Beiträge von Lucius Fraxinus

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    Die von Arwed so gepriesene Zivilisation, repräsentiert durch die eher mäßig interessierte Besatzung zweier Patrouillenboote, hatte sich nach oberflächlicher Kontrolle der Ladung schnell wieder ans linke Moenusufer zurückgezogen. Und dort verharrte sie auch, die vermeintliche Zivilisation. Flussmeile um Flussmeile. Stets in Sichtweite und doch fürs erste unerreichbar. Nach Nordwesten ging es. Immer nach Nordwesten. Unter einer Sonne, die umso heißer vom Himmel zu tropfte, je weiter sie sich von ihrem Höchststand entfernte. Durch eine unbewegte Schwüle, die die nutzlos herunterhängenden Segel geradezu verhöhnte. Auf einem trüben Fluss, der nach jedem Ruderschlag brackigen Moder ausatmete. Irgend einem Ziel entgegen, an dessen Existenz Arwed fast schon zu zweifeln begann. Obwohl seit dem Ablegen erst einige Stunden verstrichen waren, fühlte er sich, als sei er schon seit Tagen auf dem schwerfälligen Prahm gefangen. Ernüchtert hatte er zur Kenntnis nehmen müssen, dass Carneades einerseits nicht beabsichtigte, die Weiterfahrt durch eine Aufenthalt an der schattigen römischen Flussseite zu verzögern, er es aber andererseits nicht eilig genug hatte, um seine Ruderer etwas mehr anzutreiben. So war den jungen Askaleuda das zweifelhafte Kunststück gelungen, Germania Magna zu verlassen ohne Germania Superior zu betreten. Sie befanden sich nicht an der Grenze, wie Ove erfreut ausgerufen hatte, sondern direkt auf ihr. Genau genommen trieben sie im Niemandsland dahin, beidseitig eingefasst von bewaldeten Hügeln, die sich im Osten wild und unberührt durch kaum bebautes Land zogen, während sie im Westen von einer lockeren Kette aus Wachtürmen und vereinzelten Wehranlagen gezähmt wurden.


    Gähnend blinzelte Arwed flussabwärts und wartete. Worauf, wusste er selbst nicht so genau, vermutlich darauf, endlich irgendwo anzukommen. Zudem gab es ohnehin wenig sinnvolleres zu tun als über das Wasser zu glotzen und zu warten. Ove hing mit vorgehaltenem Holzbottich über die Bordwand, um die Pferde mit Wasser zu versorgen, Ratnar hatte sich aus Mantel und Pferdedecke eine Art Sonnendach zwischen den Stoffballen errichtet und schnarchte friedlich darunter hervor. Carneades war in einem kleinen weißen Zelt verschwunden, das im hinteren Teil des Führungsbootes schlaff zwischen den Spannseilen hing. Die Mannschaft ruderte. Langsam, gleichmäßig, und seit sie den Limes zu ihrer Linken wusste, sichtlich entspannt. Um sich zumindest ein klein wenig nützlich zu machen, tappte Arwed zu einem der Wasserfässer hinüber, tauchte eine große Schöpfkelle hinein, und ging damit die Reihen ab. Die meisten Ruderer dankten es ihm mit derben Bemerkungen über seinen breitbeinigen Gang, ein paar nickten höflich, nur einer grinste ihm unter der breiten Krempe seines Bauernhutes verschmitzt entgegen. „Kahnfahrten sind wohl nicht so deine Sache, wie?“ Froh darüber, dass sich wenigstens einer der Ruderer dazu herabließ, ein einigermaßen freundliches Wort an ihn zu richten, ließ sich Arwed in die Hocke sinken. „Ach, merkt man das?“ Der Ruderer nahm lachend die Schöpfkelle entgegen. „Na ja, wenn man dich hier so rum eiern sieht, könnte einem der Gedanke schon kommen. Außerdem rudern wir dir viel zu langsam, lieg ich da richtig?“ Ertappt. Genau so war es. Ove hatte schon recht, Reiter rudern nicht, und Ruderer reiten nicht. Ein Reiter musste darauf acht geben, sein Pferd nicht zuschanden zu reiten, diese störrischen Lastkähne dagegen würden gewiss nicht auseinander brechen, wenn sich die Ruderer ein klein wenig mehr am Riemen rissen. Wenn Carneades es schon für unnötig erachtete, diese glühend heißen Stunden im Schatten der Uferbäume verstreichen zu lassen, hätte er wenigstens dafür sorgen können, dass sie voran kamen. Das permanente Geschaukel kombiniert mit Hitze und Untätigkeit machten Arwed so langsam fertig.


    „Carneades wird schon seine Gründe haben. Ich bin nur Passagier.“ entgegnete er ausweichend. „Carneades.“ spuckte der Ruderer verächtlich aus. „Sitzt der hier vielleicht auf der Ruderbank? Carneades ist ein verdammter Geizhals, für den reißen wir uns bei dem Wetter ganz bestimmt nicht die Arme aus. Vier Sesterzen pro Tag zahlt er uns für die Plackerei. Findest du das in Ordnung?“ Arwed hatte keine Ahnung, ob er das in Ordnung fand, es ging ihn schlichtweg nichts an. „Tja, ein Vermögen ist das wohl nicht gerade.“ Der Ruderer lachte trocken auf. „Ein Vermögen? Das verlangt auch keiner. Nur eine angemessene Bezahlung. Mit einer motivierten Mannschaft wären wir sicher längst am Westbogen. Aber so ..“ Was sollte Arwed dazu sagen? Sein Pferd hatte sich noch nie bei ihm darüber beschwert, dass es nicht schneller galoppierte. Schlussendlich hatten es die Ruderer im wahrsten Sinne des Wortes selbst in der Hand. „Nun, wir können gerne ein paar von euch abwechseln. Würde uns nichts ausmachen.“ Der verbitterte Ruderer kam etwas aus dem Konzept. „Was? Nein. Das zieht uns Carneades bloß vom Lohn ab. Zudem habt ihr ja für die Flussreise bezahlt. Habt ihr doch, oder?“ Arwed schlug die Stirn in Falten. Nein, hatten sie nicht. Carneades hatte seinem Geschäftspartner Appius einen Gefallen getan. Von Bezahlung war nie die Rede gewesen. Das wiederum ging den Ruderer nichts an. „Sicher. Auch wieder wahr.“ nickte Arwed mit einem dünnen Lächeln. „Was meinst du, wie viele Flussmeilen schaffen wir noch bis zum Abend?“ Bevor der Befragte antworten konnte, mischte sich Ove ein, den das Gespräch nun ebenfalls herbeigelockt hatte. „Das würde mich auch mal interessieren. Ich will endlich runter von diesem Kahn. Ist es noch weit bis zum Rhenus? Sollten wir den nicht längst erreicht haben?“
    „Weit? Was ist schon weit?“ brummte der Ruderer mit merkbar sinkender Laune. „Diese Fahrt wird uns bis an die nördlichen Fossae führen, das ist weit. Wir sind oft Monate unterwegs, und das bei der lausigen Bezahlung.“ Arwed nahm die leer getrunkene Kelle wieder an sich. Er wusste weder, was der Bursche mit den Fossae meinte, noch wo die lagen, er wusste nur, dass ihm das Gejammer über den kargen Lohn allmählich auf die Nerven ging. Wenn sein Bruder sich das Lamento weiter anhören wollte, war das seine Sache, er selbst hatte jedenfalls keine Lust dazu. „Ich geh dann mal nach den Tieren sehen.“


    Viel Zeit nahm es nicht in Anspruch, eine Decke in den Fluss zu tauchen, sie auszuwringen und die Pferde behutsam damit abzureiben. Als Arwed fertig war, legte sich sofort wieder bleierne Langeweile auf sein Gemüt. Auch er wollte am liebsten runter vom Kahn, so schnell wie möglich, im Galopp durch den Waldschatten preschen, den Wind auf der nassen Stirn, die Flanken des Pferdes zwischen den Schenkeln. Stattdessen nichts als Mücken, heiße stehende Luft, Stillstand. Schattige Waldhügel links, schattige Waldhügel rechts, dazwischen der in der prallen Nachmittagssonne vor sich hin dünstende Moenus, faul, grün, scheinbar endlos. Dass sich der Strom zusehends mit Flößen, Nachen und Lastkähnen füllte, deren Mannschaften gewiss ebenso mit dem stickigen Hochsommertag zu kämpfen hatten, war auch kein Trost. Ein paar Schlucke Wein erschienen da schon weit tröstlicher. Nach kurzem Herumsuchen fand Arwed im Halbschatten von Ratnars improvisiertem Sonnensegel Thraseas Weinschlauch. Leer. Fluchend warf er die schlaffe Lederhülle in den Fluss und setzte sich dann mit dem Rücken an die Bordwand gelehnt nieder. Ratnars Schnarchen, das Mückensummen und Oves gedämpftes Geplapper an den vorderen Ruderbänken verschmolzen zu einem einzigen einlullenden Rauschen und ließen ihn rasch einnicken.


    Als Ove ihn wachrüttelte war es Abend geworden. Die brüllende Hitze hatte merklich nachgelassen, in der Ferne war leiser Donner zu hören, die westlichen Hügel warfen ihre Schatten bereits bis über die Flussmitte hinaus und ab und an wehte sogar ein lauer Windhauch über das Wasser. Ove stand mit einem freudigen Grinsen über seinem Bruder. Es schien Neuigkeiten zu geben. „Was?“
    „Hör mal, Evarchus .. also der Ruderer, du weißt schon .. der hat mir erzählt, dass wir an der nächsten Anlegestelle im Westbogen die Nacht verbringen müssen, weil es nachts zu gefährlich ist, die Untiefen weiter flussabwärts zu passiern.“
    „Beschissene Aussichten. Und weiter?“
    „Ein Bekannter von ihm arbeitet da am Ladeplatz. Der kennt sich in der Gegend aus wie in seiner Hose und könnte uns in ein paar Stunden über Land an den Rhenus führen .. was meinst du?“
    Arwed blinzelte Ove misstrauisch an.
    „Weil er ebenso selbstlos und hilfsbereit ist wie sein rudernder Freund, nehme ich an?“
    „Na ja, ganz umsonst kann er das natürlich nicht machen, aber Vater hat dir heute morgen doch einen ziemlich dicken Geldbeutel mitgegeben, ich habs gesehen. Wenn wir nun ein kleines bisschen davon ...“
    „Vergiss es!“ unterbrach Arwed seinen Bruder schroff. „Richtig, er hat mir einen Beutel gegeben. Für Notfälle! Mich kotzt das hier genauso an wie dich, aber ein Notfall ist was anderes. Und es hat auch keinen zu interessieren, wie viel Geld wir bei uns haben. Hast du verstanden?“ Wie immer bei solchen Anlässen nahm Ove die Maßregelung grummelnd hin, zog trotzig das Feuchte in der Nase hoch und machte sich davon; nach vorn zu seinem neuen Freund Evarchus. Arwed erhob sich mit einem tiefen Seufzer. Dicker Geldbeutel. Ove war so ein Idiot. Ratnar schwebte unüberhörbar noch immer durchs Reich der Träume. Mit einem Tritt gegen die unter den aufgespannten Decken hervor ragenden Beine setzte Arwed dem ein unsanftes Ende. „He, Vetter! Genug geschnarcht. Zeit für eine gepflegte Unterhaltung.“

    Oves Information erwies sich als zutreffend. In der anbrechenden Dämmerung, kurz nachdem der Moenus sich in einer weiten Schleife westwärts gewunden hatte, kam am Nordufer eine Reihe von Gebäuden in Sicht, Lagerschuppen, Ställe, Blockhütten, Langhäuser. Von einem breiten Ufersteg, führte ein halbes Dutzend weiterer Stege aufs Wasser hinaus, an denen bereits eine Handvoll Boote festgemacht hatten. Auf dem Hügelkamm nördlich der Anlegestelle schimmerten die Balken eines Wachturms im letzten Abendlicht, ein Anblick, der Arwed ein breites Lächeln aufs Gesicht zauberte. Römische Wachtürme beiderseits des Flusses, hier war der Moenus nun endgültig zum Römer geworden. Carneades dirigierte die Prähme zu zwei freien Stegen und gab schließlich den Befehl anzulegen. Die Riemen wurden eingezogen, ein Teil der Besatzung sprang mit dicken Seilen auf die Holzbohlen, um die Kähne an den Pollern zu vertäuen, der Rest der Mannschaft überprüfte die Verzurrung der geladenen Kisten, Fässer und Ballen. Danach kramten die Ruderer gut gelaunt ihre Sachen zusammen und versammelten sich auf dem Steg, wo sie von Carneades zur Nachtwache eingeteilt wurden. Arwed, Ove und Ratnar sahen dem Treiben unbeteiligt zu. Wären sie zahlende Fahrgäste gewesen, hätte ihnen der Bootseigner vielleicht kurz erklärt, wo genau sie sich befanden, wie weit es noch bis zum Rhenus war und wann sie am Morgen wieder ablegen würden, so aber würdigte Carneades seine Gefälligkeitspassagiere keines Blickes. Das brauchte er im Grunde auch nicht, denn Ove war wie es schien bestens im Bilde.


