Beiträge von Nuala

    Siv hieß die blonde junge Frau, die sie eben noch so verwundert angeschaut hatte, nun aber lächelte. Siv mit dem goldglänzenden Haar, gleich ihrer Namensgeberin, der germanischen Göttin und Gattin des Thors.
    Nuala ging auf sie zu und entgegnete ihr Lächeln. Sie vermutete, in diesem Haushalt musste es bevorzugt germanische Sklaven geben. Bisher hatte sie jedenfalls nur solche getroffen. Vielleicht war dies eine Marotte des Hausherrn.
    Woher Siv wohl stammte und wie lange war sie schon hier? Ihrem Sprachklang konnte sie entnehmen, dass sie nicht immer unter Römern gelebt hatte. Germanisch musste die Sprache gewesen sein, mit der Siv aufgewachsen war. Nuala würde es erfahren und vielleicht noch mehr, alls was wissenswert war, über dieses Haus und die Menschen, die darin lebten.
    "Heilsa, Siv! Oh, ja! Großen Hunger sogar!"antwortete sie Siv in germanischer Sprache. Lange war es her, seitdem sie sich dieser Sprache das letzte Mal bemächtigt hatte. Vergessen hatte sie sie aber nichts. Zu viele schöne Erinnerungen waren damit verbunden.
    Die beiden Sklavinnen hatten längst das Atrium verlassen und waren auf dem Weg zur Küche. Eine Frage brannte Nuala auf der Zunge, die sie die Germanin unbedingt fragen wollte, bevor sie den Küchentrakt erreichten. Auf dem Flur waren sie unter sich, in der Küche allerdings war das sicher anders. Nuala wollte der Germanin keinen Anlass dazu geben, sich befangen zu fühlen, wenn sie auf ihre Frage antwortete. Nuala hatte es oft selbst erlebt, wie eigennützig manche Sklaven gegenüber ihren Standesgenossen sein konnten.
    Sie stellte sie zögerlich, denn die allerletzten Zweifel, es müsse doch irgendwo einen Haken geben, waren längst noch nicht ausgeräumt. "Siv? Wie ist es, hier zu leben, für uns?" Nuala war stehen geblieben und streifte Sivs Arm, damit auch sie nicht weiter ging.

    Hätte man Nuala gefragt, wie sie sich jetzt fühlte, sie hätte lange nach den richtigen Worten suchen müssen, die genau dieses heiter- beschwingte Gefühl der Zufriedenheit beschrieben.Ja, sie strahlte! So wie sie schon seit Jahren nicht mehr gestrahlt hatte. Sie hatte auch allen Grund dazu, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Es war in der Tat ein Glücksfall gewesen. Alle ihre Ängste und Sorgen, die sie an diesem heutigen Tag geplagt hatten, fielen von ihr ab. Es war nicht alleine nur die Begeisterung, die sie bei ihm ausgelöst hatte, nein vielmehr war es die Tatsache, dass er sie dazu aufgefordert hatte und dass dieses Metier zukünftig zu ihren Aufgaben gehören würde. Sie wusste selbst, sie hatte viel nachzuholen und musste einiges auffrischen, was in all den Jahren verloren gegangen war. Der Grund, weshalb ihre Rezitation nicht vollkommen abgerundet war, weshalb die Betonungen nicht perfekt waren, lag wohl zuletzt auch daran, weil sie diese unbändige Freude in sich hatte. Die letzten Zweifel, die sie noch beim Betreten des Atriums hatte, schwanden zusehends. Endlich durfte sie sich wieder dem widmen, was sie konnte und woran sie Spaß hatte. Niemand würde in diesem Haus Nuala deshalb strafen, weil man sie mit einer Schriftrolle erwischt hatte, weil sie las oder ein Lied auf den Lippen hatte. Wie das Verhältnis zu ihrem neuen Herrn letztlich sein würde, musste sich noch herausstellen. Für sie, aber auch für ihn, war dies eine neue Erfahrung, die ihre Zeit brauchte.
    Kurzzeitig wurde ihre Aufmerksamkeit durch das Erscheinen Trautwinis, jenes germanischen Sklaven, der sie in Empfang genommen hatte, gestört, als dieser das Atrium betrat. Nualas Blick war von ihrem Herrn abgeschweift und ruhte kurzzeitig auf dem Germanen, bis Orestes sie wieder ansprach.
    Sie war sehr erfreut, seinen Geschmack mit ihrer kleinen Kostprobe getroffen zu haben. Auch die Aussicht, schon bald ihren Hunger und Durst stillen, sich waschen und neu einkleiden zu können, erfreute Nuala sehr. In ihren staubigen Kleidern fühlte sie sich sehr unwohl. Ihr Magen knurrte auch schon sehr bedächtig. Seit heute Morgen hatte man ihr nichts mehr Essbares gegeben.
    "Vielen Dank, dominus!" Sie nickte ihm zu und wollte mit Trautwini das Atrium verlassen. Dann fiel ihr Blick jedoch auf eine blonde junge Frau, die plötzlich da stand und erst sie, dann Trautwini und schließlich auch Orestes ansah. Vorerst blieb Nuala noch und ihre fragenden Augen fielen wieder auf den Aurelier.

