Wie erwartet erreichten wir am Abend Luòyáng. Die mächtigen Mauern und Stadttore erinnerten mich an Cháng'ān. Vielleicht war hier alles sogar noch etwas größer. Wir kamen von Norden über eine Brücke, die einen Fluss überquerte, der den Graben um die Stadt mit Wasser versorgte. Am Tor zeigte ich unsere Befehle vor. Die Wachsoldaten riefen ihren Vorgesetzten, der mit unseren Befehlen im Torhaus verschwand. Wir warteten geduldig, bis er nach einigen Minuten wieder auftauchte. "Wer ist Yúnzǐ?" fragte er höflich.
"Das bin ich," antwortete ich.
Der Offizier nickte. "Eure Eskorte und die Waren sind in der kleinen Kaserne untergebracht. Folgt der Straße. Dort, wo sie einen Knick nach links macht, folgt ihr der Straße bis zum Ende. Dort ist die Kaserne. Ihr hingegen, Yúnzǐ, wartet bitte hier."
Mir war nicht klar, warum ich hier warten sollte und der fragende, besorgte Blick von Wú Liàng machte es nicht besser. Ich signalisierte Wú Liàng, dass er mit Jì Mǐn, Arpan und den anderen zur Kaserne ziehen sollte und blieb aufgesessen vor dem Tor stehen, bis auch das letzte Kamel das Tor passiert hatte. Der Wachoffizier schien unschlüssig zu sein, was er mit mir anfangen sollte. Schließlich fällte er eine Entscheidung. "Yúnzǐ, bitte sitzt doch ab und begleitet mich auf eine Tasse Tee, um Eure Wartezeit zu verkürzen."
"Das wird nicht nötig sein," erwiderte ich, "denn ich denke doch nicht, dass man mich allzu lange warten lässt, oder?" Dabei sprach ich sanft, aber selbstbewusst. Mein Rang war mir durchaus klar, ebenso wie der - niedrigere - Rang des Wachoffiziers.
"Ich habe den Befehl befolgt, den Palast zu informieren, wenn Ihr hier ankommt. Es kann aber dauern, bis der Bote zurückkehrt. Es ist spät und die Beamten lassen sich um diese Zeit nur ungern stören."
Ich stieg vom Pferd ab. "Dann hätten sie sich ihre Befehle besser überlegen sollen. Dennoch möchte ich Euch nicht unnötig belasten."
Der Wachoffizier lächelte höflich. "Ihr belastet mich nicht. Wir haben immer Tee fertig. Bitte, es besteht kein Grund, hier draußen zu warten."
Ich verneigte mich leicht, was genauso erwidert wurde. "Danke, dann will ich Eure Einladung gerne annehmen."
So gingen wir in das Torhaus und tranken Tee, während sich der Wachoffizier von mir meine Eindrücke von Cháng'ān und dem Huáng Hé schildern ließ. Informationen aus erster Hand schienen ihm wertvoll zu sein, denn er reichte mir nun auch etwas Gebäck. Wir sprachen recht lange und schließlich hielt es der Wachoffizier für nötig, mir einige Tipps zu geben. Ich solle im Palast niemandem trauen, vor allem nicht den Eunuchen. Und über den Kaiser erzähle man sich, dass er unberechenbar sei und eine Neigung zur Grausamkeit habe. Ich nahm das alles zur Kenntnis, kommentiert es aber nicht weiter. Doch merkte ich mir die Warnungen gut.
Nach fast einer Stunde wurde gemeldet, dass ein Gesandter des Palastes eingetroffen sei. Wir gingen herunter auf den Platz vor dem Tor, wo im Schein der Laternen ein mittelgroßer Mann in schwarzer Seidentracht stand. Er war eindeutig ein Gelehrter, so wie ich. Als ich ihm näher kam, merkte ich, dass er keinen Bart trug. Das war seltsam, weil die meisten höherrangigen Männer hier Bärte trugen. Schließlich entrollte er ein Schriftstück mit gelber Seide auf der Rückseite. Sofort fielen alle auf die Knie und verneigten sich. Ich folgte dem Beispiel. Der Mann verlas den Text mit hoher Stimme. "Im Namen des Sohns des Himmels wird der Beamte fünften Ranges Yúnzǐ aus Dàqín aufgefordert, sich zu einer Audienz im Palast einzufinden, sobald er sich dazu in der Lage sieht. So noch nicht geschehen, möge er sich in Hofkleidung kleiden. Der ehrenwerte Beamte fünften Ranges Yúnzǐ aus Dàqín möge mitteilen, wann er hierzu in der Lage ist, damit ihm eine Audienz zugewiesen werde."
Nach dem Ende der Verlesung erhoben wir uns wieder. "Wer ist der ehrenwerte Yúnzǐ?" fragte der Mann weiterhin mit hoher Stimme.
"Ich bin Yúnzǐ," sagte ich mit sanfter, aber fester Stimme.
"Habt Ihr Hofkleidung?" fragte der Mann.
"Nein."
"Dann will ich Euch helfen. Ihr seid mein Gast. Mein Name ist Tán Lì. Ich bin Eunuch zweiten Ranges im kaiserlichen Palast." Er ließ sich nur einen Augenblick, bevor er weitersprach. "Lehnt jetzt bitte nicht ab, dazu ist der Tag zu weit fortgeschritten. Mein Haus ist groß und nicht weit entfernt. Kommt mit mir, ich lasse nach Eurem Gepäck schicken."
Da blieb mir wohl keine andere Wahl. "Ich danke für Eure Gastfreundschaft." Mein Pferd führte ich am Zügel, während ich neben Tán Lì die Straße entlangschritt, wobei mich ein ungutes Gefühl beschlich.