Im Folgenden lege ich die Auslegung der Gesetze in der Form dar, wie sie sich nach (meinem) aktuellem Wissensstand im 2. Jh. n. Chr. dargestellt hat. Diese Auslegung ist nicht mit den modernen Auslegungsregeln zu verwechseln!
Liber de Interpretatione Legum
Auli Iunii Taciti
Praefatio
Die Gesetze sind zweifelsfrei die bedeutendste Grundlage unserer Rechtsordnung. Wobei ich hiermit nicht ausschließlich die als solche bezeichneten beschlossenen Texte meine, sondern auch die Edikte der Imperatores Caesares Augusti und Praetores und den Mos Maiorum. Mit Ausnahme des Mos Maiorum handelt es sich hierbei stets um schriftlich niedergelegte Regelungen. Um genau diese soll es in diesem Handbuch gehen, da deren Interpretation oft die eigentliche Schwierigkeit der juristischen Arbeit darstellt. Der Mos Maiorum hingegen setzt die Rahmenbedingungen, um bei der Auslegung der Gesetze zu helfen und Lücken zu schließen.
In der Hoffnung, etwas Nützliches verfasst zu haben, wünsche ich meinen Lesern eine erfolgreiche Lektüre.
Interpretatio ad verbum
Ganz grundsätzlich hat die Auslegung der Gesetze nach deren Wortlaut zu erfolgen. Das lässt sich daraus herleiten, dass stets große Mühe auf eine klare und deutliche Formulierung der Gesetze gelegt wird, um so präzise wie irgend möglich das Gewollte auszudrücken. Spielräume sollen möglichst vermieden werden. Man kann also davon ausgehen, dass ein Gesetz stets das ausdrückt, was der Gesetzgeber gemeint hat.
Unglücklicherweise wandelt sich aber die Sprache mit der Zeit. Ein extremes Beispiel stellt das Carmen Saliare dar, dessen Text kein gewöhnlicher Römer mehr versteht, obwohl es doch in lateinischer Sprache verfasst wurde. Doch auch bei weniger altem Latein liegen bereits Änderungen der Sprache vor. So ist die Lex XII Tabularum nur deshalb noch weitestgehend verständlich, weil die Bedeutung der ursprünglichen Worte durch ständige Übung übertragen wurde.
Aus dieser Wandlung der Sprache kann es vorkommen, dass der Wortlaut nach Jahrhunderten anders verstanden wird, als es ursprünglich beabsichtigt wurde. Fraglich ist, wie in diesem Fall vorzugehen ist.
Man könnte nun davon ausgehen, dass die ursprüngliche Bedeutung beizubehalten ist. Dafür spricht, dass es ja auch genau dem entspricht, was der Gesetzgeber ursprünglich formuliert hat. Eine Anpassung der Auslegung an die sich ändernde Sprache würde ja einen vom Gesetzgeber bei der Formulierung des Gesetzes ungewollten Wandel bedeutet.
Dagegen spricht, dass Gesetze das soziale Zusammenleben regeln sollen. Geht man davon aus, dass der Wandel der Sprache mit einem Wandel der Lebensrealität zusammenhängt, dann wäre eine solche Anpassung der Bedeutung des Gesetzeswortlauts im Sinne der sich ändernden Gesellschaft. Doch muss dabei auch beachtet werden, dass hierbei keine widersinnigen Ergebnisse entstehen.
Wie lässt sich also diese Problematik lösen? Eine Möglichkeit wäre es, die ursprüngliche Bedeutung zu konservieren und die genaue Bedeutung der Worte zum Zeitpunkt der Formulierung des Gesetzes zu ermitteln. Zweifelsfrei wäre das die optimale Lösung. Doch was ist, wenn sich dieses nicht bewerkstelligen lässt? Wie legt man dann das Gesetz aus? Hier sollte man neben der aktuellen Bedeutung der Worte auch den Mos Maiorum beachten. Diese Berücksichtigung sollte in aller Regel zu einem vertretbaren Ergebnis führen. Doch sollte auch beachtet werden, dass sich auch der Mos Maiorum mit der Zeit ändern kann.
Deshalb plädiere ich dafür, auch die Meinung des Kollegen Publius Iuventius Celsus zu berücksichtigen und im Zweifelsfall eine Interpretation nach dem Zweck des Gesetzes vorzunehmen. Dieses wird im Kapitel „Interpretatio ad potestatem“ genauer erläutert.