    „Das ist ein Umschlagplatz für allerlei Waren aus dem Hinterland.“ dozierte er ungefragt drauf los. „.Häute, Bohnerz, Blei, Schweine, Frauenhaar .. lauter solche Sachen halt. Dort drüben hinter den Lagerschuppen gibt es neben einer gut sortierten Taberna auch eine Caupona, in der man zu recht zivilen Preise zechen und übernachten kann, und nicht nur das. Evarchus könnte uns eine galante Begleitung für den Abend vermitteln, wenn du weißt, was ich meine. Ansonsten wäre der Aufenthalt doch die reinste Zeitverschwendung, oder? Ach ja, ein Stück weiter flussabwärts liegt eine Brücke, von dort verläuft ein gut ausgebauter Weg nach Norden Richtung Helidiberga. Wenn man den ein paar Meilen entlang reitet, kommt man zu einem Waldpfad, der über Nida direkt an den Rhenus führt. Mit einem guten Führer ist die Strecke in drei, höchstens vier Stunden zu bewältigen.“ Der offenkundige Stolz, mit dem Ove sein neu erlangtes Wissen zum besten gab, ließ Arwed erst einmal geduldig zuhören, obgleich ihm längst klar war, worauf sein Bruder mit dem Vortrag hinaus wollte.


    „Carneades wird morgen früh noch zusätzliche Ladung an Bord nehmen, dann wird’s hier richtig eng, zudem verzögert das natürlich die Weiterfahrt. Sechs Stunden wird es mindestens dauern, bis wir auf diesem müden Kahn die Moenusmündung erreicht haben. Wenn wir aber den Landweg nehmen, könnten wir im Morgengrauen längst in Mogontiacum sein.“
    „Sagt dein Freund Evarchus.“ bemerkte Arwed mit einem leicht spöttischen Unterton. Es war schon beachtlich, wie sich dieser bemitleidenswert schlecht bezahlte Ruderer ins Zeug legte, um einem jungen Suebus behilflich zu sein, den er gerade einmal ein paar Stunden kannte. Als hätte er die halblaute Unterhaltung gehört, kletterte Evarchus flink vom Steg auf den Kahn zurück und gesellte sich mit jovialem Lächeln zu den Askaleuda.
    „Marcus hat es bestimmt schon erzählt. Ich kenne in der Siedlung jemanden, der euch in ein paar Stunden an den Rhenus führen könnte. Ungeduldig wie ihr offensichtlich seid, werdet ihr hier wohl kaum die Nacht verbringen wollen. Ich treffe meinen Bekannten nachher in der Caupona. Ihr begleitet mich doch sicher?“
    „Übernachtet die Mannschaft an Land?“ lenkte Arwed vom Thema ab.
    „Was? Ja. In einer umgebauten Scheuer am Hang. Nur die Bordwachen bleiben bei den Kähnen. Ich hab die dritte Wache erwischt. Aber bis dahin ist noch eine Weile hin. Also, worauf warten wir? Mein Bekannter ist sicher schon dort. Ihr könnt die Pferde ja später noch holen.“ Ove strebte grinsend dem Steg zu. Ratnar folgte ihm auf den Fuß. Arwed schüttelte langsam den Kopf. „Ich bleib bei den Pferden. He, Frater Marcus!“ Ove brauchte einen Augenblick, um zu realisieren, dass er gemeint war. Mitten im Schritt hielt er inne. „Was?“ Arwed wühlte Halvors Geldbeutel aus seinem Gepäck, fuchtelte schmunzelnd damit herum und fingerte zehn Denare heraus. „Willst du etwa die Zeche prellen? Oder erwartest du von Evarchus, dass er dich einlädt?“ Der Ruderer lachte nervös, Ove kam zurück und schnappte feixend nach den Münzen. „Und was machst du solange?“
    „Hmmm, ich werd ein Happen essen und mich dann unter Ratnars hochherrschaftliches Zeltdach verziehen. Ihr seid ja sicher bald zurück.“
    „Denk schon. Also heuern wir den Führer an?“
    „Nein.“
    „Aber dann könnten wir noch heute Nacht ..“
    „Nein! Viel Spaß.“


    Ove stapfte eingeschnappt davon, mit Ratnar und Evarchus im Schlepptau. Versonnen blickte Arwed ihnen nach Er konnte nur hoffen, dass sich Ratnar an das halten würde, was er ihm eingeschärft hatte. Auch die übrigen Ruderer strömten geführt von Carneades der Siedlung zu. Unter erwartungsfrohem Gejohle verschwand die Mannschaft langsam zwischen den Häusern. Endlich allein. Zumindest so gut wie allein. Die Männer der ersten Nachtwache waren zwar zurückgeblieben, interessierten sich aber nicht im geringsten für den am Bord verbliebenen Passagier. Im Lichtschein einer Lucerna hatten sie sich auf dem Steg niedergelassen und vertrieben sich nun die Zeit bis zur Ablösung mit Würfelspiel und zotigen Anekdoten.
    Arwed ließ es gemächlich angehen. Zuerst strich er das dreckige Stroh mit den Hinterlassenschaften der Reittiere zusammen, warf es über Bord und streute frisches aus. Danach rollte er die Bündel mit dem Raufutter vor den Pferden aus, stellte einen Bottich Flusswasser daneben und gönnte sich anschließend selbst ein bescheidenes Nachtmahl, bestehend aus steinharten Brotresten, zähem Speck und lauwarmen Essigwasser. Frisch gestärkt reinigte er Gesicht und Oberkörper mit dem Wasser aus dem Pferdebottich, polsterte als nächstes seinen Mantel mit Stroh, Futtersack und Satteldecken und stopfte ihn behutsam neben das Gepäck unter Ratnars Sonnendach. Zum Schluss steckte er noch seine dunklen Bundschuhe ins untere Ende der Mantelrolle und betrachtete dann zufrieden seine Wollkreatur. Doch, konnte man durchaus so lassen.


    Jetzt fehlte ihm nur noch ein schönes handliches Stück Holz, im Idealfall etwa eineinhalb Ellen lang und nicht all zu hart. Dergleichen auf einem Lastprahm zu finden war allerdings nicht so einfach. Ein Ruderriemen kam nicht infrage, viel zu lang. Die am Heck gelagerten Ersatzplanken dagegen waren kürzer aber ausgesprochen unhandlich. Nachdem Arwed eine Weile suchend über den nachtdunklen Kahn getappt war, fiel sein Blick auf einen Turm aus schmutzig grauen Ballen, Rohwolle vermutlich, die mit Seilen und Querhölzern mehr schlecht als recht in Form gehalten wurden. Perfekt. Es kostete ihn einiges an Schweiß und Geschick, eine der Spannlatten unter den straffen Ladeseilen hervor zu zerren, als er sie aber in Händen hielt, stellte er befriedigt fest, dass er schwerlich ein besseres Stück Holz hätte finden können. Nun hieß es warten, wachen und geduldig bleiben. So setzte sich Arwed also mit angezogenen Beinen zwischen zwei bauchige Fässer, achtete dabei auf eine möglichst unbequeme Körperhaltung, um nicht einzuschlafen, ließ Ratnars Unterschlupf nicht aus den Augen und wartete geduldig ab. Schließlich, kurz nach dem ersten Wachwechsel, schlief er dann doch ein. Ein Riesenfehler, wie sich herausstellen sollte. Ein unverzeihlicher und tödlicher Fehler.

    Leider sind es nicht "meine" Werke. :D


    Stimmt, Kuhn schreibt zwar nicht so gut wie Scarrow (und der ist auch nicht gerade ein Dostojewski), hat aber ein fundiertes Hintergrundwissen und recherchiert sicher auch genauer.

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    Besonders schnell ging es nicht gerade voran, zumindest nach Arweds Eindruck. Jeder der drei Kähne war mit acht Ruderern besetzt, zwei mal zwei am Bug, zwei mal zwei am Heck, aber nur die Hälfte davon trat in Aktion. Die anderen tauchten die Riemenblätter nur ins Wasser, wenn es die Strömung auszugleichen oder Flusskehren zu umrunden galt. Wäre es nach Arwed gegangen, hätten sich die Männer ruhig mehr ins Zeug legen können, um den noch lauen Morgenstunden so viele Meilen wie möglich abzutrotzen, aber es ging nun mal nicht nach ihm. Er war hier nur ein geduldeter Passagier, ebenso wie Bruder und Vetter. Oves Befürchtung, zu niedrigem Ruderdienst genötigt zu werden, hatte sich schnell als unbegründet erwiesen. Carneades dachte gar nicht daran, die Askaleuda an die Riemen zu lassen. Er brauche keine ungeschlachten Pflugochsen, hatte der Händler ihnen brüsk erklärt, sondern eine eingespielte Mannschaft. Was er damit meinte, war schon nach wenigen Meilen klar geworden. Der Moenus, so geruhsam er sich durch die Landschaft mäanderte, war ein hinterhältiger Geselle. An manchen Stellen machte er sich so schmal, dass sich die Baumkronen über der Flussmitte fast berührten, an anderen wiederum blähte er sich zu trügerisch dunklen Buchten auf, in denen sich eine Untiefe an die andere reihte. In den zahlreichen Kehren und Schleifen lauerten heimtückische Felsbuckel und Kiesbänke unter der stillen Wasseroberfläche. Die erfahrenen Ruderer mussten ihr ganzes Geschick aufwenden, um die flachbordigen Prähme in der Fahrrinne zu halten. Auch wenn er sich freundlicherer Worte hätte bedienen können, hatte Carneades dennoch vollkommen recht. Den Moenus konnten nur Ruderer überlisten, die ihn kannten. Die Jungmannen hätten weder schnell genug erkannt, wo es geraten war, die Riemen einzuziehen, um sie als Staken zu benutzen, noch hatten sie ein Gefühl dafür, wie tief und wie energisch man sie senken musste, um eine gleichmäßige Geschwindigkeit zu halten. Die ortskundigen Ruderer beherrschten das alles. Keine Frage, Arwed, Ove und Ratnar hatten auf den Ruderbänken tatsächlich nichts zu suchen.


    So ließen sie sich stattdessen gelangweilt bei ihren Pferden nieder, die sie zwischen Ballen, Säcken und Fässern im Mittelteil des zweiten Lastkahnes an den Querspanten festgemacht hatten. Auch was die Reittiere betraf, hatte der Bootseigner noch vor dem Ablegen eine klare Ansage gemacht: Entweder sie verhielten sich ruhig oder Carneades würde sie samt Reiter an der nächsten seichten Stelle absetzen. Eine völlig überflüssige Drohung, denn die Tiere stammten aus Halvors Zucht und waren von ihm aufgezogen und ausgebildet worden. Eher wäre die gesamte Mannschaft in Panik verfallen als die disziplinierten Pferde der Askaleuda. Einen wirklichen Grund zur Beunruhigung bot die Fahrt bislang ohnehin nicht, abgesehen vielleicht von den lästigen Stechmücken.


    Nach der vierten Flussbiegung wichen die letzten Nebelbänke der gleißenden Morgensonne. Auf dem Moenus wurde es drückend heiß und lähmend still. Die Riemenblätter tauchten dumpf gurgelnd ins Wasser, die Mückenschwärme erfüllten die stickige Luft mit einschläferndem Brummen, auf dem ersten Boot wurden ab und zu Carneades knappe Anweisungen laut, sonst war nichts zu hören. Zu sehen war auch nicht viel mehr. Ein schmales Band aus Binsen, Schwertlilien und Schilf säumte den Fluss, dahinter erhob sich turmhoher Laubwald. Arwed war davon ausgegangen, dass sich das Moenustal als um so dichter besiedelt erweisen würde, je näher sie der Grenze kamen. Wenn es sich so verhielt, war jedenfalls nichts davon zu sehen. Die dichten Wälder erlaubten keinen noch so flüchtigen Blick ins Hinterland. Einzig ein paar gelichtete Anlegestellen, von denen schmale Pfade in die Wälder abzweigten, ließen darauf schließen, dass die Gegend bewohnt war. Um Arwed dauerhaft von seinen sorgenvollen Gedanken an Halvor und Thrasea abzulenken bot die Aussicht deutlich zu wenig Abwechslung. Also beschloss er nach einer Weile, es Ove und Ratnar gleich zu tun, und sich zwischen den Ballen ein Schläfchen zu gönnen. Aber daraus wurde nichts. Kaum hatte er sich lang gelegt und die Lider geschlossen, brachte ihn ein erregtes Schnauben wieder auf die Beine. Die Reittiere waren nun doch unruhig geworden. Der Grund dafür erschloss sich Arwed nicht auf Anhieb. Mit zusammengekniffen Augen spähte er den Fluss hinunter. Auf den ersten Blick wirkte alles so ausgestorben und eintönig wie zuvor. Wasser. Röhricht. Wald. Nur am Nordufer, etwa eine Meile voraus, glaubte er Bewegung wahrzunehmen. Den Blick auf das Schilf geheftet ging er langsam zum Bug, starrte angestrengt in den Schatten einiger weit ausladender Weiden und erkannte plötzlich, worauf er da blickte.


