Geplauder in der Fühlingssonne

  • Octavena strich nachdenklich eine Falte in ihrer Tunika glatt, ehe ihre Hand dann zu ihrem Finger glitt und den Ring, den sie seit ihrer Hochzeit dort trug, hin und her drehte. Der Tag war bis hierher eigentlich schon lang gewesen und sie hatte wieder einmal das Gefühl gehabt, sich zwischen ihren Kindern, dem Leben in der Villa und den Geschäften ihres verstorbenen Mannes vierteilen zu müssen, aber eine Sache hatte sie trotzdem noch auf ihrer mentalen Liste: Mit Naha sprechen. Eigentlich auch keine große Sache, eigentlich auch nichts Besonderes und eigentlich nicht einmal etwas, das Octavena allzu viel angegangen wäre, aber in solchen Dingen konnte sie schlecht aus ihrer Haut. Sie war vielleicht nur noch die Witwe eines ehemaligen Familienoberhauptes, aber sie hatte die Angewohnheit nie abgelegt, ein Auge auf die Familienmitglieder um sich herum zu haben. Ihre Tochter hätte es wohl so beschrieben, dass Octavena es nicht lassen konnte, ihre Nase in die Angelegenheiten anderer zu stecken, Octavena selbst hätte es wohl mehr als eine Art ... nun, freundliches aufpassen beschrieben.


    Aber es stimmte, sie hatte das Gefühl, dass es nicht schaden konnte, mal wieder ein wenig mit Naha zu reden, und nach ein wenig Überlegen hatte sie beschlossen, die ganze Sache nicht zu aufdringlich anzugehen. Stattdessen hatte sie jetzt das Schöne mit dem Nützlichen verbunden und saß allein auf einer Bank draußen vor der Casa, um dort die letzten Sonnenstrahlen der Nachmittagssonne zu genießen. Dass Octavena außerdem genau wusste, dass Naha hier wahrscheinlich eher früher als später ebenfalls vorbeikommen würde, musste sie ja nicht ansprechen - und würde es auch nicht, wenn sie nicht musste. Seufzend lehnte sie mit halb geschlossenen Augen noch einmal die Kopf zurück - zum Glück war endlich dieser verdammte germanische Winter vorbei - richtete sich dann aber wieder auf, als sie Schritte hörte. "Ah, salve, Naha", grüßte sie die junge Frau. "Schön, dich zu sehen. Hattest du einen guten Tag?" Octavena lächelte und deutete auf den Platz neben sich. "Hast du Lust, dich zu mir zu setzen? Das gute Wetter will doch genutzt sein."

  • Ich blieb kurz stehen, als ich sie dort sitzen sah. Allein auf der Bank vor der Casa, in das Licht der Nachmittagssonne getaucht. Octavena hatte dieses Lächeln, das sie immer hatte, wenn sie etwas im Kopf hatte, das mehr war als bloße Höflichkeit. Ich kannte es inzwischen gut genug. Meine Finger glitten über den Stoff meiner Tunika, als wollte ich prüfen, ob noch Ton daran hing. Wahrscheinlich war da längst nichts mehr, denn ich hatte mich schließlich extra umgezogen, aber ich brauchte die Bewegung. Vielleicht, um mich zu sammeln. Ich war müde, das wurde mir in diesem Moment erst richtig klar. Die Wärme der Sonne, das Zwitschern der Vögel, das entfernte Rufen aus dem Haus. All das lullte mich ein. Und gleichzeitig hielt mich Octavenas Blick wach.


    "Salve, Octavena", grüßte ich sie, wie es sich gehörte, aber meine Stimme war weicher als sonst, fast ein wenig schmunzelnd. "Der Tag war lang. Aber ich denke, das ist er für uns alle, nicht wahr?" Ich setzte mich neben sie, als sie mir den Platz anbot. Ihre Geste war einladend, wie immer. Ich strich den Stoff glatt, eine Angewohnheit, die ich mir vermutlich von ihr abgeschaut hatte, und schwieg erst einmal.