Ein weiteres Problem besteht dann, wenn sich herausstellt, dass es eine Lücke im Gesetz gibt. Hier ist zunächst zu prüfen, ob es woanders im gleichen Gesetz oder in anderen Gesetzen einen geregelten Sachverhalt gibt, der diese Lücke füllt. Existiert eine solche Regelung, so ist sie selbstverständlich anzuwenden und auszulegen.
Wie geht man aber vor, wenn es keine entsprechende Regelung gibt? Zunächst sollte man sich dann die Frage stellen, ob es in diesem Fall nicht ein klares Verhalten gibt, das nach Mos Maiorum erwartet werden kann. Dann ist dieses Verhalten selbstverständlich die vorausgesetzte Norm und eine weitergehende Auslegung erübrigt sich.
Wenn die Füllung der Lücke aber auch mit dem Mos Maiorum nicht gelingt, was nur höchst selten der Fall sein sollte, gibt es prinzipiell zwei verbleibende Möglichkeiten. Entweder ist es vom Gesetzgeber beabsichtigt gewesen, den Sachverhalt ungeregelt zu belassen. Dann existiert keine Regelung und der Sachverhalt ist absichtlich so belassen, dass eine außergerichtliche Einigung gefunden werden soll. Hier soll logisch vorgegangen werden und ein Ausgleich aller beteiligten Interessen gefunden werden. Dabei sollte auch stets beachtet werden, dass dies zu keinem Ergebnis führt, das im Widerspruch zu bestehenden Gesetzen steht. Auch der Wille der Götter ist zu beachten und, sollte dieser beeinträchtigt werden können, ein Gutachten des Collegium Pontificum eingeholt werden.
Die andere Möglichkeit ist, dass es zum Zeitpunkt des Beschlusses des Gesetzes entweder schlicht vergessen wurde, diese Lücke zu schließen, oder dass es durch den Wandel der Gesellschaft im Laufe der Zeit erst zu dieser Lücke kam. So würde es beispielsweise niemanden überraschen, wenn ein Gesetz aus der Zeit, als Rom lediglich über Latium herrschte, keine Regelung zum Umgang mit transalpinen Gebieten gab. Es war schlichtweg nicht notwendig, diesen Sachverhalt zu regeln. Solche Lücken sind ungeplant und bedürfen einer Regelung. Hier sollte zunächst nach einer Interpretation gesucht werden, die sich in bestehende Gesetze einfügt. Falls dieses nicht gelingt, kann ein Gutachten bei den amtierenden Praetores oder dem Imperator Caesar Augustus angefragt werden. Das verschiebt aber lediglich die Auslegung auf die genannten Personen, wenngleich sie in diesem Fall eine für die Zukunft bindende Wirkung entfalten können.
Grundsätzlich kann eine unbeabsichtigte Lücke durch eine Analogie geschlossen werden. Hierzu sucht man in den Gesetzen, inklusive Mos Maiorum, nach einem hinreichend ähnlichen geregelten Sachverhalt. Die für diesen Sachverhalt gefundene Regel wird dann auf den ungeregelten Sachverhalt übertragen. Ideal ist hierbei ein Sachverhalt der gleichen hierarchischen Ebene. So könnte beispielsweise eine Regelung für einzelne Res mancipi, beispielsweise ein Grundstück, auf eine andere Res mancipi, wie einen Sklaven, übertragen werden. Es ist aber auch möglich, auf unterschiedlichen Hierarchiebenen zu operieren. Hier gibt es zum einen das Argumentum a maiore ad minus, mit dem man vom Größeren auf das Kleinere schließt. Im gesetzlichen Kontext ließe sich hier eine Regelung aus einem allgemeineren Gesetz auf eine Lücke in einem Spezialgesetz, das unter dem allgemeineren Gesetz steht, übertragen. Andererseits ist es auch möglich, ein Argumentum a minore ad maius vorzubringen, womit vom Kleineren auf das Größere geschlossen wird. Hier wäre beispielsweise eine Regelung aus einem Spezialgesetz auf eine Lücke im allgemeineren Gesetz übertragen werden.
Wenn ein solcher Lückenschluss nicht gelingt, sollte die Lücke nach dem Zweck des Gesetzes geschlossen werden.
Summa interpretationis ad verbum
Nach den zuvor genannten Prinzipien ist also ein Gesetz zunächst nach der originalen Bedeutung des Wortlauts auszulegen. Gelingt das nicht, so ist nach der aktuellen Bedeutung der Worte unter starker Würdigung des Mos Maiorum auszulegen. Ist auch dieses nicht möglich, so kann statt dessen der Zweck des Gesetzes zur Auslegung herangezogen werden.