    Pferde. Eine ganze Menge Pferde. Kleine struppige Germanenpferde, die sich mit weit vorgereckten Hälsen am Flusswasser gütlich taten. Mindesten zwei Dutzend davon standen Rücken an Rücken im seichten Morast. Hinter ihnen, im Dämmerlicht unter den Weidenkronen, warteten regungslos ihre Reiter. Hochgewachsen, verdreckt, bewaffnet mit Schilden, Speeren und starren feindseligen Blicken. Mit jedem Ruderschlag, der die Prähme näher an das Weidengehölz brachte, sah Arwed mehr Reiter im Walddunkel herankommen. Er rief eine Warnung zum ersten Boot hinüber, aber dort hatte man die Gefahr mittlerweile ebenfalls bemerkt. Ein paar Ruderer erhoben sich von ihren Bänken um hinter der Ladung Schutz zu suchen, die anderen duckten sich hinter die Bordwand, allein Carneades stand aufrecht am Heck und brüllte auf die Männer ein, verflucht nochmal ihre Arbeit zu machen und den Kurs zu halten. Die Unruhe übertrug sich rasch auf die nachfolgenden Kähne. Ove und Ratnar fuhren verschlafen hoch, die Mannschaft zerrte hektisch an den Holmen, sich offensichtlich völlig unschlüssig darüber, ob sie das Boot flussaufwärts rudern oder am Südufer auf Grund setzten sollten. Die stetig wachsende Zahl an Stammeskriegern dagegen verharrte ungerührt zwischen den Bäumen und beschränkte sich darauf, das chaotische Treiben auf den Lastkähnen aufmerksam zu beobachten. Carneades brüllte unbeirrt weiter, und endlich, als sie fast schon auf Höhe der Reiterhorde angelangt waren, gelang es ihm, zu seinen Männern durchzudringen und sie zu geordneten Aktionen zu bewegen. Kraftvoll hoben und senkten sich nun die Riemen, aber obwohl sich die Ruderer sichtlich abmühten, schien es Ewigkeiten zu dauern, bis die Boote das dicht bevölkerte Waldstück passiert und die nächste Flussschleife erreicht hatten.


    Nach dieser Begegnung erschien Arwed nichts mehr an der Landschaft eintönig. Während Ove und Ratnar ihrer Anspannung begegneten, in dem sie sich durch den Reiseproviant fraßen und Thraseas Abschiedsgeschenk, einen prallen Weinschlauch, kreisen ließen, stand er still am Bug und starrte auf Fluss und Wälder als habe er dergleichen noch nie zuvor gesehen. Gegen Ende der fünften Stunde registrierte er erleichtert, dass sich der Waldrand allmählich etwas vom Südufer zurückzog und einem breiten befestigten Weg Platz machte, der sich von nun an den Moenus entlang zog wie ein helles Saumband. Gegen Meridies beschrieb der Fluss einen engen Bogen nach Norden. Der Uferweg folgte der Kehre und füllte sich zusehends mit Fuhrwerken und vereinzelten Reitern. Nach einer knappen Meile endete der Wald im Osten abrupt an einer weitläufigen Schneise. Am westlichen Ufer wurde der Strom von einer spitzen Landzunge verengt, hinter der nach ein paardutzend Ruderschlägen das rötlich schimmernde Dach eines römischen Wachturms auftauchte. Ove und Ratnar warfen aufgeregt Speckstreifen und Trinkschlauch beiseite und tappten zum Bug. Jenseits der Landzunge wurde der Fluss wieder breit und ruhig. Von der Anlegestelle am Fuß des Wachturms lösten sich zwei schlanke Ruderboote. Poliertes Metall funkelte in der Mittagssonne, abgehackte Kommandos hallten über das Wasser. „Eine Flusspatrouille!“ rief Ove begeistert aus. In der Tat. Von jeweils sieben in Doppelreihe rudernden Milites angetrieben, bewegten sich die wendigen Boote zügig auf Carneades Führungsprahm zu. Die Riemen wurden eingezogen. Eines der Patrouillenbote ging längsseits, das andere folgte den langsam dahingleitenden Lastkähnen in einiger Distanz. „Sieh mal!“ Mit fettglänzenden Fingern deutete Ove auf die westlichen Hügel. Hoch über dem Tal thronte ein zweiter Wachturm, einige Meilen nördlich ragte die Dachspitze eines weiteren Turmes über Bäume und Sträucher empor. „Wir sind an der Grenze, oder? Das da drüben ist Germania Superior, stimmts?“ Arwed nickte mit zufriedenem Lächeln. „Sieht ganz so aus, Bruder. Die Zivilisation hat uns wieder.“

    Da ihr ja gerade am Sammeln seid, hier noch ein paar Titel.
    Vielleicht sind die schon irgendwo archiviert. Wenn nicht, voila:


    MILITÄR:

    Militär in Rom
    Alexandra W. Busch
    Verlag: Reichert
    ISBN: 978-3895007064



    ALLGEMEIN:


    August 410 - Ein Kampf um Rom
    Mischa Meier
    Verlag: Klett-Cotta
    ISBN: 978-3608946468


    Der Untergang des Römischen Weltreichs
    Peter Heather
    Verlag: rororo
    ISBN: 978-3499626654


    Rom: Aufstieg und Untergang einer Weltmacht
    Simon Baker
    Verlag: Reclam
    ISBN: 978-3150201602


    Liebe und Sex im Alten Rom
    Alberto Angela
    Verlag: Goldmann
    ISBN: 978-3442158218



    ROMANE:


    Marcus - Soldat Roms (1. Band einer mehrteiligen Reihe)
    Michael Kuhn
    Verlag: Ammianus
    ISBN: 978-3981577419

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    Der Morgen verstrich so trübe wie er begonnen hatte. Erst als die Reiter die ungastliche Ebene hinter sich gebracht und das Hügelland an der Dubra erreicht hatten, zeigte die bleierne Wolkendecke erste Risse, durch die sich das Sonnenlicht mit langen dünnen Fingern über die Hänge tatstete. Zunächst erleichtert darüber, der trockenen staubigen Hitze des offenen Landes entkommen zu sein trabten die Reisenden jetzt in eine drückend feuchte Schwüle hinein, die ihnen die leichten Tuniken in kürzester Zeit wie nasse Lappen am Körper kleben ließ. Je weiter sie der Dubra nach Norden folgten, desto stickiger wurde es in der Flusssenke. Arwed sah beklommen in die Landschaft. Auf den ersten Blick hatte dieses idyllische Tal gewirkt wie eine fruchtbare Insel im vertrockneten Umland. Zwar hatte der unerbittliche Sommer auch hier die Wiesen gedörrt, sie aber nicht verbrannt. Der Boden war obwohl trocken und körnig immer noch dunkel. Aus den Ablaufgräben am Wegrand stieg der Geruch von schlammigen Wasser. Mehr als zwei Tage konnten seit dem letzten kräftigen Regenguss noch nicht vergangen sein. Dennoch würde die Ernte hier kaum üppiger ausfallen als zuhause an der Dalslang. „Haglan.“ knurrte Halvor bitter. „Auf diesem Sommer liegt wahrlich ein Fluch.“ Arwed nickte schweigend. Ein beträchtlicher Teil der Felder war niedergelegt, die Halme zerzaust, geknickt und zu Boden gedrückt als hätten sich trunkene Riesen darauf gewälzt. Auf den unversehrten Feldstreifen am Fuß der Waldhänge waren Männer wie Weiber verbissen dabei, die verbliebene Ausbeute an Weizen und Hafer einzubringen bevor die Götter sie mit dem nächsten Hagelsturm strafen konnten. Auch auf den Höfen, die sie passierten, herrschte hektisches Treiben. Abgedeckte Dächer wurde mit Strohmatten versehen, verwehte Heudiemen wieder aufgerichtet und unterspülte Zaungatter neu verankert. Halvor grüßte den einen oder anderen Hofherren, ließ sich aber auf kein Gespräch ein. Die wachsende Ungeduld war ihm deutlich anzumerken. „Ich kann nur hoffen, dass es auf Appius Anwesen besser aussieht als hier. Noch gute fünf Meilen, dann wissen wir es.“
    „Appius Anwesen?“ fragte Arwed hoffnungsvoll. „Unser Tagesziel?“
    „So ist es. Dein Bruder hat sich doch gestern ein Nachtquartier gewünscht. Heute haben wir eins. Hoff ich zumindest.“


    Zwei Meilen weiter teilte sich die Hügelkette und entließ die Dubra in ein weites Flusstal, aus dem der feuchte Dunst in klebrigen Schwaden bis in die Seitentäler quoll. Nach einer weiteren Meile kam schließlich der Moenus in Sicht. Träge schob sich der Fluss von Nordosten her durch den Auwald, nahm die Dubra auf und wand sich dann in engem Bogen nach Nordwesten davon. Am Südufer waren nur wenige Gebäude zu sehen. Ein paar auf Pfählen gebaute Fischerhütten, eine Fährstelle, ein Speicherschuppen, sonst nichts. Am gegenüberliegenden Ufer dagegen zog sich eine dicht bebaute Siedlung den Strom entlang. Nach dem Ritt durch eher dünn besiedelte Landschaften wirkte das Giebelgewirr im höchsten Maße einladend auf Arwed. Aus den Schmieden drang monotones Hämmern über den Fluss. Von den Tennen erhob sich der dumpfe Rhythmus aufschlagender Dreschflegel. Zwischen den Häusern wuselte geschäftiges Volk herum, Schweine wurden durch die Gassen getrieben, Säcke und Körbe zu den Scheuern geschleppt, an langen Balkenstegen vertäut wurden schwerfällig wirkende Lastkähne beladen. Arwed war begeistert. Dort drüben gab es sicher auch lauschige Schänken und aufgeschlossene Wirtstöchter.



    Entgegen Arweds Hoffnung hielt Halvor jedoch nicht auf die Fähre zu, sondern bog in einen steinigen Hohlweg ab, der die Kolonne durch ein lichtes Ulmenwäldchen auf einen sanft abfallenden Hang hinausführte, von dessen höchster Stelle ein einsames Gehöft auf das Tal hinunterblickte. Schon von weitem betrachtet unterschied sich das Anwesen deutlich von den einfachen Höfen, an denen sie bislang vorbei gekommen waren. Die bereits abgeernteten Felder wechselten sich mit ruhenden Brachflächen ab, das Heu ruhte auf stabil gebauten Reitern und die sauber gezogenen Gräben zwischen den Anbauflächen mündeten in ein ausgemauertes Becken. Der Eindruck durchdachter Ordnung setzte sich auch in den Gebäuden fort. Der Arbeits- und Wohnkomplex des Gehöfts wurde von einer schulterhohen Mauer begrenzt. Aus Holz gebaute und mit rotem Lehm verputzte Langhäuser, Speicher und Ställe waren schnurgerade auf ein breites mehrstöckige Haupthaus ausgerichtet, dessen Mauern aus hellen Ziegelsteinen bestanden und dessen Dach nicht mit Strohmatten sondern mit Holzschindeln gedeckt war. Einige davon waren offensichtlich erst vor kurzem ausgewechselt worden. Wohl infolge des Hagelsturmes, der ansonsten keine sichtbaren Spuren hinterlassen hatte. Halvor seufzte erleichtert auf. „Bei den Asen, da hat der Bursche wieder mal Glück gehabt.“ Als sie das Tor passierten fiel Arwed eine Reihe von wuchtigen Säulen ins Auge, die das Vordach des Wohnhauses trugen. „Sieht fast aus wie eine Villa Rustica bei uns im Süden. Ist dieser Appius Römer?“
    „Nein. Appius ist das Haupt der Herutaleuda und somit ein Blutsverwandter unserer Sippe. Aber er wäre gern Römer. Er ist ein glühender Bewunderer der Romani und gerade weil er kein Civis Romanus ist, legt er sehr viel Wert darauf, die römische Lebensart zu verkörpern.“
    „Ein bisschen zu viel Wert, wenn du mich fragst.“ warf Thrasea grinsend ein. „Und das sag ich als Römer.“ Vor dem breiten Haus angekommen, wurde Arwed schnell klar, was Thrasea meinte. Kaum waren sie von den Pferden gestiegen, eilte ein herausgeputzter beleibter Kahlkopf auf sie zu, der bei jedem seiner trippelnden Schritte acht geben musste, mit den weinroten Sandalen nicht an der überlangen weißen Toga hängen zu bleiben. Das graue Haar war nach vorn gekämmt, die Stirn zierte ein glitzernder Schmuckreif und an den fleischigen Fingern schimmerten fein ziselierte Ringe.