    Ein paar Atemzüge lang genoss ich einfach nur das Licht. Es war warm, wirklich warm, endlich, nach diesem elenden Winter. Und doch konnte ich nicht verhindern, dass mir Ildrun durch den Kopf ging. Ihre Stimme noch vom Vormittag, scharf wie frisch geschliffenes Eisen. "…so eine blöde Spaßbremse..." Es war kein Geheimnis für mich, dass sie nicht gut auf ihre Mutter zu sprechen war. Nicht mehr. Vielleicht nie so richtig. Und ich fragte mich kurz, ob Octavena das heute mehr belastete als sonst.


    Ich sah sie von der Seite an, ihr Gesicht im goldenen Licht. Fast weich wirkte es. Fast. "Du wartest nicht zufällig einfach nur auf einen Sonnenuntergang, oder?" fragte ich. Meine Stimme klang ruhig, aber ich ließ durchscheinen, dass ich nicht ganz so naiv war, wie ich vielleicht manchmal wirkte. "Ich kenne dieses Lächeln."

  • Octavena nickte zustimmend auf Nahas Bemerkung über den langen hin, sagte aber nichts weiter. Die Tage waren immer lang, ganz besonders seit Witjon gestorben war, was Octavena ohnehin mehr den Boden unter den Füßen weggezogen hatte, als sie meistens zugab. Sie hatte sich seitdem wieder gefangen, aber sie hätte gelogen, wenn sie behauptet hätte, dass ihr Leben nicht einfacher gewesen wäre, als ihr Mann noch gelebt hatte.


    Allerdings saß sie auch nicht hier, um über Witjon zu sprechen oder darüber, dass sie sich trotz allem immer noch der Lücke bewusst war, die er hinterlassen hatte. Stattdessen bot sie Naha einfach lächelnd einen Platz neben sich an, denn eigentlich war das ja der Grund, warum sie sich ausgerechnet hier und nicht im Garten oder sonstwo in die Sonne gesetzt hatte. Offensichtlich war sie damit auch schonmal subtiler gewesen, denn strategisches Genießen der Sonne hin oder her, Naha witterte offenbar trotzdem sofort, dass Octavena nicht komplett zufällig hier saß. "Ich lasse wohl nach." Ihr Tonfall war entspannt, denn es war ja wirklich nicht so als ob sie vorgehabt hätte, Naha anzulügen. Sie war schließlich kein Kind mehr und Octavena hatte ihrerseits ja auch nicht erst gestern bei den Ducciern eingeheiratet und wusste, dass die meisten Familienmitglieder sich von ihr wohl nicht mehr so einfach etwas vormachen ließen. "Aber nein, nicht nur. Auch wenn ich wirklich froh bin, dass das Wetter langsam wieder besser wird." Octavena lächelte leicht und atmete dann noch einmal tief ein und aus, ehe sie sich wieder Naha zuwandte. "Ich wollte aber außerdem so oder so mal wieder mit dir reden", gab sie also einfach zu und entschied sich damit spontan dazu, das Gespräch direkt anzugehen. "Wie geht es dir? Wie läuft dein Geschäft?"

  • Ich sagte erst nichts. Meine Finger glitten noch einmal über den Stoff. Dann zog ich ein Bein an, stützte mein Kinn darauf und ließ meinen Blick über das Gras wandern, das sich leicht im Wind bewegte. "Wie es mir geht …" Ich schmeckte die Worte auf der Zunge, als müsste ich erst entscheiden, ob ich sie aussprechen wollte. "Ich glaube, ich bin gerade in so einer Phase." Ein schmaler, schräger Lächelversuch spielte um meine Lippen, einer von der Sorte, die nicht wirklich Freude bedeuteten. "Es läuft alles irgendwie. Ich bin müde, aber ich mache weiter. Der Brennofen tut, was er soll, die Leute sind zufrieden, meine Finger tun abends weh, also ist alles in Ordnung, oder?" Ich lachte leise. Nicht aus echter Heiterkeit, mehr wie ein kurzes Schulterzucken in Lautform.


    Dann sah ich zu ihr. Ihr Gesicht war ruhig, aufnahmebereit, wie so oft. "Und du?" fragte ich. "Wenn du nicht nur für die Sonne hier bist, wolltest du wirklich mit mir reden, oder brauchst du jemanden, der dir zuhört?" Ich meinte es nicht spitz. Es war mehr ein offenes Türchen, das ich ihr hinstellte. Nicht, weil ich auf etwas wartete, sondern weil ich es ihr lassen wollte, wenn sie wollte.