Bei Lücken in den Gesetzen ist zunächst zu ermitteln, ob die Lücke beabsichtigt ist. In diesem Fall ist ein logischer Interessenausgleich zu finden, der sich widerspruchsfrei in die bestehenden Gesetze und die Pax Deorum einfügt.
Eine unbeabsichtigte Lücke ist nach Mos Maiorum zu schließen. Gelingt das nicht, ist eine Analogie in den bestehenden Gesetzen zu suchen und auf die Lücke zu übertragen.
Wenn es auch an einer Analogie mangelt, sollte ein Lückenschluss nach dem Zweck des Gesetzes erfolgen.
Interpretatio ad potestatem
Der Kollege Publius Iuventius Celsus vertritt die Meinung, dass Gesetze nicht primär nach dem Wortlaut, sondern nach ihrem Sinn und Zweck (ihre potestas) auszulegen sind (Digesten 1.3.17: Scire leges non hoc est verba earum tenere, sed vim ac potestatem.)
Der Vorteil dieser Interpretation wird an einem einfachen Beispiel offenbar. Im Codex Iuridicialis ist in § 103.1 geregelt, dass das Waffentragen innerhalb des Pomerium ausschließlich den römischen Stadteinheiten vorbehalten ist. Das heißt, dass Bürger, die nicht in einer Stadteinheit dienen, unter die Strafvorschrift dieses Paragraphen fallen. Nehmen wir nun an, dass die Stadt Rom von feindlichen Truppen erobert wurde. Die Götter mögen verhindern, dass dies jemals geschieht, jedoch sei darauf hingewiesen, dass es hierfür in der Vergangenheit Beispiele gibt. In diesem Fall gibt es keine römischen Stadteinheiten mehr innerhalb des Pomeriums. Nun erheben sich Bürger mit Waffen gegen die Feinde und vertreiben diese. Nach dem Wortlaut des Gesetzes haben sich die Bürger damit strafbar gemacht und ihre Straftat wäre entsprechend zu ahnden. Dieses Ergebnis wäre aber widersinnig, weil es doch im Interesse des Staates sein muss, dass römische Bürger ihre Heimat gegen Feinde verteidigen.
Die Lösung liegt in einer Auslegung nach dem Sinn und Zweck des Gesetzes. In Friedenszeiten ist es nämlich durchaus wünschenswert, dass ausschließlich die römischen Stadteinheiten innerhalb des Pomeriums bewaffnet sind. Einerseits sollen so Kriminalität und Aufstände verhindert und ein friedliches Zusammenleben innerhalb des Pomeriums gewährleistet werden. Andererseits sichert es auch die Pax Deorum, weil die Götter selbst verfügt haben, dass grundsätzlich keine Waffen innerhalb des Pomeriums zu tragen sind. In Kriegszeiten, wenn Feinde innerhalb des Pomeriums sind, entfällt aber wenigstens der erste Zweck, weil das friedliche Zusammenleben mit Feinden unmöglich ist und Widerstand zur obersten Pflicht wird. Dann muss es aber auch möglich sein, sich zu bewaffnen und die Feinde zu vernichten oder zu vertreiben, um den Frieden wiederherzustellen. Dann sollte es aber auch keine Bestrafung für diejenigen geben, die bewaffnet gegen die Feinde gekämpft haben.
Es erscheint also durchaus sinnvoll, Gesetze eher nach ihrem Sinn und Zweck als nach ihrem Wortlaut auszulegen. Wobei der Wortlaut natürlich den Sinn und Zweck des Gesetzes wiedergibt oder zumindest wiedergeben sollte.
Nachteilig erscheint bei einer Auslegung nach dem Sinn und Zweck aber, dass dieser nicht immer bekannt ist. Bei neueren Gesetzen findet man diesen noch häufig, insbesondere dann, wenn noch Zeugen der Schaffung des Gesetzes leben, die man fragen kann. Je älter ein Gesetz ist, desto schwieriger wird es. Die Frage ist also, inwiefern eine Ermittlung von Sinn und Zweck überhaupt möglich ist. Hier können teilweise längere Recherchen in Archiven folgen. Sollte das nicht zum Erfolg führen, so bleibt nur eine allgemeine Überprüfung der Gesetze in ihrer Gesamtheit, inklusive dem Mos Maiorum. Und selbst das muss nicht zwingend zum Erfolg führen, beispielsweise bei singulären Regelungen für einen speziellen Sachverhalt. In diesem Kontext erscheint eine Auslegung nach dem Wortlaut der einzig gangbare Weg. Auch bietet eine Interpretation nach dem Wortlaut auch den Vorteil, dass hierbei subjektive Verzerrungen minimiert werden.