    „Eheu, fucaces labuntur anni!“ flötete der nachgemachte Römer erfreut, „Caius! Sextus! Welch überbordende Freude, euch wiederzusehen!“
    Während Halvor und Thrasea auf den strahlenden Appius zueilten, um ihn in die Arme zu schließen, verjagten Thraseas Begleiter zwei eifrige Knechte, die sich Pferden und Gepäck hatten annehmen wollen. „Finger weg!“ blökte nun auch Thrasea zu den eingeschüchterten Bediensteten hinüber. „Meine Männer kümmern sich um alles! Es reicht, wenn ihr sie zu den Stallungen führt!“
    Die Jungmannen standen derweil herum wie Schafe. Erst auf Oves empörtes Räuspern wandte sich Halvor zu ihnen um. „Ach ja. Das sind meine Söhne Lucius und Marcus, und das ist Galeo, der Sohn meines verstorbenen Bruders.“ Arwed und Ove nickten höflich, nur Ratnar ließ bei der Erwähnung seines römischen Namens ein missmutiges Brummen vernehmen. „Sie werden sich der Ala Secunda Numidia anschließen.“ fuhr Halvor mit stolzer Stimme fort. „Aber zuerst sollen sie mich nach Virtibriga begleiten.“ Der Patron ließ die Zähne blitzen und wallte mit einladender Geste auf die jungen Männer zu. „Ah, sehr schön, Equites für das Reich. Seid willkommen in meinem bescheidenen Heim, Amici. Ich bin Appius Cervus Herutaleudus, für euch einfach Appius. Aber bitte, gehen wir doch hinein. Meine Casa ist eure Casa.“ Appius trippelte plappernd voraus unter dem Vordach hindurch in eine langgezogene schmale Halle. „Ihr scheint gut vorangekommen zu sein, wir hatten euch eigentlich erst am Abend erwartet. Aber um so besser. Ich habe nämlich ein paar Amphoren mit vorjährigem Spanier in der Zisterne versenken lassen. Wenigstens der Wein ist kühl. Aber erholt euch erst einmal. Wenn es euch nach etwas Ruhe verlangt, wird euch mein Diener Pausania zu den Gastgemächern führen. Zur zwölften Stunde wird euch im Triclinium ein wie ich hoffe angemessenes Mahl erwarten. Pausanias!“ Der Gerufene kam eilig einen Treppenaufgang herab, winkte die Gäste hinter sich her und stieg die Stufen flink wieder hinauf, gefolgt von drei jungen Askaleuda, die sich noch immer wie Schafe vorkamen und nicht das geringste Bedürfnis nach Ruhe hatten, zumal Halvor, Thrasea und Appius angeregt plaudernd in der Tiefe der hinteren Räume verschwanden.


    ÷ ÷ ÷



    Das Mahl erwies sich in der Tat als angemessen. Mehr als das. Angesichts des Mangels, der dem gesamten Umland drohte, empfand Arwed die verschwenderische Fülle an Speisen, die Appius hatte auftragen lassen, als reichlich unangebracht und übertrieben. Nicht minder übertrieben wirkte das mit Vasen, Büsten, Figuretten und anderem unnützen Krempel überfrachte sogenannte Triclinium, ganz zu schweigen von der Aufmachung des Gastgebers und seiner Familie. Vor allem Collatina und Camilla, Gattin und Tochter des Hausherren, boten einen fast schon furchterregenden Anblick. In grellbunte nachlässig geraffte Gewänder gehüllt, behangen mit allen Arten von Geschmeide, und bemalt und frisiert als wären sie gekommen, die Winterdämonen zu vertreiben, hatten sich Mutter und Tochter auf ihre Liegen drapiert und verschlangen von dort aus die jungen Gäste mit lüsternen Blicken. Arwed versuchte, den penetrant süßlichen Geruch, der von den Frauen ausging, mit dem penetrant sauren Wein zu übertünchen und tat so, als folge er konzentriert jedem Wort, das seinem Vater, Appius oder Thrasea über die Lippen kam. Das Gespräch der Älteren plätscherte launig vor sich hin. Grüße wurden ausgerichtet, Erinnerungen aufgefrischt und Geschäftsabschlüsse gepriesen. Die Jungen dagegen schütteten tapfer den lausigen vorjährigen Spanier in sich hinein, dabei tunlichst jeden Blickkontakt mit den Damen des Hauses vermeidend. Eine ganze Weile nahmen Collatina und Camilla die offen zur Schau getragene Ignoranz klaglos hin, verabschiedeten sich dann aber ebenso barsch wie unvermittelt, vorgeblich um plötzlich aufgetretene Nackenschmerzen zu lindern. Kaum waren sie entschwebt, wandte sich der eben noch ausgelassen schwadronierende Appius mit ernstem Blick an seine Gäste. „Ich denke, wir sollten der Versammlung besser fern bleiben.“
    Halvor und Thrasea hoben schnaubend die Köpfe, unterbrachen Appius aber nicht. „Die Gegend um Virtibriga ist im Moment kein empfehlenswertes Reiseziel, müsst ihr wissen. Seit ich die Botschaft von eurem Kommen erhalten habe, hat sich die Lage hier geändert. Vom oberen bis zum unteren Moenusbogen werden seit Tagen Überfälle berittener Uultabeuda gemeldet. Anfangs hatten sie es vor allem auf abgelegene Höfe abgesehen, tauchten auf wie aus dem Boden gewachsen, plünderten Speicher, Koppeln und Weiden und lösten sich dann wieder in Luft auf, ganz nach alter Väter Sitte. Einen Tag vor dem Sturm sind sie dann bis nach Virtibriga vorgedrungen. Gut drei Dutzend Pferde und nochmal so viele Kühe haben sie fort getrieben. Bei jedem neuen Angriff scheint die Zahl der Uultabeuda zu wachsen. Vor Virtibriga sollen sie angeblich in Kohortenstärke aufgetaucht sein.“
    „Uultabeuda?“ hakte Thrasea sofort ein als Appius geendet hatte. „Aber das sind Chatti. Was treibt die so weit nach Süden?“
    „Die schlechte Ernte, nehme ich an. Wie es scheint decken sie sich hier unten für den Winter mit Pferden, Rindern und Korn ein. Jedenfalls ist es dieser Tage nicht ratsam, ohne eine entsprechende Anzahl an Kriegern nach Osten zu reiten.“
    Arwed stellte besorgt seinen Becher ab. Wovon redete Appius da? Was für eine Versammlung? Thrasea hatte ihm von geschäftlichen Angelegenheiten erzählt, also war er von einem Rossmarkt ausgegangen. Versammlung klang ihm entschieden zu sehr nach Goden, Wölven und alten Ritualen. Verwirrt blickte er auf seinen Vater, aber der schien sich nicht bemüßigt zu fühlen, seinen Sohn aufzuklären.
    „Pferde für den Winter.“ murmelte Halvor nachdenklich über seinen Becher. hinweg „Vieh und Getreide, in Ordnung, aber Pferde? Klingt mir weniger nach einem simplen Raubzug, eher nach den Vorbereitungen für einen Heerzug. Fragt sich nur, wohin. Hat es in jüngster Zeit schon einmal Kämpfe mit den Chatti gegeben?“
    „Hier nicht. An der Laramündung haben sie eine Handvoll Leibeigene erschlagen und ein paar Mägde verschleppt, nichts von Belang. Aber wie man hört, sind sie im Nordwesten mit römischen Einheiten aneinander geraten. Es tut sich was da oben.“
    „Umso wichtiger ist es, der Versammlung beizuwohnen.“ gab Thrasea zu bedenken.
    Appius wiegte zweifelnd den Kopf. „Wenn sie überhaupt stattfindet. Im Moment können sich die Sippenhäupter noch nicht einmal darauf einigen, wer wie viele Männer stellen soll, um den Chatten entgegen zu treten. Für diplomatische Vorstöße sehe ich da keinen Spielraum. Nicht jetzt.“
    „Wir müssen trotzdem hin.“ beharrte Thrasea beinahe trotzig auf seinem Standpunkt. „Gerade jetzt. Wenn die hungernden Stämme erst einmal in Bewegung geraten, ist es zu spät.“
    Appius ließ sich nicht beirren. „Ich kann es nur wiederholen: Die Gegend ist gefährlich.“
    „Das sind wir auch.“ stellte Halvor entschlossen fest. „Wir werden uns schon zu verteidigen wissen. Oder sind wir etwa Knechte?“
    Unvermittelt sprang Ove auf. „Niemals! Freie Männer sind wir! Mit Freude ziehen wir in den Kampf! Wir sind vorbereitet, Vater, das weißt du. Wir werden die Askaleuda stolz machen! Wir werden ..“
    „Einen Dreck werdet ihr!“ belferte Halvor unerwartet hitzig. „Ihr zieht nach Mogontiacum und sonst nirgendwo hin. Ist das klar?“
    Ove schielte Halvor kurz herausfordernd an, ließ sich dann aber mit gesenktem Haupt wieder auf die Cline plumpsen. „Aber war es nicht dein Plan, uns nach Virtibriga mitzunehmen? Du hast es doch selbst gesagt.“
    „Mein Plan hat sich soeben geändert. Übereifrige Hitzköpfe sind das letzte, was wir hier gebrauchen können. Ihr drei werdet im Morgengrauen nach Westen aufbrechen. Appius, kannst du einen deiner Männer als Führer abstellen? Wie du weißt, ist es ein beschwerlicher und heimtückischer Weg über die Berge bis an den Rhenus.“


    Appius nickte versonnen. „Natürlich. Gewiss. Aber erlaube mir, noch einen anderen Vorschlag zu machen. Drüben am jenseitigen Ufer haben die Frachtboote meines Geschäftspartners Carneades festgemacht. Auch er wird sich morgen früh auf den Weg flussabwärts zum Rhenus machen. Was läge näher, um sicher und unbehelligt nach Mogontiacum zu kommen als die Reise zu Wasser? Drei Mann, drei Pferde. Dafür wird Carneades sicher noch ein Plätzchen finden. Jung und kräftig wie deine Schützlinge sind, geben sie sicher ganz hervorragende Ruderer ab.“
    „Boote?“ ereiferte sich plötzlich der ewig schweigende Ratnar und knallte seinen Becher vor sich auf die Cline. „Sicher nicht! Ganz sicher nicht! Bin ich Fischer? Außerdem, Bier wär mir lieber!“
    „Genau!“ schloss sich Ove an. „Reiter rudern nicht! Ruderer reiten ja auch nicht! Wir bleiben und kämpfen!“ Thrasea feixte vergnügt, Halvor knurrte angsteinflößend, Arwed hielt sich raus. Ihn hatte der reichlich genossene Wein weder erheitert noch aufgestachelt, sondern melancholisch werden lassen. Erst im Lauf des fortschreitenden Abends war ihm so richtig bewusst geworden, dass der Abschied nun unweigerlich bevorstand. So oder so. Der Umweg über Virtibriga wäre ohnehin nur ein Aufschub gewesen. Egal, wo Ove, Ratnar und er sich morgen um diese Zeit befinden mochten, im Sattel oder am Ruder eines Flussbootes, Halvor und Thrasea würden nicht mehr bei ihnen sein. Auch ihm passte es ganz und gar nicht, dass ständig über ihren Kopf hinweg entschieden wurde als seien sie nur ein paar unfreie Mistschaufler, aber Halvor hatte nun mal das Sagen, zudem wollte Arwed ihren letzten gemeinsamen Abend nicht mit Misstönen trüben. Halvor stand sowieso schon kurz vor der Eruption.


