Zitat
Original von Perseus
Und selbst wenn das gesamte Personal des Olymps zusammen mit den tierköpfigen Göttern Ägyptens in den Raum gekommen wären, so wäre die Reaktion der meisten Schreiberlinge sicherlich nicht anders gewesen als sie es bei diesem Römer war. Doch im Grunde genommen war das ja egal, da ich nichts davon wusste, dass mein Gegenüber sich für den Nabel der Welt hielt, selbst wenn natürlich die schlichte Tatsache, dass er ein Römer war, auf so etwas hindeuten konnte.
Auch von den Vorbehalten gegenüber meiner Sprache ahnte ich nichts, als ich mich hinter meinen Schreibtisch begab und mich dort niederliess, den römischen Jüngling im Blick. Auch wenn es mit der Höflichkeit des jungen Mannes offenbar nicht allzu weit her war, beantwortete ich seine Frage natürlich trotzdem freundlich.
"Pyrrhoneer, lass mich kurz nachsehen." sagte ich und holte eine Schriftrolle hervor, auf der jene Lehrenden verzeichnet waren, die derzeit zum Gast am Museion waren, da ich mir ziemlich sicher war, dass wir derzeit keinen dauerhaft angestellten Gelehrten jener philosophischen Schule hatte. Ich fuhr mit dem Finger über die Liste und hielt bei einem an.
"Der überaus geschätzte Ariston von Salamis weilt derzeit am Museion." Ich wusste natürlich nicht, ob mein Gegenüber den Namen des Mannes kannte, denn soweit ich mich erinnerte, war er ein Gelehrter mit einem nicht gerade übermässig grossen Ruf, aber möglich war es ja trotzdem.
Eine metallblaue Fliege zog ihre Kreise an der Zimmerdecke. Ihr penetrantes Surren lenkte den jungen Patrizier ab, er verfolgte, wie das Insekt gegen ein Fenstergitter torkelte, dann erneut ihren stumpfsinnigen, irritierend gleichförmigen Weg auf sich nahm. Heiß war es. Wenn diese Fliege nur einen Tag lebte, so fragte sich der junge Patrizier, währte dann jener kurze Augenblick für sie so lange wie eine Stunde für einen Menschen? So lange wie ein Monat? Länger? Nahmen nicht sogar Menschen, denen eine untereinander ähnlich bemessene Lebensspanne gewährt war, den Verlauf der Zeit ganz unterschiedlich wahr? Wie mochte der Schreiber, der hier vor Dexter so treulich seinen Dienst versah, die Ausdehnung dieses Tages erleben? Ja, verstrich die Zeit nicht sogar für ein und dieselbe Person mal schneller, mal langsamer, je nach Alter, Gemüt, und Neuheit der verlebten Stunden? Veränderung war das Wesen der Zeit, laut Aristoteles. Würde der Lauf der Veränderung aufgehalten – würde dann auch die Zeit enden?
Oder tropft doch, irgendwo jenseits des fassbaren, eine Art... Idee einer kosmischen Wasseruhr... ?
Die Fliege summte noch immer, eintönig, schläfrig...
Ariston von Salamis. Den Namen hatte er noch nie vernommen. Doch da der Schreiber davon auszugehen schien, dass man diesen Mann kennen müßte, beschloß Flavius Dexter, hier keine Blöße des Nichtwissens einzugestehen.
"Vortrefflich."
Vortrefflich war es in der Tat, dass diese rare Lehre hier vertreten war! Wie dürstete es Dexter, mehr von jener faszinierenden Philosophie zu erfahren, von der es hieß, dass sie nicht zögerte, alles auf das geistreichste in Frage zu stellen, vor deren Radikalität ihn mancher seiner Lehrer gewarnt hatte (und die ihm darum um so interessanter erschien.)
"Zudem wünsche ich, mein Wissen auf dem Gebiet der Staatskunde und der Verfassungslehre zu verfeinern." fuhr Dexter zielstrebig fort. "Ist es ausserdem möglich, eine Unterkunft auf dem Gelände des Museions zu beziehen? Etwas einfaches wäre mir durchaus genehm. Ich möchte keine Sonderbehandlung." Und zudem war es um seine Reisekasse nicht mehr allzugut bestellt, seitdem die Wirren des Krieges ihn von der elterlichen Großzügigkeit abgeschnitten hatte. Doch lieber hätte er sich die Zunge abgebissen, als dieses unschickliche Thema anzusprechen.
"Und was gibt es darüber hinaus noch zu klären?"