Auch sei erwähnt, dass eine Auslegung nach Sinn und Zweck dazu führen kann, dass Gesetze ganz oder teilweise ihre Wirksamkeit verlieren, weil beispielsweise der Sinn und Zweck nicht mehr gegeben oder unnötig geworden ist. Es wäre aber vermessen, die Korrektur oder Abschaffung des Gesetzes dann in die Hände einzelner Juristen zu legen. Vielmehr sollte dieses allein durch den Senatus oder den Imperator Caesar Augustus erfolgen.
Daher sollte die Auslegung nach dem Wortlaut bevorzugt werden und nur bei Unklarheiten die Auslegung nach Sinn und Zweck hinzugezogen werden. Bei widersinnigen Ergebnissen einer Auslegung nach dem Wortlaut sollte die Auslegung nach Sinn und Zweck bevorzugt werden.
Summa interpretationis ad potestatem
Die Auslegung nach Sinn und Zweck bietet den Vorteil, dass sie zu einer für das Imperium Romanum sinnvollen Anwendung der Gesetze führt und widersinnige Ergebnisse vermeidet.
Andererseits ist die Ermittlung von Sinn und Zweck häufig mit Schwierigkeiten verbunden, die einer subjektiven Auslegung dienlich sind.
Daher sollte die Auslegung nach dem Wortlaut bevorzugt werden, die bei Unklarheiten durch eine Auslegung nach Sinn und Zweck unterstützt werden kann. Lediglich bei widersinnigen Ergebnissen sollte die Auslegung nach Sinn und Zweck bevorzugt werden.
Interpretatio ad totum
Gesetzliche Regelungen sind stets in der Gesamtheit der Gesetze zu betrachten. Denn eine losgelöste Betrachtung einer einzelnen Regelung führt häufig zu einer falschen Auslegung, was der Kollege Publius Iuventius Celsus trefflich formuliert hat (Digesten 1.3.24: Incivile est nisi tota lege perspecta una aliqua particula eius proposita iudicare vel respondere.)
Examplarisch sei wieder § 103.1 Codex Iuridicialis erwähnt. Betrachtet man ausschließlich den ersten Absatz, so wäre allen das Waffentragen innerhalb des Pomeriums verboten. Erst aus dem zweiten Absatz wird offenbar, dass den stadtrömischen Einheiten das Waffentragen abweichend hierzu erlaubt ist.
Doch auch über ein einzelnes Gesetz hinaus ist der gesamte Rechtsrahmen zu betrachten. So wären beispielsweise die Regelungen der Lex Mercatus nicht umfassend und ausschließlich für das Handelsrecht. Vielmehr sind unter anderem auch die Lex XII Tabularum, Lex Atilia und die Lex Laetoria zu beachten, die weitere Einschränkungen mit sich bringen, ebenfalls zu beachten.
Falls sich einzelne Gesetze ganz oder teilweise widersprechen, kann als einfache Regel gelten, dass neueres Recht stets älteres Recht verdrängt. Im Zweifelsfall gilt also die neuere Regelung.
Summa interpretationis ad totum
Grundsätzlich sind weder einzelne Regelungen losgelöst vom gesamten Gesetz zu betrachten, noch einzelne Gesetze losgelöst von der Gesamtheit der Gesetze.
Fall sich Gesetze ganz oder in einzelnen Regelungen widersprechen, so gilt im Zweifelsfall die neuere Regelung.
Summa summarum
Eine Auslegung sollte grundsätzlich nach dem Wortlaut unter Berücksichtigung der Gesamtheit der Gesetze erfolgen.
Geplante Lücken sind widerspruchsfrei unter einem allgemeinen Interessenausgleich aller Beteiligten zu schließen, während ungeplante Lücken durch Analogie zu schließen sind.
Eine Auslegung nach Sinn und Zweck sollte nur zur Aufhebung von Unklarheiten oder zur Vermeidung von widersinnigen Ergebnissen erfolgen.
Eine Vernachlässigung der Gesamtheit der Gesetze ist unzulässig. Im Zweifelsfall gehen neuere Regelungen den älteren Regelungen vor.