    „Ach so, mein Sohn ist sich zu fein zum Rudern. Will lieber kämpfen. Gegen wen denn? Hier gibt es nichts zu kämpfen! Nicht für dich! Und du, mein aufmüpfiger Neffe, solltest dich auf das beschränken, was du am besten kannst: Saufen, Fressen, Klappe halten. Ihr Schafsköpfe macht mir die Entscheidung wirklich leicht. Appius hat völlig recht. Auf dem Wasserweg kommt ihr relativ sicher direkt von hier nach Mogontiacum. Genau so wird es geschehen. Ende der Anhörung. Damit ist alles gesagt.“ Ove und Ratnar sanken in sich zusammen. Halvor funkelte sie noch eine Weile wortlos an und wandte sich dann lauernd an Arwed. „Oder hat mein Ältester vielleicht auch noch einen geistreichen Einwand beizusteuern?“ Arwed schob sich betont unbeteiligt die Kissen zurecht. „Nein Vater. Nur dass mir ein Krug Bier auch lieber wäre.“


    ÷ ÷ ÷


    So kam es, dass sich die Jungmannen am Morgen ihres dritten Reisetages an Bord eines von drei vollbeladenen Transportkähnen wiederfanden, die in gemächlicher Fahrt der Reichsgrenze entgegen trieben. Halvor, Thrasea und Appius hatten sie im Morgengrauen über den Fluss zur Anlegestelle begleitet und sich dort bemüht nüchtern von ihnen verabschiedet. Nun standen die jungen Askaleuda schweigend bei ihren Pferden, blickten trübe nach Osten, bis das letzte Haus des Dorfes hinter der Flussbiegung verschwunden war, und wussten nicht so recht, was sie von alldem halten sollten. Vor allem Arwed trug schwer an der neuen Situation. Noch vor dem Aufbruch zur Fähre hatte sein Vater ihm als dem Ältesten das Versprechen abgenommen, auf Bruder und Vetter acht zu geben und regelmäßig nachhause zu schreiben. Was von beidem ihm größere Schwierigkeiten bereiten würde, vermochte Arwed nicht einmal abzuschätzen.

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    Zuhause wäre es Arwed nie in den Sinn gekommen, auch nur ein Glied zu regen, bevor draußen nicht die Hähne zu lärmen begannen und sich das Gesinde schwatzend auf dem Weg zu den Ställen machte. Aber er war nicht zuhause. Als Halvor kam, um ihn zu wecken, hatte er den Schlaf längst abgeschüttelt. Rund um den finsteren Lagerplatz knackte und raschelte es, als habe sich der ganzen Wald in Bewegung gesetzt. Sogar vom sanft plätschernden Fluss klang verdächtiges Patschen und Gurgeln herauf. „Hörst du das?“ fragte er seinen Vater halblaut. Halvor richtete sich auf und lauschte. „Was meinst du?“ Was er meinte? Arwed war besorgt, sollte Halvor im Schlaf taub geworden sein? „Na das Knacken im Wald und das Gepatsche am Fluss unten. Du hast doch gestern Abend selber gesagt, dass ....“
    „Ach das?“ lachte Halvor leise. „Das sind nur Waldtiere, die ihren Durst löschen. Sind die Pferde unruhig?“ Offenbar nicht. Die hoben ab und zu die Köpfe, schnaubten gelangweilt und starrten dann wieder schläfrig ins Leere. „Nein, sind sie nicht.“ Halvor hatte ihm bereits den Rücken zugekehrt und machte sich daran, seine Sachen zusammen zu packen. „Eben.“ brummte er über die Schulter. „Wenn die Pferde nicht beunruhigt sind, brauchst du es auch nicht zu sein. Weck jetzt Ove und Ratnar. Wir brechen auf.“ Um einem erneuten Hinweis darauf, dass er noch viel lernen müsse, zuvor zu kommen, beeilte sich Arwed der Anweisung seines Vaters schleunigst nachzukommen.


    ÷ ÷ ÷


    So saßen sie beim ersten milchigen Zwielicht längst wieder im Sattel. Kaum zwei Meilen nachdem sie die Flussau hinter sich gelassen hatten, gab der sich lichtende Laubwald den Blick auf eine dunstige mit Buschwerk und einsamen Baumgruppen bestandene Ebene frei, an deren Rändern sich die Waldhügel bis zum Horizont zurückzogen. Der schmale Pfad mündete in einen unebenen Weg, der sich von Osten her in nördlicher Richtung durch die trübe Landschaft wand. Rechts des Weges, fast verborgen von dunkeln Wacholderbüschen, zeichneten sich bei genauerem Hinsehen die Umrisse zweier regloser Gestalten ab, in denen Arwed beim Näherkommen ihre verschollen geglaubten Mitreisenden erkannte. Seelenruhig saßen die beiden auf ihren Pferden, hoben kurz die Arme zum Gruß und übernahmen dann nach einer gemurmelten Unterhaltung mit Thrasea wieder die Nachhut.


    Arwed registrierte dies alles mit schweigender Verwunderung. Nicht zum ersten mal fragte er sich, was das eigentlich für merkwürdige Vögel waren, die der Römer da mit sich führte. Für Kaufleute oder Bedienstete waren sie zu ungehobelt, für Krieger zu schmächtig und zu schlecht bewaffnet. Wie auch alle anderen trugen die maulfaulen Einzelgänger lediglich einen langen Dolch am Leibgürtel. Damit ließ sich bei einem ernsthaften Kampf nicht viel ausrichten. Allein Halvor hatte sich seine Spatha umgegürtet, wie es sich für einen Sippenführer und ehemaligen Soldaten gehörte. Neun Jahre hatte er bei der Ala II Flavia pia fidelis Domitiana milliaria gedient, in eben jener Einheit, deren Präfekt sich nun weigerte, seine Söhne aufzunehmen. Hätte er damals die Dienstzeit beendet und das Militärdiplom erhalten, wäre Arwed wohl als römischer Bürger aufgewachsen. Die Nornen hatten es anders gewollt. Bei einem Scharmützel mit Aufständischen hatte Halvor Daumen und Zeigefinger der rechten Hand und somit seine Diensttauglichkeit eingebüßt. Neben seiner Ausrüstung und einer recht ordentlichen Abfindung war ihm von seiner Zeit bei der Auxilia nur die Freundschaft mit Thrasea geblieben. Wieder bei Thrasea angelangt, begannen sich Arweds Gedanken im Kreis zu drehen. Sextus Vedius Thrasea. Der geheimnisvolle Kaufmann und seine geheimnisvollen Begleiter. So lange er Thrasea kannte, und das war lange, eigentlich schon sein ganzes Leben, waren ihm immer wieder Zweifel gekommen, ob der Römer tatsächlich nichts weiter war, als ein Kaufmann und Pferdehändler, der mit seinem Freund dem Pferdezüchter oft für mehre Nundinae in den Wäldern verschwand, um Geschäften nachzugehen. Es war nur so ein Gefühl, sonst nichts, ein Gefühl allerdings, das er über die Jahre nie losgeworden war.


    Während Arwed seinen Gedanken nachhing wurde es Tag. Wirklich hell wurde es dagegen nicht. Eine aschgraue Kuppel aus zerfransten Wolken wölbte sich über das flache Land. Kein Sonnenstrahl drang durch, kein Lüftchen regte sich. Von Westen wurde dumpfes Donnergrollen vernehmbar, das den ganzen Morgen lang weder nachließ noch näher kam. Trockenes Buschland machte nicht minder trockenen Wiesen und Feldern Platz. Das braune Land beiderseits des Weges begann sich allmählich zu bevölkern. Schwitzendes Gesinde sichelte sich durch dürre Halme, verhärmte Mägde schleppten Joche mit Eimern und Körben auf die Felder. Die Reiter passierten brackige nach Schweinedung stinkende Tümpel, trabten an leer glotzenden abgemagerten Kühen vorbei, überholten rumpelnde Ochsengespanne, beladen mit Heu, Brennholz und Mist, geführt von griesgrämigen Knechten, die den Fremden misstrauische Blicke zuwarfen. Arweds Gemüt verfinsterte sich zusehends. Eigentlich hätte es ihm vertraut vorkommen müssen: die Feldarbeit, der Schweiß, der Dreck, die Mühsal, aber hier draußen auf der abweisenden Ebene unter diesem lichtlosen Himmel erschien ihm das alles plötzlich beängstigend fremd und zutiefst hoffnungslos. Jetzt wäre er für das übliche Geplapper seines Bruders überaus dankbar gewesen, aber von Ove kam kein Wort. Bald begann das drückende Schweigen ebenso an Arwed zu nagen, wie die triste Umgebung. Nach weiteren fünf, sechs Meilen verhaltenen Trabes durch lähmende Stille, brachte er sein Pferd schließlich auf Halvors Höhe.


    „Vater, verzeih die Frage, aber du erinnerst dich doch sicher, dass wir eigentlich nach Mogontiacum wollten? An den Rhenus. Mir scheint, dieser Weg führt uns direkt nach Utgard.“
    Halvor bedachte seinen Sohn mit einem dünnen Lächeln. „Interessante Gegend hier, nicht wahr?“
    „Interessant?“ wunderte sich Arwed, „Trostlos trifft es wohl eher.“
    „Ganz recht.“ bestätigte Halvor. „Und sehr aufschlussreich. Keine Bewässerungsrinnen, keine zusammenhängenden Anbauflächen, keine Fruchtfolge. Steinige Äcker, die so lange mit ein und derselben Feldfrucht besät werden, bis sie nur noch als Viehweiden taugen. Trockene Erde, karge Ernten, stumpfsinnige Schinderei jahrein jahraus. Was du da siehst, sagt so einiges aus.“ Arwed blickte sich trübsinnig um. „Und worüber?“
    „Über das Wesen der Stämme, die sich den Errungenschaften Roms verschließen. Was ist wohl lohnender? Ein Jahr voll bitterer Plackerei, in dem man dem ausgelaugten Boden gerade so viele Scheffel Getreide abtrotzt, um einigermaßen über den Winter zu kommen oder ein Raubzug? Auch bei den Askaleuda wird der kommende Winter sehr bitter werden, aber hier lauert eine Katastrophe. Was glaubst du, werden diese Sippen tun, wenn die Speicher schon zu Gilbhart leer sind? Sich dem Schicksal fügen und still verhungern?“
    „Wohl kaum.“ rmusste Arwed einräumen. Sie würden versuchen, sich bei den Nachbarstämmen zu versorgen oder gar in die römischen Provinzen vordringen. „Demnach sind harmlose Bauern und Handwerker nur so lange harmlos, wie ihre Familien zu essen haben.“
    „Ich sehe, du hast es verstanden.“ nickte Halvor ernst. „Die Trockenheit wird in Germania noch für erhebliche Unruhe sorgen. Ich gebe zu, dass das auch einer der Gründe ist, euch noch diesen Sommer in römische Dienste zu schicken. Ein klares Signal, auf wessen Seite wir stehen. Also keine Bange, wir sind hier schon auf dem richtigen Weg.“ Halvors dreifingrige Hand wies in Richtung Nordosten. „Siehst du das blasse graue Band, das dort auf die Hügelkette zuläuft? Das ist die Dubra. Sie wird uns geradewegs zum Moenus führen.“ Jetzt, wo sein Vater darauf deutete, sah Arwed es auch. Im trüben Dunst, zwölf, vielleicht auch fünfzehn Meilen voraus kamen die Schemen von bewaldeten Hügeln ins Blickfeld. Endlich. Trotz der Erleichterung, die sich augenblicklich in ihm ausbreitete, war Arwed von Halvors Antwort nicht restlos befriedigt. „Ja, ich sehe es, Vater. Nur .. die Dubra, der Moenus .. ist das nicht ein völlig unnützer Umweg? Der Rhenus liegt schließlich im Westen.“ Halvor sah Arwed mit einem unergründlichen Lächeln an. „Du kannst es wohl kaum erwarten, deinen alten Vater loszuwerden. Ob der Umweg sich am Ende als unnütz erweist oder nicht, liegt allein an euch.“ Wieder so eine kryptische Aussage, mit der Arwed nichts anzufangen wusste.