    Ich wandte den Blick wieder ab, zurück ins Licht. Die Sonne war inzwischen ein kleines Stück tiefer gesunken, und ihre Strahlen warfen langgezogene Schatten über die Wiese. Ich spürte, wie meine Schultern sich gesenkt hatten, ohne dass ich es bemerkt hatte. Ein Vogel hüpfte im Gras, und ich fragte mich für einen Moment, ob ich gestern vergessen hatte, die Tonreste vom Boden aufzufegen. Und ob es überhaupt wichtig war. Ich sah meine Hände an, kleine Risse an den Fingern, eine feine rote Linie am Daumen, wo der Ton scharf gewesen war.


    Witjon ging mir durch den Kopf. Einfach so. Nicht aus einem bestimmten Grund, sondern weil er zu Octavena gehörte wie der Geruch nach Feuer. Ich hatte nie viel mit ihm gesprochen. Aber ich erinnerte mich an sein Lachen, tief und weich, so selten, dass es wie ein Geschenk war. Ich wusste nicht, ob sie an ihn gedacht hatte, bevor ich kam. Vielleicht. Wahrscheinlich. Ich atmete langsam aus. Die Luft roch nach Erde und Wärme. Und ich war froh, dass sie gefragt hatte. Auch wenn ich nicht sicher war, ob ich wirklich geantwortet hatte.

  • "Das klingt nicht besonders enthusiastisch", erwiderte Octavena und hob fragend die Brauen. "Stimmt wirklich alles?" Sie hatte noch nie vorgetäuscht, zu verstehen, warum Naha es sich in den Kopf gesetzt hatte, ihre Tage wahlweise hinter einer Töpferscheibe oder auf einem Markt zu verbringen. Für eine junge Frau aus einer guten Familie wie sie wäre es vermutlich einfacher gewesen, zu heiraten und so mit etwas Glück, ein bequemes Leben zu führen. So, wie Octavena es selbst getan hatte, jedenfalls bis zum Tod ihres Mannes. Und selbst in diesem Moment war es ein etwas grausamer Streich der Götter gewesen, dass plötzlich sie diejenige gewesen war, die auch geschäftlich gesehen Verantwortung für Witjons Betriebe hatte übernehmen müssen, weil Farold zu jung und Audaod schon vor seinem Vater gestorben war. Doch Octavena hatte auch schon vor langer Zeit begriffen, dass die Frauen der Duccier anders waren als die Frauen ihrer eigenen Familie und dass Wege wie der von Naha nicht besser und nicht schlechter als ihr eigener war.


    Abgesehen davon hatte Octavena sich ja inzwischen ohnehin selbst in ihre neue Rolle eingefunden und festgestellt, dass ihr zumindest manches an der Arbeit, die Witjons Erbe ihr bereitete, ihr sogar besser gefiel als sie gedacht hätte. Nur ursprünglich waren nun einmal Gespräche wie das hier viel mehr ihr Metier. Sie hatte es immer gemocht, die großen und kleinen Probleme innerhalb der Familie im Blick zu behalten und gelegentlich das Gespräch mit Familienmitgliedern zu suchen, von denen sie dachte, dass sie ein offenes Ohr oder etwas mal mehr, mal weniger sanften Druck vertragen konnten. Dass Naha jetzt diejenige war, die offensichtlich meinte, Octavena so ein offenes Ohr anbieten zu müssen, entlockte ihr auch deshalb ein etwas schiefes Lächeln. "Mir geht es gut, keine Sorge." Ihr Tonfall war gelassen, auch wenn sie sich innerlich etwas fragte, ob sie wohl einsam wirkte, wenn Naha so ein Angebot aussprach. Dabei kam sie sich nicht einsam vor, jedenfalls nicht wirklich. Und selbst, wenn dem so gewesen wäre, wäre das nicht wichtig gewesen, solange es ihren Kindern gutging. "Ich weiß, ich habe nicht mehr so viel Zeit für solche Gespräche wie früher, aber es interessiert mich wirklich, wie es allen in diesem Haus geht. Das gilt für dich genauso wie für alle anderen und erst recht, falls jemand meine Hilfe gebrauchen könnte." Die Formulierung war bewusst vorsichtig gewählt, denn noch wollte Octavena sich nicht aufdrängen, aber sie wollte den Gedanken zumindest einmal angedeutet haben.