    Mit jedem Wort erhellte sich ihr Antlitz und sie wagte es erstmals aufzuschauen. Mehr hätte sie sich nicht wünschen können. Nuala hatte es schon immer als ein Privileg angesehen, lernen zu dürfen und sie hatte es immer gerne getan. Sie liebte es, wenn der paedagogus der jungen Herrin und ihr Geschichten vorlas und den Hintergrund dazu erklärte. Eine neue Welt hatte sich für sie aufgetan und sie schritt gerne hinein, um dort zu verweilen. In ihrer Phantasie war sie bei Odysseus Irrfahrten dabei und fieberte mit Iphigenie. Begierig hatte sie damals die Texte auswendig gelernt, um sie vor ihrem Herrn, aber auch vor ihren Freundinnen unter den Sklaven, wiederzugeben. Als dieses Leben für sie schlagartig und ohne Vorwarnung zu Ende ging, hatte sie sehr darunter gelitten.
    Doch nun, nach den harten Jahren voller Entbehrungen, wollten sich wieder bessere Tage anschicken. Die Aussicht, sich wieder den Schriften widmen zu können und lernen zu dürfen, ließ ihr Herz höher schlagen. Sie hätte die Welt umarmen können!
    Er verlangte eine Kostprobe ihres Könnens, was nur verständlich war. Nuala überlegte nicht lange. So manche Texte hatte sie noch parat. Daraus hatte sie in den kargen Jahren gezehrt und wenn es am schlimmsten war, sich damit auch getröstet.
    „Ja dominus, das will ich gerne! Vielleicht etwas von Horaz?


    Tu ne quaesieris - scire nefas -, quem mihi, quem tibi
    finem di dederint, Leuconoe, nec Babylonios
    temptaris numeros ! Ut melius, quidquid erit, pati,
    seu pluris hiemes seu tribuit Iuppiter ultimam,


    quae nunc oppositis debilitat pumicibus mare
    Tyrrhenum: sapias ! Vina liques et spatio brevi
    spem longam reseces ! Dum loquimur, fugerit invida
    aetas: carpe diem, quam minimum credula postero!*"


    Ihre Augen leuchteten, während sie diesen Text rezitierte. Man konnte erahnen, welche Freude sie dabei empfand.


    Sim-Off:

    *Frag nicht, welches Ende die Götter mir, welches sie dir, Leukonoe, zugedacht haben, und lass die Finger von babylonischer Astrologie! Wie viel besser doch, was immer sein mag, zu ertragen! Ob Jupiter noch viele Winter uns zugeteilt hat oder den letzten, der jetzt an entgegenstehenden Klippen das Tyrrhenische Meer bricht – lebe mit Verstand, kläre den Wein und beschränke ferne Hoffnung auf kurze Dauer! Noch während wir reden, ist die missgünstige Zeit schon entflohen: Pflücke dir den Tag, und glaube so wenig wie möglich an den nächsten!