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    Je weiter sich die sieben verbliebenen Reiter von der Nordgrenze Raetias entfernten, desto klarer wurde Arwed, wie irrig seine bisherigen Vorstellungen von Germania Magna gewesen waren. Er hatte mit einer undurchdringlichen Wildnis gerechnet, nachtschwarz, leer und endlos. Nichts davon traf zu. Die Wälder waren dicht und düster, das schon, aber auch durchzogen von einem wenn auch grobmaschigen Netz schmaler Wege und Pfade, die wohl schon das alte Volk einst genutzt hatte. Leer war die angebliche Baumwildnis auch nicht. Auf ihrem Weg durch den Wald begegneten sie immer wieder irgendwelchen Menschen, meist einfachen Leuten, deren Vorstellungen von der Welt jenseits ihrer Gaue wohl ähnlich vage waren wie die Arweds. Auf junge Burschen trafen sie, die die Hausschweine ihrer Sippen im Waldboden wühlen ließen, auf schwarzgesichtige Köhler, die mürrisch und verbissen in ihren qualmenden Meilern herumstocherten, auf Fallensteller, Holzfäller, Jäger und Händler, sogar auf Römer, und damit hatte Arwed nun überhaupt nicht gerechnet. Im Grunde, musste er sich nach einigen Wegstunden eingestehen, unterschied sich diese Gegend gar nicht so grundlegend vom heimatlichen Grenzgau. Wenn man einmal von den deutlich schlechteren Wegen, den vergleichsweise riesigen Flächen an unbebautem Land und den weit größeren Abständen zwischen den Ansiedlungen absah. Ansonsten wechselten sich hier ebenso wie im Norden Raetias dunkle Wälder mit sonnendurchfluteten Fluren ab, felsige Anhöhen mit schattigen Waldschluchten, kahle einsame Hochweiden mit fruchtbaren Talsenken, in denen sich kleine Weiler und Gehöfte zwischen den Feldern versteckten. Ein Gefühl der Fremde stellte sich hier nicht ein. Vielleicht würde sich das im Verlauf der nächsten paar Tage noch ändern, einstweilen aber zog Arwed es vor, sich ganz seinen Eindrücken hinzugeben, und nicht weiter voraus zu schauen als bis zur nächsten Wegbiegung.


    ÷ ÷ ÷


    Die heißesten Stunden des Tages lagen hinter ihnen. Längst war die Cochara davon gekrochen, hinüber zu den westlichen Hügeln, die ihre länger werdenden Schatten auf die Reisenden warfen. Von Osten her hatte sich dafür ein anderer Fluss herangeschlichen, an dessen bewaldetem Ufer sich der Trupp nun entlang bewegte. Halvor ritt an der Spitze, gefolgt von Arwed und Ove, dann Ratnar mit dem Packpferd am Zügel, schließlich Thrasea und weit zurück, fast schon außer Sicht dessen seltsame Gefährten. Die Dämmerung senkte sich über das Tal. Aus dem Fluss erhob sich schwüler Dunst. Im Buschwerk zwischen den Bäumen begann es zu rascheln. Nager, Füchse und anderes Beutegetier vermutlich, das sich im Schutz der anbrechenden Nacht daran machte, seinen Hunger zu stillen.
    Auch Arwed war hungrig. Und er war müde. Gähnend blickte er auf ein paar dünne Rauchsäulen, die weit im Nordosten hinter den Baumkronen emporstiegen. Sicher ein Hof, an dessen Herdfeuer gerade Essen zubereitet wurde. So langsam, fand er, sollte sein Vater sich wirklich mit der Frage des Nachtlagers befassen. Wie viele Gehöfte hatten sie in den vergangen Stunden passiert? Zwei Dutzend? An einigen davon hatte Halvor die Männer halten lassen, um sich mit dem einen oder anderen Bauern zu unterhalten, um andere Höfe hatten sie dagegen einen weiten Bogen gemacht. Nun, wo es dunkel wurde, hielten sie sich fern von jeglicher menschlichen Ansiedlung. Für Arwed machte das keinen rechten Sinn. Für Ove ganz offensichtlich auch nicht. Noch bevor Arwed dazu kam, Halvor darauf anzusprechen, vernahm er die quengelnde Stimme seines Bruders hinter sich.


    „Vater.? Wie lange soll das heute noch werden? Meinst du nicht, wir sollten uns allmählich nach einem Nachtquartier umsehen?“ Halvor spähte angestrengt nach vorn. „Sechs Meilen flussabwärts zieht der Jagas eine Kehrtschleife. Einen besseren Lagerplatz können wir uns nicht wünschen.“ Ove entgegnete nichts, grummelte aber leise vor sich hin. Halvor hatte gute Ohren. „Was ist, hast du Angst vor Trollen?“ brummte er beiläufig über die Schulter, ohne den dunklen Pfad aus den Augen zu lassen. Arwed grinste. Ove wirkte gekränkt. „Natürlich nicht! Ich dachte nur, wir könnten in einem der Höfe unterkommen.“
    „Nein. Heute nicht. Morgen.“ Ove ließ sich damit nicht abspeisen. „Heute nicht aber morgen schon? Das versteh ich nicht so ganz.“
    „Ehrlich gesagt, ich auch nicht, Vater.“ pflichtete Arwed seinem Bruder bei. Halvor stieß einen langen Seufzer aus, drehte sich aber noch immer nicht zu seinen Söhnen um. „Wir sind hier nicht mehr unter Askaleuda. Die meisten Sippen in dieser Gegend sind Nachkommen des alten Volkes, Vangionen, Narister und anderes versprengtes Pack. Die sind auf die Stämme der Suebi nicht gerade gut zu sprechen. Besser wir halten Abstand und bleiben unter uns. Wenn wir uns ran halten, erreichen wir morgen nach Mittag gastfreundlicheres Gebiet.“ Das klang einleuchtend. Trotzdem hielt Arwed die Vorsichtsmaßnahme für etwas übertrieben. „Aber Vater, das sind hier doch nur harmlose Bauern und Handwerker. Denen ist die Gastfreundschaft sicher eben so heilig wie uns.“ Halvors Entgegnung fiel kryptisch aus. „Ach Junge, du siehst einen Stier mit gestutzten Hörnern und hältst ihn für eine Milchkuh.“ Darauf gab es wenig sinnvolles zu sagen, also ließ es Arwed dabei bewenden und kämpfte weiter gegen die Müdigkeit.


    Als sie die Flussbiegung endlich erreicht hatten, waren Thraseas Männer verschwunden, was weder den Römer noch Halvor besonders zu beunruhigen schien. Arwed war zu müde, um weiter darüber nachzudenken. Seine ganze verbliebene Energie verbrauchte sich dabei, das Pferd zu versorgen. Ove und Ratnar ging es nicht anders. Mit steifen Knochen führten die jungen Männer die Reittiere zur Tränke an den Fluss hinunter, füllten frisches Wasser in die Lederschläuche, tranken, zogen sich aus, wuschen sich und plantschen noch eine Weile im kühlen Strom herum.
    Schließlich vom Flussufer zurückgekehrt mussten sie beschämt feststellen, dass bereits alles hergerichtet war. Ihre Mäntel lagen ausgerollt auf dem Moos, daneben ihre Bündel, die Sättel am Kopfende. Im Boden steckte eine Fackel, davor war Brot und Käse auf einem Tuch ausgebreitet. Eigentlich wäre das alles ihre Aufgabe gewesen.
    Halvor und Thrasea fläzten grinsend auf ihren Lagern, jeder einen vollen Trinkschlauch vor der Brust, in dem sich garantiert kein Tropfen Wasser befand. Ove und Ratnar machten sich gierig über das Essen her, Arwed legte seinem Pferd eine Decke über und ließ sich erschöpft auf seinen Mantel fallen. Sein Hunger war weg. Vielleicht war er auch zu müde, um Appetit zu haben oder einfach nur zu faul zum Essen. Jedenfalls fühlte er sich für diesen Tag restlos bedient. Er schloss die Augen. Wie durch einen Nebel hörte er Thraseas dunkle Stimme. „Hoffentlich habt ihr die Gäule nicht in den Fluss kacken lassen. Ich will mich noch waschen.“ Arwed hörte sich selbst kichern. „Doch, klar. Wir haben selbst auch noch rein gekackt. Schlimm?“ Thrasea erhob sich lachend und schlurfte mit schweren Schritten an Arwed vorbei dem Flussufer zu. „Was solls. Ist hier sowieso dunkel wie im Bärenarsch.“ Schmunzelnd nahm Arwed Thraseas breiten Schatten vor seinen geschlossenen Augenlidern wahr. „Übrigens. Wo ist eigentlich dein schweigsames Gefolge hin?“
    „Die sehen nach dem kleinen Trupp harmloser Bauern und Handwerker, der schon seit Sonnenuntergang neben uns her schleicht.“ Thrasea verschwand summend in den Büschen. Arwed riss die Augen auf und starrte zu seinem Vater hinüber. Halvor nickte ihm langsam zu. „Du musst noch eine Menge lernen, Junge.“
    In dieser Nacht schlief Arwed unruhig und traumreich.

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    Wie es beschlossen war, geschah es auch. Noch ehe die ersten Sonnenstrahlen an den westlichen Hängen hinunter gewandert waren, verließen zwanzig Reiter und vier Packpferde die langgezogene Siedlung an der Dalslang. Das kurze Wegstück bis zur Straße am östlichen Talsaum legte die Kolonne gemeinsam zurück, dann teilte sie sich. Walram und Wiborg schlugen mit ihren Männern den Weg flussabwärts nach Süden ein, die Schar von Notger und Halvor folgte der von den Romani erst jüngst verbreiterten Talstraße nach Norden. Arwed schmollte. Während Ove unentwegt quasselnd neben Halvor her ritt, um ihn mit Fragen zu löchern, ließ sich Arwed demonstrativ zurückfallen. Fragen hatte er auch, einen ganzen Kopf voll, nur wollte er Halvor spüren lassen, dass er ihm seine Unaufrichtigkeit noch längst nicht verziehen hatte. Sicher würde sein Vater ein halbes Dutzend guter Gründe vorbringen, die die Alten dazu bewogen hatten, ihre wahren Pläne bis zur letzten Nacht vor den Jungmannen geheim zu halten, und möglicherweise war der eine oder andere Grund sogar ganz einleuchtend, aber Arwed wollte trotzdem nichts davon hören. Einerseits brannte er natürlich eben so wie alle anderen darauf, zu erfahren, wohin die Reise ging und bei welcher Einheit sie am Ende landen würden, andererseits spielte es jetzt, wo der Traum von der Ala Secunda Flavia geplatzt war, keine große Rolle mehr, in welchen Winkel des Imperiums es sie verschlug. Fremde unter Fremden würden sie ohnehin sein. Ein Blick auf die vollgepackten Lasttiere genügte, um sich klar zu machen, dass sie nicht nur eine knappe Tagesstrecke vor sich hatten.


    ÷ ÷ ÷


    Es wurde hell, es wurde heiß und es wurde anstrengend. Arwed ging schnell auf, dass es keine besonders gute Idee gewesen war, sich in der Kolonne so weit nach hinten zu begeben. Von den achtundvierzig Hufen, die monoton über den trockenen Boden stampften hatte er nun zweiunddreissig vor sich, und der aufgewirbelte Staub drang unerbittlich in sämtliche Körperöffnungen, die nicht von der Kleidung verhüllt wurden. Die Augen brannten, die Ohren juckten, die Nase klebte und die Zunge fühlte sich an wie geräuchert. Hustend wandte Arwed sich um. Hinter ihm trabte nur noch die Nachhut gemächlich durch die Morgenhitze, bestehend aus Thrasea und seinen beiden wortkargen römischen Begleitern. Denen machten die Staubwolken offenbar nicht viel aus. Erstaunlich, da die Romani ansonsten einen schon fast lächerlichen Hang zur Reinlichkeit hatten. Thrasea machte sogar einen ziemlich gut gelaunten Eindruck unter der hellbraunen Dreckkruste. Als er Arweds Blick auffing, trieb er sein Pferd an und schloss auf. „Was soll die Trauermiene? Hier, Junge. Spül mal durch.“


    Mit geübtem Handgriff löste Thrasea einen prall gefüllten Lederschlauch vom Sattel und hielt ihn Arwed unter die Nase. „Trocken schmeckt der Staub nur halb so lecker.“ Arwed war sich einen Moment lang unschlüssig, ob er sein vorwurfsvolles Schweigen auch Thrasea gegenüber aufrecht erhalten sollte. Immerhin war er der engste Freund seines Vaters und ging ganz selbstverständlich überall dort hin, wo sich auch Halvor aufhielt. Belogen jedoch hatte Thrasea ihn noch nie. Nach kurzem Zögern nahm Arwed den Wasserschlauch. Wasser war das zweifelsfrei nicht, stellte er nach dem ersten Schluck fest, kostete dann nochmal und nochmal. Nein, das war süßsauer, dickflüssig und ausgesprochen süffig. Mit einem anerkennenden Nicken gab er den Schlauch zurück. „Wein?“
    „Selbstverständlich. Was sonst.“ grinste Thrasea und nahm seinerseits einen tiefen Schluck. „Das Wasser den Gäulen, den Romani der Wein.“ Ungewollt huschte ein Schmunzeln über Arweds Gesicht. „Und den Barbari die Pisse. Richtig?“ Mit einem rauen Lachen patschte Thrasea seine Pranke freundschaftlich auf Arweds Schulter. „Na also. So gefällst du mir schon besser, Junge.“ Dann wurde der Römer wieder ernst. „Hör mal, Lucius. Es ist nicht recht von dir, deinen Vater für die Umstände verantwortlich zu machen. Caius hätte euch auch lieber bei der Flavia untergebracht. Euch alle miteinander. Es geht nur nicht.“ Arwed schnaufte vernehmbar. Lucius. Caius. Thrasea nannte die Askaleuda immer und ausschließlich bei ihre römischen Namen, was Arwed grundsätzlich nicht all zu sehr störte, nur hätte er sich manchmal schon gewünscht, der Römer ließe den Wurzeln seiner nichtrömischen Freunde ein klein wenig mehr Respekt angedeihen.


