rom besuchte. Vater würde es verstehen, denn auch er hatte die Arbeit stets an erste Stelle gestellt. Wie ähnlich wir uns doch manchmal waren! Und zugleich oft sehr verschieden. Ich schmückte das Grab festlich und beschloss, meinem Vater ein wenig zu berichten, wie es mir erging.


    "Salve, Vater. Ich hoffe, dass es dir in den elysischen Feldern gut geht. Und ich hoffe, dass du den Weg hierhin gefunden hast. Mutter hat dir ein schönes Grabmal errichten lassen. Dafür habe ich deinen Lieblingswein mitgebracht."


    Ich präsentierte dem Grabmal kurz den Krug, den ich mit mir führte.


    "Das ist natürlich nicht ganz vergleichbar, aber wir wissen beide die Kleinigkeiten zu schätzen. Das hast du mir immer beigebracht."


    Der Gedanke daran, wie mein Vater mir als Kind mit großer Geduld seine Lebensphilosophie vermittelt hatte, zauberte ein Lächeln auf mein Gesicht.


    "Ach ja, dass ich wieder in Rom bin, brauche ich dir wohl nicht mehr zu sagen. Dafür habe ich einen recht guten Einstieg als Jurist gemacht. Ich habe zwei Kommentare verfasst, von denen einer sogar in die Bibliotheca Ulpia aufgenommen wurde. Und ich habe die meisten meiner Prozesse gewonnen. Erst kürzlich habe ich von meinem Freund Quintus Betucius Firmus die Vertretung von dessen Bruder samt Ehefrau übernommen und das Verfahren damit gerettet."


    Ich lachte kurz.


    "Gerettet ist natürlich Ansichtssache. Für die Gegenseite war es eher das Wegnehmen eines sicher geglaubten Sieges. Ich denke, dass wir darauf ruhig trinken können."


    Ich gab einen guten Schluck Wein in die dafür vorgesehene Öffnung des Grabmals, damit der Wein auch meinen Vater erreichen konnte. Dann nahm ich auch einen Schluck. Der Weingeschmack meines Vaters war nicht meiner, aber was tat man nicht alles für seine Eltern?


    "Es sieht so aus, als hätte ich dein Gespür für die Rechtsauslegung geerbt. Das wird dich sicher freuen, zumal es ja lange so aussah, als würde ein Philosoph aus mir. Allerdings bin ich das auch immer noch. Mein Zugang zu den Gesetzen ist eher philosophisch, aber das Ergebnis kann sich sehen lassen. Im Übrigen... nun... wie sage ich dir das am besten? Das ist nicht der einzige Unterschied zwischen uns. Ich habe mir einen Patron gesucht."


    Entschuldigend hob ich die Hand, die nicht durch den Krug belegt war.


    "Ja, ich weiß, ein guter Advocatus ist maximal unabhängig. Doch sei dir gewiss, dass ich meinen Patron sorgsam ausgewählt habe. Er mischt sich nicht in meine Arbeit als Advocatus ein. Auch meine rechtswissenschaftlichen Arbeiten kann ich frei anfertigen. Dafür haben sich die Diskussionen mit meinem Patron als sehr nützlich erwiesen. So eine zweite Meinung, gerade wenn sie anders ist, verbessert diese Arbeiten durchaus. Du solltest den Namen meines Patrons übrigens kennen. Der Senator Lucius Annaeus Florus Minor. Er wurde für diese Amtszeit zum Praetor Urbanus gewählt. Seien wir realistisch, ein Praetor als Patron ist für einen Juristen sicher nicht ganz falsch. Wer weiß, vielleicht erreiche ich so den Ordo Equester, der dir verwehrt blieb. Auch wenn es dir nicht viel bedeutete, mir bedeutet es etwas. Man kann so viel mehr zum Positiven verändern, wenn man ein Ritter ist. Ich begnüge mich eben nicht mit der Vertretung von Mandanten, auch wenn es lukrativ ist. Ich bin weiterhin Philosoph, wie ich bereits erwähnte."


    Erneut teilte ich den wein mit meinem Vater.


    "Nun, ich denke, dass du dennoch stolz auf mich bist. Oder vielleicht gerade deshalb? Immerhin hattest du mir beigebracht, stets meinen eigenen Weg zu gehen. Tja, nun, ich habe leider immer noch jede Menge Arbeit. Aber das kennst du ja, haben wir es doch gemeinsam. Ich werde dir noch den restlichen Wein lassen. Und ich verspreche, dich zu besuchen, so wie ich eben Zeit finde. Vale bene, bis demnächst."


    Ich stellte den Weinkrug vor das Grabmal und ging. Dabei hatte ich das gute Gefühl, meinen Vater zumindest ein wenig glücklich gemacht zu haben. Obwohl ich natürlich hoffte, dass er im Elysium ohnehin glücklich war.

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