    Das Herz wollte ihr zerspringen, als er sich ihr näherte und ihr dann ihre Hände befreite. Sie fühlte auch sich etwas befreiter. Ihre Augen folgten dem achtlos fortgeworfenen Strick, der seine Spuren hinterlassen, leichte, gerötete Aufschürfungen. Sachte umfasste sie ihre Handgelenke. Sie wollte ein Wort des Dankes an ihn richten, doch da hatte er bereits wieder das Wort ergriffen.
    Diese Worte klangen so kalt und hart. Sie schüchterten sie ein, weil sie sie so sehr an das erinnerte, was sie schon einmal erlebt hatte. Es waren nicht die besten Erinnerungen. Du gehörst nun zum Haushalt einer der angesehensten Familien dieser Stadt. Arbeite gut und hart und du wirst satt werden! Wenn nicht, dann… Sie hatte immer versucht, alles zu geben. Das war aber allzu oft zu wenig gewesen.
    Er stockte und sie wagte, kurz aufzusehen. Die Worte, die nun folgten, wirkten zuvorkommender, fast freundlich, auch wenn sie genau das Gleiche beschrieben, was sie an dieser Stelle schon mehrmals hören musste.
    Sie nickte nur. Ihre Gesichtszüge hatten sich gelockert und sie sah ihn wieder an.
    Was konnte sie? Wenn es nach ihrem letzten Herrn gegangen wäre, nichts! Er war immer nur unzufrieden mit ihr gewesen und oftmals bekam sie dies auch zu spüren.
    Nuala sammelte ihre Gedanken.
    "Ich kann lesen und schreiben, dominus. Ich wuchs mit der Tochter meines ersten Herrn auf und genoss die gleiche Bildung, wie sie. So lernte ich die Literatur kennen und auch die Musik. Ich kann die Kithara spielen und auch singen." Je mehr sie zu erzählen begann, desto leidenschaftlicher wurden ihre Worte. Die Musik und die Literatur waren ihre Welt. Hier hatte sie sich immer wohl gefühlt. Später hatte sie dieser Welt nachgetrauert. Diese Fähigkeiten waren dann nicht mehr gefragt. Putzen, waschen, kochen war dann in den Vordergrund gerückt. Um den Boden zu schrubben, musste man nicht Homer rezitieren können. Dass sie in all den Jahren zu einer jungen Frau heran gereift war, war auch ihren Herren nicht verborgen geblieben.
    "Mein letzter Herr hat mich verkauft, weil er das Geld brauchte und glaubte. ich sei sowieso zu nichts nütze."

    Sie wagte es nicht, ihren Kopf anzuheben um genau sehen zu können, was gerade um sie herum geschah. Nur Bruchstücke dessen, was im Atrium vor sich ging, konnte sie durch ihr schielen erhaschen. Was sie nicht sehen konnte, hörte sie: die Worte, die fielen und das Klimpern des Geldsäckchens, mit den 36 Aurei darin, das von Hand zu Hand ging.


    Als die beiden Männer, die sie geliefert hatten, gegangen waren, kehrte die Stille zurück. Niemand sagte etwas. Kein Geräusch war mehr zu hören.
    Sie stand sie an derselben Stelle zu der man sie geführt hatte. Ihre Hände waren noch immer mit einem Strick gebunden. Eigentlich wäre das nicht notwendig gewesen. Aber man wollte wohl sicher gehen, damit die Sklavin auch dort ankam, wo sie hin gehörte.
    Nuala hatte es vermieden, sich zu rühren. Ihr Blick ruhte unvermindert auf das Stücken Boden, unmittelbar vor ihr. Indem sie einen bestimmten Punkt am Boden an fixierte, war es so, als könne sie sich daran festhalten. Ein neuer Halt war es, den sie wieder im Leben brauchte. Jenen Halt den sie verloren hatte, als man sie von "ihrer" mogontiacischen Familie fort gebracht hatte. Den Halt, den sie danach nie mehr wieder gefunden hatte. Ob sie ihn hier finden würde, war noch fraglich. Das, was ihr der germanische Sklave bei ihrer Ankunft gesagt hatte, wollte sie nicht ruhen lassen. Du hast einen Riesenglück, dass Du hier gelandet bist. Es ließ sie aber zuversichtlicher werden, je länger sie hier war. Warum das so war, konnte sie nicht beantworten.


    Die Stille wurde schließlich durchbrochen, was sie dazu veranlasste, ihren Punkt am Boden loszulassen. Sie sah zu ihm auf und erkannte wieder jenen Mann, der am meisten für sie geboten hatte. Jetzt war er ganz nah und alleine. Er hatte in einem bequem aussehenden
    Sessel Platz genommen und musterte sie.
    "Nuala, dominus. Man ruft mich Nuala."
    Ihre zarte Stimme klang zittrig und verriet letztlich doch, was in ihr vor gehen mochte.

    Das Atrium wirkte noch pompöser, als alles, was sie zuvor jemals gesehen hatte. Nualas Augen konnten sich kaum satt sehen an all den Dingen die hier harmonisch zusammengestellt waren. Solange der dominus nicht da war, wollte sie alles auffangen, was ihre Augen erblickten. Die schönen bemalten Wände, in der Mitte des Atriums das impluvium, das edle Mobiliar und die anmutenden Statuen von halbnackten Frauen.
    Sie wusste nun, sie war in einem reichen Haushalt gelandet. Die Aussicht, Hunger leiden zu müssen, wie sie es bei ihren letzten Herren oftmals getan hatte, war sehr gering. Vielleicht hatte der germanische Sklave, der sie hereingeführt hatte ja doch recht. Doch ganz überzeugt war sie immer noch nicht.