    „So? Und warum nicht? Ich dachte, es sei alles längst mit Präfekt Falcidius abgesprochen. Und wieso darf ausgerechnet Walrams Blase dort Dienst tun, und wir nicht? Die Bauerntölpel sprechen doch nicht mal vernünftiges Latein.“
    „Wie kommst du darauf, dass Walram seine Leute nach Aquileia führt?“
    „Na, wen hat denn der Rat nach Süden geschickt? Die Absprache mit dem Präfekten gilt doch wohl für uns alle, und nicht nur für diese drei Holzköpfe.“


    Nachdem er erneut herzhaft durchgespült hatte, verzurrte Thrasea den Schlauch wieder am Sattel. Einen Augenblick schien er mit sich zu hadern, rang sich dann aber dazu durch, Arwed mit den Antworten zu versorgen, die eigentlich sein Vater ihm hätte geben sollen.
    „Da liegst du leider falsch, Lucius. Keiner von euch Jungen wird heimatnah stationiert. Walrams Gruppe ist auf dem Weg nach Vindonissa im Südosten von Germanica Superior. Praefectus Falcidius ist an den Kalenden abberufen worden, und Cossutius Catus, sein Nachfolger, will nach eigenen Worten keine Schar hungriger Suebi durch den Winter füttern, deren Eintritt in die Auxilia erst für den nächsten Frühling vorgesehen war. Ganz abwegig ist der Standpunkt nicht, wenn man bedenkt, dass die Verpflegung seiner Ala zu einem Großteil aus Erzeugnissen des Umlandes gedeckt wird, und wie es nach diesem katastrophalen Sommer mit der Ernte aussehen wird, weißt du selbst. Keines der kleineren Castella, weder in Aquileia noch in Celeusum nimmt vor dem Frühjahr neue Rekruten auf. Deswegen werdet ihr auf mehrere große Standlager verteilt. Wiborgs Schar reitet nach Noricum. Notgers Trupp begleitet uns noch ein Stück und biegt dann nach Westen ab, in Richtung Argenturatum am Rhenus. Auch du, Ove und Ratnar werdet euren Dienst am Rhenus leisten, allerdings viele Meilen weiter nördlich in der Garnison von Mogontiacum. Zunächst aber werden wir uns nordwärts halten, durch Germania Magna auf den Moenus zu. Caius und ich haben bei Virtibriga Geschäfte zu erledigen. Erzstangen, Tuch, vor allem Pferde. Du weißt schon. Wie immer eben. “


    „Sicher. Pferde. Wie immer eben.“ antwortete Arwed verwirrt. Im Moment interessierten ihn die Geschäfte seines Vaters herzlich wenig. Was Thrasea ihm gerade dargelegt hatte, wollte erst einmal verdaut werden. Mogontiacum. Gehört hatte er schon einmal davon. Wenn er sich recht entsann, lag das wohl irgendwo in der Mitte der Perlenkette, wie Halvor das schier endlose Band von römischen Städten und Befestigungen nannte, das sich vom Westen Raetias bis hinauf an die eisige See wand. Dort oben war es sicher arschkalt und stinklangweilig. Vielleicht würde die Umstellung für die Askaleuda ja auch gar nicht so schwer werden wie befürchtet, denn hier unten war es zwar sauheiß aber ebenfalls stinklangweilig.
    „Und wie lange werden wir unterwegs sein?“ fragte er schließlich kleinlaut. Thrasea wischte sich den Schweiß von der breiten Stirn und schlug diese dann nachdenklich in Falten. „Drei Tage würde ich sagen. Wenn das Wetter mitspielt. Wenn nicht, können es auch vier Tage werden. Die alten Handelswege durch die Wälder von Germanica Magna sind längst nicht so gut ausgebaut wie die römischen Straßen am Rhenus. Zudem ist es weiter nördlich längst nicht so trocken wie hier. Ein schwerer Gewitterschauer und die Pferde stehen bis zu den Fesseln im Matsch.“ Arwed nickte resigniert. Deshalb auch die Menge an Proviant auf den Lasttieren.


    Eine gute Stunde ritten Arwed und Thrasea schweigend neben einander her. Die Kolonne durchquerte den seichten Oberlauf der Cochara, zog an braunen Wiesen und verstreut liegenden kleinen Gehöften vorbei, schlängelte sich träge zwischen den bewaldeten Hügeln hindurch wie eine satte Blindschleiche. Staub und Hitze machten Pferd wie Reiter zu schaffen. Sogar Ove war mittlerweile verstummt. Arwed hatte seinen Blick auf den schwankenden Rücken Halvors geheftet. Mit jeder Meile, die sie zurücklegten schmolz sein Trotz weiter dahin. Wie lange sollte er noch schmollen? Die nächsten drei, vier Tage? Die ganze Wegstrecke lang? Wie lange, und vor allem, wozu? Wenn es sich wirklich so verhielt wie Thrasea gesagt hatte, war Halvor kein Vorwurf zu machen. Außerdem wusste niemand, ob oder wann Arwed seinen Vater wiedersehen würde, wenn er erst einmal bei der Auxilia verpflichtet war. Und Halvor war ein guter Vater. Ein so strenger wie gütiger Vater. Es wurde Zeit, mit den Albernheiten aufzuhören und sich der Zukunft zu stellen.
    Als hätte er Arweds Gedanken erraten, hieb ihm Thrasea plötzlich klatschend auf den Oberschenkel und deutete auf die Spitze eines Wachturms, die hinter einer sanften Hügelkuppe zum Vorschein kam. „Schau. Da drüben, gleich nach dem Turm endet Raetia. Wirf noch einmal einen Blick zurück, wenn du willst, aber dann schau nur noch nach vorn. Und nun ab an die Seite deines Vaters, wo du hingehörst. Ich hab was mit den Wachsoldaten zu bereden.“
    Noch bevor Arwed sich für den Zuspruch bedanken konnte, war Thrasea davon galoppiert, gefolgt von seinen berittenen Schatten. Auch Arwed drückte seinem Pferd die Knie sanft in die Flanken und trieb es zwischen die Reittiere Oves und Halvors.
    „So, da bist du.“ stellte Halvor lakonisch fest. „Muss ich dir jetzt auch nochmal alles haarklein erklären?“
    „Nein, Vater. Ich weiß bescheid.“


    ÷ ÷ ÷


    Kurz darauf hatten die Reiter die Weggabelung erreicht. Von hier aus machte die breite staubige Straße einen weiten Bogen nach Westen. Nach Norden zweigte ein weit schmälerer und steinigerer Weg ab, nach Osten führte nur ein besserer Trampelpfad. Links der Cochara schimmerten die Wälle des römischen Vorpostenlagers durch den lichten Wald, auf einer Anhöhe thronte ein hölzerner Wachturm, vor dem sich Thrasea angeregt mit zwei Posten unterhielt. Die Askaleuda saßen ab, tranken ein paar Schlucke und warteten. Arwed und Ove nutzten die Zeit, um sich von ihrem Freund Isbert zu verabschieden, der mit seinem Onkel Notger und dessen Söhnen die Straße nach Westen nehmen würde. Über all dem lag etwas zutiefst unwirkliches als geschähe es in einem Fiebertraum. Keinem fielen die passenden Worte ein. Alle wollten es nur noch hinter sich bringen, wollten weiter, wollten weg von dieser glühend heißen Lichtung, So ging auch alles gespenstisch schnell, als Thrasea mit seinen Begleitern endlich vom Turm zurückkehrte. Notger und Halvor gaben das Zeichen zum Aufbruch, die Jungmannen stemmten sich in die Sättel und kaum waren die Pferde richtig in Trab gebracht, hatten sich die beiden Gruppen schon aus den Augen verloren. Arwed befolgte Thraseas Rat. Er blickte stur geradeaus. Hinter den flimmernden Feldern warteten himmelhohe dunkle Wälder, kühl und schattig, und auf einmal war er glücklich darüber, dass sein Vater diesen Weg gewählt hatte.

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    Schon die ganze Nacht hindurch flackerte ein schwacher Feuerschein vom Huwanhnella auf das finstere Flusstal hinab. Die Häupter der Askaleuda hatten sich bereits am Abend auf dem Gipfel des geweihten Felsens zum Thing zusammengefunden und berieten dort nach endlosen Stunden noch immer. Sehr zum Leidwesen des guten Dutzends Jungmannen, das am Fuß der schroffen Klippe ebenfalls schon seit der Abenddämmerung angespannt darauf wartete, hinzu gerufen zu werden. Einige der jungen Männer hatten sich zwischen die Sträucher gelegt und dösten still vor sich hin, andere versuchten, ihrer Aufregung Herr zu werden, indem sie herumbalgten wie Hundewelpen, was auf dem nachtdunklen Waldhang gar nicht so ungefährlich war. Wieder andere, darunter Arwed und sein Bruder Ove, hatten sich vorsichtig den steilen Pfad ein Stück empor geschlichen, um wenigstens ein paar Fetzen von dem aufzuschnappen, was dort oben besprochen wurde. All zu viel bekamen sie nicht mit, weil die dunklen Stimmen der Männer von Bäumen und Büschen gedämpft nur noch als dumpfes Gemurmel bei ihnen ankamen. Also krochen sie immer weiter hinauf, bis sie plötzlich von schweren Schritten aufgeschreckt wurden und das zuckende Licht einer Fackel auf sich zu tanzen sahen. Die unfolgsamen Lauscher machten sofort kehrt, versuchten sich möglichst lautlos den Pfad wieder hinunter zu stehlen, kamen aber nur ein paar tastende Schritte weit, bis der Lichtkegel sie erreicht hatte.


    „Beim Iuppiter! Hat man euch nicht eingeschärft, unten zu warten!“ polterte es rau über den Hang. Die Flüchtenden erkannten die Stimme und blieben abrupt stehen. Arwed stieß ein erleichtertes Keuchen aus. Der breitschultrige Fackelträger, der den Pfad herunterkam, war keines der strengen Sippenhäupter, sondern Thrasea, der römische Vertraute seines Großvaters und langjährige Freund seines Vaters. Von Thrasea hatten sie nichts zu befürchten. „Nun bleibt schon hier. Ihr sollt raufkommen. Also ab! Ich hol derweil den Rest von euch Helden.“


    Als Arwed zum ersten mal in seinem Leben den Thingplatz betrat, brauchte es ein paar erschrockene Atemzüge, bis er in dem hell erleuchteten Riesen, der reglos hinter dem Feuer stand, seinen Großvater Baltram erkannte, das Oberhaupt der Askaleuda. Allerdings hatte dieser hoch aufgeschossene Mann, der einen gigantischen Schatten auf die hinter ihm stehenden Gestalten warf, nicht viel mit dem gutmütigen Geschichtenerzähler gemein, den Arwed kannte und liebte. Dort stand kein gebeugter alter Hofherr, sondern ein aufrechter Krieger in den besten Mannesjahren. Während Arwed allmählich die verschatteten Gesichter der anderen Anwesenden unterscheiden konnte, Notger, Goswin, Walram, Swidger, Wiborg, sein Vater Halvor, der Gode Throals und die Völve Dankrun, hatte Thrasea auch die übrigen Jünglinge eingesammelt und auf den Platz geführt. Baltram blickte eine Weile gedankenverloren ins Feuer und wandte sich dann mit ernster Stimme an die Neuankömmlinge. „Söhne der Askaleuda. Der Morgen ist nicht mehr fern. Wenn Sol ihren Wagen über die östlichen Hügel gelenkt hat, werdet ihr uns verlassen.“


    Arwed runzelte verwundert die Stirn. Um ihnen das mitzuteilen, hatten man sie also die ganze Nacht lang warten lassen? Das war doch alles längst besprochen. Die Bündel waren gepackt, die Pferde ausgesucht, was sollte das ganze?