  • Ich nickte langsam, fast unmerklich, während ich ihr zuhörte. Ihre Stimme war ruhig, und obwohl sie sagte, dass alles gut sei, klang da etwas mit, das ich nicht ganz benennen konnte. Nicht Traurigkeit, aber vielleicht eine Art… Müdigkeit, die sich hinter vernünftigen Worten versteckt hatte. Oder ich bildete mir das nur ein, weil ich gerade selbst so empfand. "Ich weiß, dass du für viele da bist", sagte ich leise, mehr ins Licht als direkt zu ihr. "Und ich glaube dir auch, dass es dich wirklich interessiert. Es ist nur…" Ich zögerte, ließ den Satz erstmal in der Luft stehen, bis mir die richtigen Worte einfielen. "Manchmal weiß man selbst gar nicht, ob man Hilfe braucht. Oder ob man nur müde ist. Oder ob das eigentlich das Gleiche ist."


    Ich drehte den Kopf wieder zu ihr, langsam, suchte ihren Blick. "Ich finde es schön, dass du fragst. Auch wenn ich nichts Konkretes brauche. Oder es vielleicht nur nicht benennen kann." Ich lächelte ein kleines bisschen, diesmal ehrlicher als vorher, glaube ich. "Manchmal reicht das ja schon. Dass jemand da ist und fragt, ohne gleich etwas lösen zu wollen." Mein Blick glitt wieder zur Wiese. Die Sonne hatte sich weiter geneigt, warmes Licht tanzte über die Halme. "Ich weiß nicht, ob ich je so sein werde wie du", fuhr ich fort, nach einer Weile. "So… klar in allem. Ich finde das bewundernswert. Du wirkst, als wüsstest du immer, was zu tun ist, auch wenn es schwierig ist."


    Ich hob eine Hand, betrachtete sie mit einem kleinen, nachdenklichen Lächeln. "Ich bin eher wie der Ton manchmal. Ich brauche eine Form, aber ich bin nicht sicher, ob ich sie schon habe." Dann sah ich sie noch einmal an, offen, ruhig. "Aber ich glaube, ich bin trotzdem froh, dass du da bist." Und diesmal sagte ich es nicht, um etwas zurückzugeben. Ich meinte es so.


    Ich schwieg einen Moment, ließ meine Worte noch ein wenig in der Luft stehen, ehe ich wieder zu ihr sah. Da war etwas, das mich nicht ganz losließ, seit sie Ildrun erwähnt hatte, nicht direkt, aber zwischen den Zeilen, wie so oft bei ihr. Vielleicht hatte sie es nicht einmal selbst gemerkt. "Und Ildrun?" fragte ich schließlich leise. Es war keine Herausforderung, kein Misstrauen, nur ehrliches Interesse. "Wie siehst du sie in all dem? In deinem Platz… und Witjons Erbe?" Ich legte den Kopf leicht zur Seite, sah sie dabei nicht zu fest an, gab ihr Raum. "Ich frage nur, weil… ich manchmal nicht weiß, was für einen Weg sie suchen wird. Ob sie deinen folgt. Oder Witjons. Oder ob sie sich ihren ganz eigenen schaffen muss."


    Ich fuhr mit dem Daumen über eine kleine Schrunde an meinem Zeigefinger, während ich sprach. "Ich weiß, sie ist nicht mehr klein. Aber sie ist auch noch nicht fertig." Ein schmaler Anflug von Lächeln zuckte über meine Lippen. "Wie wir alle, wahrscheinlich." Dann blickte ich zurück zu ihr, ganz sanft. "Ich frag nur, weil ich manchmal an sie denke. Und mich Frage, was für eine Geschichte sie später mal erzählen wird, wenn man sie fragt, wie es war. Jetzt. In dieser Zeit."

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!