    Dann hörte sie nahende Schritte. Schnell senkte sie wieder ihren Blick. Sie wollte nicht gleich bei der ersten Begegnug mit ihrem Herrn einen schlechten Eindruck hinterlassen. Trotzdem versuchte sie in die Richtung hinüber zu schielen, aus der jede Minute ihr neuer dominus erscheinen würde. Ihr Herz pochte und sie hatte Mühe, ihre Aufregung nicht zu zeigen.

    Nuala sah auf, als die Tür sich öffnete und man die Männer des Sklavenhändlers und auch sie herein bat. Ihr Blick ruhte einen Moment auf dem Sklaven, bis sie der Ruck erfasste, dem sie nachgeben musste, als der Sklaventreiber, der sie zur Villa geführt hatte, eintrat.
    Der Sklave hatte zu ihr in germanischer Sprache gesprochen. Verwirrt drehte sie sich nach ihm um. Ein Riesenglück? Das wäre wirklich schön gewesen! Sich der Vorstellung hinzugeben, einen Platz gefunden zu haben, an dem es ihr gut ging, war sehr verlockend gewesen. Doch die Vergangenheit hatte sie gelehrt, sich erst selbst zu überzeugen, bevor sie sich freuen konnte.
    Man führte die kleine Gruppe in das Atrium der Villa. Staunend sah Nuala sich auf dem Weg dorthin um. Solche Pracht hatte sie zuvor nicht gesehen, Nicht einmal, bei ihrer "Familie" in Mogontiacum.

    Die Sonne war längst untergangen und die Nacht brach herein.
    Zwei Männer, die eine gebundene junge Frau hinter sich herzogen, gingen die Straße entlang. Einer der beiden trug eine Fackel mit sich, um sich und seinem Begleiter den Weg zu leuchten. Es geschah nicht alle Tage, dass ihr Weg sie in eine solch noble Wohngegend führte. Wer hier ein Häusschen sein Eigen nennen konnte, der hatte für den Rest seines Lebens ausgesorgt.
    Die junge Frau folgte den beiden Männern widerstandslos. Es hatte keinen Zweck, sich zu sträuben. Widerstand zu leisten bedeutete nur, sich Schmerzen einzuhandeln. Außerdem war sie froh, endlich aus dem Dreckloch zu entkommen, in dem sie die letzten Tage, als sie noch in der Gewalt des Sklavenhändlers war, verbracht hatte.
    In der Dunkelheit konnte man die Umrisse einer großen Villa erkennen. Das musste die Lieferadresse sein. Der Mann mit der Fackel, sah noch einmal auf seiner tabula nach. Ja, das war die richtige Adresse!
    Er ging auf die Tür zu und klopfte dreimal. Der andere Mann mit der Sklavin im Schlepptau, blieb unweit hinter ihm stehen. "Wenn wir die los sind, gehen wir noch einen trinken. Zum Glück war das die letzte für heute!" sagte er zu seinem Partner. Der Andere blieb bei dem Gedanken daran aber eher pragmatisch. Solange er seine Aufgabe noch nicht erledigt hatte, war an Freizeit nicht zu denken. "Erst bringen wir das hier über die Bühne und dann können wir überlegen, was wir machen." Arbeit war eben Arbeit und die musste man so gut, wie möglich verrichten. Er wollte es noch weit bringen, um vielleicht eines Tages sein eigenes Geschäft zu haben. Wenn man es richtig anstellte, konnte man reich werden, im Sklavenhandel.

    Die Gebote überschlugen sich, doch Nuala rührte sich nicht. Einzig ihre Augen schloss sie ab einem bestimmten Moment, in dem sie sich fort wünschte. Wie anders wäre ihr Leben verlaufen, hätte es das Schicksal mit ihr besser gemeint? Sie konnte sich kaum noch an die Zeit davor entsinnen. Diese Ereignisse lagen zu lange zurück. Sie selbst war damals ein kleines Kind gewesen, das nicht begreifen konnte, was um es herum geschehen war. In ihrer Kindheit hatte sie ihr Schicksal auch noch nicht richtig greifen können. Sie wurde fast wie ein leibliches Kind der Familie, in die sie gekommen war, aufgenommen. Nur wenig hatte daran erinnert, was sie war.