    „Die Götter haben uns kein gutes Jahr gewährt. Der Sommer ist heiß und trocken wie seit meiner Kindheit nicht mehr. Ihr seht es selbst. Die Dalslang führt kaum noch Wasser. Die Halme dörren auf den Feldern und das Vieh leckt den blanken Staub von den Weiden. Kaum ein Dutzend Männer und Weiber wird es brauchen, um die erbärmliche Ernte einzubringen.“


    Nur mühsam gelang es Arwed, seine Ungeduld zu zügeln. Ja, sicher, sie sahen es selbst. Seit Brachet hatte es nicht mehr geregnet. Tagtäglich musste das Wasser von der Quelle der Dalslang auf die Felder hinaus gekarrt werden. Die Rinder waren von der Hochebene wieder ins Tal zurückgerieben worden, wo das Gras zwar nicht grüner war, aber wenigstens die Viehtränken gefüllt werden konnten. Gewiss, das war eine ernste Sache aber beileibe keine Neuigkeit. Die Alten würden schon damit fertig werden, wenn sie ihre Zeit nicht mit endlosen Versammlungen verschwendeten. Er hielt nicht viel von diesen steifen alten Riten. Der kalte Ernst, den die Sippenhäupter dabei zur Schau trugen, war ihm immer ein wenig unheimlich gewesen. Außerdem hasste er lange Abschiede. Die Mütter hatten ihre Söhne bereits gesegnet und ihnen das Gepäck zusammengestellt. Wozu also noch einmal feierlich verkündigen, was ohnehin seit Wochen das Hauptgesprächsthema auf den Höfen war? Besser sie ritten zeitig los, um die kurze Frische der Morgenstunden zu nutzen.


    „Dankrun hat Wentruz gesehen. Früh wird er kommen, lange bleiben und uns mehr nehmen als wir haben. Deshalb müsst ihr gehen. Nicht im Winnemanod, wie all die jungen Krieger, die euch vorangegangen sind. Nein. Heute. Eure Bestimmung kennt ihr seit langem. Ihr seid auf diesen Tag vorbereitet worden. Nun ist er da. Wenn auch vor der Zeit. Rom verlangt seinen Tribut und es soll ihn erhalten. Die Askaleuda stehen zu ihrem Wort, wie sie es immer getan haben. Schon zu Zeiten Askans, als unser Volk den Norden durchwanderte ...“


    Arweds Geduld drohte endgültig zur Neige zu gehen. Was jetzt kam, kannte er bereits, und nicht nur er, jeder kannte die Geschichte der Askaleuda und ihrer weisen Herren. Kein Talbewohner, ob Herrschaft, Gesinde oder Unfreier, der nicht noch im Halbschlaf sämtliche Namen der alten Stammeshäupter hersagen konnte. Baltram würde sie trotzdem wieder einmal alle aufzählen, einen nach dem anderen: Askan den aus der Esche Geborenen, Feind des Drusus, Flüchtling, Geläuterter, Friedensstifter, Stammvater der Askaleuda. Dann Guntwin, den Wanderer, der den Stamm bis herunter an die Dalslang geführt hatte. Gefolgt von Imbert dem Pferdeherren und schließlich Baltram dem Römer. Arwed konnte auf eine stolze Ahnenreihe zurückblicken, und das hatte er all die Jahre auch immer getan, jedes mal, wenn sein Großvater davon angefangen hatte. Mittlerweile hingen ihm diese ganzen Geschichten zum Hals raus. Jeder, wirklich jeder, zwischen Cochara und Danuouwe wusste, dass sich die Häupter der Askaleuda schon seit hundert Jahren an die einst geschlossenen Verträge mit Rom hielten und jede Generation ihr Kontingent an Söhnen in römische Dienste geschickt hatte. Warum Baltram trotzdem immer wieder darauf herum ritt, war Arwed ein Rätsel.


    „Die römischen Speicher sind voll. Den Romani droht im kommenden Winter keine Not. Sie werden für euch sorgen. Wir können es nicht. Nicht nach einem Jahr wie diesem. Ihr werdet den Samen des Stammes, die Kraft und den Ruhm der Ahnen aus unserem Gau hinaustragen unter die Schwingen der Adler, denn ihnen gehört die Zukunft. Die Zeit im Schatten der Aska endet für euch mit dieser Nacht.“


    Aus dem Gau hinaus? Unsinn. Was redete Baltram denn da? Das Castellum der Ala Secunda Flavia lag nur eine knappe Wegstunde südlich, kein Grund also, sich in schwermütigen Abschiedsreden zu ergehen. Natürlich, die jungen Männer würden das Dorf an der Dalslang so schnell nicht wiedersehen, wahrscheinlich erst nach dem Ende ihrer Grundausbildung, aber die berittenen Patrouillen, die alle paar Tage durch das Tal trabten, würden sicher Nachrichten und Grüße überbringen, es ging schließlich um ihre künftigen Kameraden. Und, wer weiß, vielleicht war es den Sippenhäuptern sogar erlaubt, ihren Söhnen einen Besuch abzustatten.


    „ .. sollte der eine oder andere von euch eines fernen Tages wiederkehren, wird er das Leben durch die Augen eines Römers betrachten. Ich werde nicht mehr da sein, um euren Blick auf die Ahnen zu lenken. Das ist der Gang der Dinge. Darum nutzt den Weg in die Fremde, um noch einmal den Geist weit zu machen für die Welt eurer Väter. Erfüllt eure Pflicht. Fürchtet weder Mensch noch Tier und hinterlasst eure eigenen Zweige in der Krone der Esche. Jeder Hofherr wird die Seinen ein Stück des Weges begleiten. Walram wird nach Süden ziehen, Halvor nach Norden, Notger nach Westen und Wiborg nach Osten. So ist es beschlossen.“


    Mit einem unguten Gefühl in der Magengrube horchte Arwed auf. Nach Norden? Aber da war nichts! Ein paar Höfe, ein schwach besetzter römischer Vorposten, sonst nichts. Er war schon ein paar mal dort gewesen, das letzte mal im Frühjahr. Ove, Vater und er hatten die Spur eines verwundeten Ebers verfolgt, durch das ganze Tal hinauf, über die Cochara bis zu den Wällen des Römerpostens. Nördlich davon gab es nur Wald. Dunkel wie die Quellkluft der Dalslang, hoch wie der Huwanhnella. Was sollten sie da? Roden?
    Obgleich die aufkeimenden Fragen fast mit Händen greifbar über den Köpfen der nervösen Jungmannen zu schweben begannen, hatte Baltram seinen Worten offenbar nichts mehr hinzuzufügen. Bekümmert nickend trat er ein paar Schritte zurück und überließ seinem Platz am Feuer dem Goden, der nun mit einem langen Bündel aus Eschenzweigen in der einen und einem Metkrug in der anderen Hand zu den Flammen schlurfte.


    Ove war ebenfalls unruhig geworden und wisperte abgehackt über Arweds Schulter. „Was meint Großvater damit? Wieso ist er nicht mehr da? Wieso gehen wir nicht zusammen? Wo sollen wir denn jetzt eigentlich hin? Meint er weit weg? Ich versteh das nicht.“ „Still!“ zischte Arwed zurück. Noch hatte der Gode sein Ritual noch nicht einmal begonnen, und so lange er zugange war, hatte keiner den Mund aufzutun, schon gar nicht einer der Jungen. Aber Ove gab keine Ruhe, zerrte so lange am Mantel seines Bruders, bis Arwed sich nicht mehr anders zu helfen wusste als Ove gegen den Fußknöchel zu treten. „Lass das! Vater wird uns alles erklären.“ Noch ehe das letzte geflüsterte Wort seinen trockenen Mund verlassen hatte, spürte Arwed bereits den strengen Blick Halvors auf sich und blickte mit verkniffenen Mundwinkeln zu Boden. Halvor brauchte ihn gar nicht so missbilligend anzustarren. So wie sich die Dinge nun darstellten, hatte er Arwed belogen, Arwed, Ove, womöglich auch ihre Mutter und ihre Schwestern. Alle hatten sie gelogen, alle wie sie da im Halbkreis hinter dem Feuer standen.
    Ja, vorbereitet waren die jungen Männer, da hatte Baltram wahr gesprochen. Sie alle wussten schon seit langer Zeit, dass sie dazu bestimmt waren, sich dereinst der Auxilia anzuschließen, um am Ende ihrer Dienstjahre das zu erhalten, was ihren Vätern bislang verwehrt geblieben war: Das römische Bürgerrecht. Nicht einer war unter ihnen, der mit dieser Bestimmung gehadert hätte. Die allermeisten, so auch Arwed, brannten geradezu darauf, die Enge des Tales für ein paar Jahre zu verlassen, um zusammen mit Brüdern, Vettern und Freunden im nahen Aquilea Dienst zu tun. Gemeinsam, so hatte man sie glauben lassen, würden sie das Kriegshandwerk erlernen und das Grenzgau gegen alle drohenden Gefahren verteidigen. Sie in alle Windrichtungen zu zerstreuen und sie an Orte weit jenseits der Welt ihrer Väter zu schicken, wie Baltram hatte durchblicken lassen, davon hatte niemand je gesprochen.


    Der alte Throals war unterdessen dabei, das Zweigbüschel mit zittriger Hand über das Feuer zu halten bis fahler Rauch von den versengten Blättern aufstieg. Dann goss er einen großzügigen Schwall Met über die glühenden Zweige, wirbelte das qualmende Bündel über sein weißes Haupt und erhob ein gutturales Gebrüll, von dem keiner der Anwesenden auch nur ein Wort verstand. Selbst wenn einer davon Throals altertümlichen Dialekt beherrscht hätte, wäre ihm der Wortsinn dennoch verborgen geblieben, weil der Gode schon seit Urzeiten keinen einzigen Zahn mehr zwischen den Kiefern hatte und ihm bei jedem Laut der Speichel in hellen Fäden aus dem Mund sprühte. Unbeirrt spuckte und schrie sich Throals weiter durch sein bizarres Ritual, von dem Arwed Mangels tieferer Kenntnis einfach mal annahm, dass es sich an die Nornen richtete und die scheidenden Krieger deren Schutz überantworten sollte.
    Wieder hielt der Gode die Zweige in die Flammen, wieder löschte er den Brand mit Met, diesmal jedoch schlenkerte er das triefende Bündel keifend in Richtung der Sippenhäupter, die so in den Genuss eines feinen Metregens kamen. Zurück am Feuer stolperte Throals über seine eigenen Füße, landete funkenstiebend in der Glut, rappelte sich aber sofort wieder hoch und wiederholte das Ritual erneut. Den Zweiten Schauer ließen die ehrenwerten Männer noch über sich ergehen, als Throals aber zum dritten mal mit den tropfenden Zweigen auf sie zuwankte, trat Baltram mürrisch vor, drehte den Goden einmal um die eigene Achse und schob ihn energisch auf die Jungmannen zu, aus deren Reihen inzwischen gedämpftes Kichern drang. Throals focht das nicht an. Völlig durchdrungen von seiner heiligen Handlung schüttete er den Rest des Mets über das verkohlte Zweiggewirr und bespritze die grinsenden jungen Gesichter mit schwarzer Brühe. Anschließend taumelte der Gode murmelnd zur Feuerstelle zurück, setzte sich umständlich auf den Boden und rührte sich fortan nicht mehr.


    Auf dem Huwanhnella kehrte Stille ein. Alle Augen waren auf Throals gerichtet, aber der glotzte nur irritiert in den leeren Krug. Arwed wischte sich die dunklen Metschlieren von der Stirn. Ove räusperte sich gedehnt. Die anderen scharrten nervös mit den Füßen oder kämpften erfolglos gegen das Gähnen an. „Mir scheint, das Ritual ist beendet.“ brach Thrasea endlich das verlegene Schweigen. „Ich werde euch zurück ins Dorf begleiten. Eure Väter haben noch ein paar Dinge zu besprechen bevor sie nachkommen. Also, folgt mir.“ Fragen oder Wortmeldungen waren offenbar nicht vorgesehen, ohne ein weiteres Wort der Erklärung setzte sich Thrasea mit erhobener Fackel in Bewegung. Die jungen Askaleuda trotteten ihm ergeben hinterher den Pfad hinab.


    Bei den ersten Hütten angekommen machte der Römer Halt. „Ihr solltet jetzt die Pferde fertig machen. Vielleicht legt ihr euch auch noch eine Hora ins Heu und versucht, etwas zu schlafen.“ Arwed stapfte schweigend an Thrasea vorbei auf die Ställe zu. Schlafen? Jetzt? Das sollte wohl römischer Humor sein.

    Ich bin Arwed, ein romanisierter Barbar aus dem Nordosten, der sich gerne unter seinem römischen Namen Lucius Fraxinus im Reich umsehen möchte.


    Name: Lucius Fraxinuns
    Stand: Peregrinus
    Wohnort: Mogontiacum