    Nualas Aufmerksamkeit kam mit einem kräftigen rütteln an ihrem Arm wieder zurück. Der Sklavenhändler hatte sie an ihrem Oberarm gegriffen und verkündete nun euphorisch den Ausgang der Auktion. Sie schlug wieder die Augen auf und sah in die Richtung, aus der das letzte und entscheidende Gebot gekommen war. Sie erkannte einen gutgekleideten jungen Mann. Manius Aurelius Orestes- glaubte sie, vernommen zu haben. Der Name ihres neuen Herrn. Heute Abend sollte sie ihm überstellt werden. Sie blieb deswegen ruhig. Bislang war er für sie nur ein weiterer Herr, den sie im Laufe ihres Sklavendaseins haben würde. Ob er sich als guter Herr erweisen würde, konnte und wollte sie rein vom bloßen betrachten nicht sagen. Niemand wusste, was die Zukunft bringen würde. Dieses Wissen war alleine den Göttern vorbehalten.

    Nur ihr leises atmen kündete davon, dass es sich nicht um eine Statue handelte, die man neben dem Sklavenhändler postiert hatte. Ihren scheuen Blick hielt sie gesenkt. Nuala wagte es nicht, noch einmal aufzusehen. Zu sehr lastete ihre Scham auf ihr. So hatte man es ihr beigebracht. Eine Sklavin hatte ihren Herrn nicht direkt in die Augen zu schauen. All das, was man ihr oftmals auch schmerzhaft beigebracht hatte, war tief in ihr verankert. So handelte sie auch danach.
    Die Gebote überschlugen sich nun fast: Es dauerte nicht lange, da stand bereits das höchste Gebot bei 20 Aurei. Eine unvorstellbar hohe Summe! Ihr wurde fast schwindelig bei dem Gedanken. Das war Rom, der Nabel der Welt und keine unwichtige Provinz. Nuala wusste nur wenig über diese Stadt und ihre Menschen. Aber auch das würde sie meistern, wie so vieles in ihrem bisherigen Leben.
    Wäre doch nur schon alles vorbei! Sie hasste es, hier stehen zu müssen und von allen begafft zu werden. Damit sich ihre innere Spannung lösen konnte, ließ sie ihre Gedanken schweifen. Sie dachte zurück an die schönen Tage, die längst vergangen waren. Damals in Germanien. Da war das Leben noch unbeschwert gewesen. Zwei kleine Mädchen, die lachend umher sprangen und Versteck spielten. Die kurzen aber schönen Sommer und die Flussauen des Rhenus. Lange war es her, vergangen wie ein Traum. Was würde ihr die Zukunft bringen? Das sollte sich hier in kürzester Zeit entscheiden. Dass sie darauf keinen Einfluss hatte, störte sie nicht. Hatte sie jemals eine Wahl in ihrem Leben gehabt? Nein!

    Das erste Gebot ging ein. Nuala sah vorsichtig auf, um den Mann zu finden, der für sie geboten hatte. Sie konnte ihn in einer der vordern Reihen ausmachen. Von seiner Aufmachung her konnte sie darauf schließen, dass es sich um einen wohlhabenden Mann handeln musste. Aber zu diesem Zeitpunkt wollte sie noch nicht darauf hoffen, dass ihr das große Glück zuteil werden würde und sie in einem reichen Haushalt landete.


    Fast regungslos verharrte sie neben dem Sklavenhändler, der das Gebot freudig begrüßte, allerdings damit noch lange nicht zufrieden war.
    Ein junger Mann aus der Menge, der aus Titus Tranquillus Anpreisungen entnommen hatte, dass Nuala des Gemanischen mächtig war, meldete sich mit einer Frage zu Wort. Und wieder sah sie auf. Bald fiel ihr scheuer Blick auf jenen jungen blonden Mann, der die Frage gestellt hatte. Sie wollte antworten, doch sie hatte nicht den Mut dazu. Nachdem aber der Sklavenhändler sie dazu aufgefordert hatte, begann sie leise und zögern zu sprechen.
    "Ich bin auf einer villa rustica, nahe Mogontiacum aufgewachsen. Dort habe ich das Germanisch der dort lebenden Kinder gelernt." Ihre Antwort kam in einem akzentfreiem Latein, der Sprache, die sie bereits seit ihrer frühesten Jugend sprach. An ihre eigene Sprache, die sie von ihrer Mutter einst gelernt hatte, konnte sie sich nicht mehr erinnern. Sie war genauso verblasst, wie die Erinnerungen an ihre ursprüngliche Heimat.


    Eine weitere Frage ging an den Sklavenhändler ein, ob sie mit Kindern umgehen konnte. Sie war doch noch selbst fast ein Kind. Einst war sie die Gefährtin der jungen Drusilla gewesen, der gleichaltrigen Tochter ihres Herrn. Als Drusilla bei einem Unfall zu Tode kam, hatte er sie verkauft. Dies war ihr letzter Kontakt zu Kindern oder Gleichaltrigen. Durfte sie nun auch sprechen, oder war es nicht gut für das Geschäft des Sklavenhändlers, diese Frage mit nein zu beantworten?


    Wieder ging ein Gebot ein. Diesmal von der anderen Seite des Platzes. Ein Mann, nur wenige Jahre älter als sie selbst, der neben dem blonden jungen Mann stand, der sich nach ihrem Germanisch erkundigt hatte. Schüchtern sah sie zu ihm hinüber, senkte aber sogleich wieder ihren Blick.

    Nuala saß zusammengekauert in einer Ecke. Eine graue schmuddelige tunica bedeckte ihren zarten schlanken Körper. Die nackten Füße waren mit einer dünnen Staubschicht verdreckt. Ihr Haar wurde mit einem ausgeblichenen Stoffband zusammengehalten. Sie wartete, bis man auch sie holte. Die anderen vier Frauen, mit der sie sich den Platz geteilt hatte, waren bereits alle geholt worden. Zuerst die Nubierin, sie hatte zuerst Widerstand leisten wollen. Dann hatte man sie doch brutal herausgezerrt. Wenig später war das parthische Mädchen an der Reihe. In einer für sie fremden Sprache schreinend, hatte man auch sie geholt. Gleich danach hatten sie die Griechin geholt, die nur widerwillig aber umso mehr fluchend, mitgegangen war. Zuletzt war es nur noch Nuala und eine Germanin, die sich die Enge teilen mussten. In den letzten Tagen hatten sie sich einander kennengelernt. Wissend, dass sich ihre Wege bald trennen würden, nutzen sie noch die kurze Zeit, die ihnen blieb, um miteinander zu reden. Dann war auch die Germanin verschwunden. Jetzt war sie alleine. Jetzt war der Platz ausreichend, wenngleich die Bedingungen haarsträubend waren. Die Luft war stickig und die Hitze wurde unerträglicher, je länger sie nun warten musste.


    Feste Pranken packten sie und zerrten sie aus dem Bretterverschlag, der sich, für das Publikum nicht sichtbar, hinter dem Podest befand. Es gab keinen Grund, grob zu werden. Sie ging bereitwillig mit, ließ sich die Hände binden und sträubte sich nicht, als man sie nach vorne auf das Podest schob. Diese Szenerie hatte sie bereits mehr als einmal erlebt. In ihrem kurzen Leben hatte sie schob dreimal den Besitzer gewechselt.
    Damals in Germanien war es schön gewesen. Dort war sie aufgewachsen und dort hatte man ihr auch echte Zuneigung entgegengebracht. Doch die Götter gönnten ihr das schöne Leben nicht. Sie wurde verkauft und musste fortan in einer anderen Stadt leben, weit unten im Süden, dort wo die hohen Berge waren. Da war das Leben wesentlich härter gewesen und zum ersten Mal in ihrem Leben, musste sie hart arbeiten. Als ihr Herr ihr überdrüssig wurde, verkauft er sie einfach und so kam sie mit ihrem neuen Herrn nach Italia und schließlich auch nach Rom. Er war ein Taugenichts gewesen und behandelte sie oft schlecht. Nachdem er in einer durchzechten Nacht alles verloren hatte, war er gezwungen, sie zu verkaufen.
    Jetzt war sie hier. Sie erwartete gar nichts und hoffen wollte sie auch nicht, damit am Ende die Enttäuschung nicht zu groß war.
    Nuala vernahm die Anpreisungen des Sklavenhändlers, der ihre Fähigkeiten in den höchsten Tönen lobte. Sie blieb davon völlig unbeeindruckt und blie letztendlich mit gesenktem Blick auf dem Podest stehen. Verschämt riskierte sie dann doch einen Blick in die Menge, hielt diesem aber nicht lange stand. Wäre doch nur schon alles vorbei!