Beiträge von Eldrid

    Sein Blick war merkwürdig. Sie wusste nicht recht zu sagen, ob er ihr Schauer über den Rücken jagte, oder ob sie ihn beflügelnd finden sollte. Obschon sie in der Dunkelheit nur wenig erkennen konnte, besaß er eine enorme Intensität, die auf Eldrid in der momentanen Situation entweder Tapferkeit und Mut auszudrücken vermochte - oder einfach nur schieren Wahnsinn. Es war wohl ganz gut, dass sie nicht die leiseste Ahnung hatte, wer die 'Gens Claudia' war - sicherlich so etwas wie sein Stamm oder sein Dorf. Mehr fiel ihr dazu eher nicht ein, sie hatte sich nie für die - wenn auch nicht einmal sonderlich alte - Geschichte Roms interessiert. Ansonsten würde sie wohl eindeutig den Wahnsinn in seinem Blick wähnen.
    Noch während sie, beinahe ein wenig fröstelnd, darüber nachdachte, was sie von ihm halten sollte, beobachtete sie, wie er sich allmählich auch von den Fußfesseln befreite. Das war der ausschlaggebende Eindruck, der nun auch Eldrid wieder in die Realität zurückholte. Auch sie machte sich unverzüglich daran, ihre Fesseln zu lösen, ehe er doch noch auf die Idee kam, sie bei diesen Sklavenhändlern - oder was auch immer sie wirklich waren - zurückzulassen. Ihre Gedanken glitten zu ihren Brüdern; was sie wohl gerade denken würden, wenn sie das alles sehen könnten? Ob sie stolz auf sie wären? Oder enttäuscht? Sie hasste den Gedanken, ihre Brüder zu enttäuschen und obschon es keine Rolle spielte, was sie dachten, wenn sie so weit von ihnen entfernt war, orientierte sie sich im Geheimen doch immer mal wieder an ihnen. Weit mehr, als an ihren Eltern.


    Als sie völlig frei war, rieb sie sich kurz die Hand- und Fußgelenke; es war ein gutes Gefühl. Vor allem, weil sie sich einreden konnte, dass es dieses Mal für lange anhalten würde, sofern ihnen denn die Flucht glückte. Mit nur ein wenig Glück und Zuversicht würde sie in wenigen Minuten wieder die Brise der Freiheit um sich spüren. Sie wäre frei, wieder nach Hause zu gehen. Wie, das wusste sie nicht, aber sicherlich würde er ihr dabei helfen - er hatte es schließlich versprochen? Ja, irgendwie würde er das tun, auch wenn sie selbst nicht ganz sicher war, wie. Es war ein weiter Weg und er würde sie kaum persönlich nach Hause bringen. Wie sie sonst heimkommen sollte, das wussten allein die Götter. Allein würde sie es wohl nicht schaffen, ganz unabhängig davon, wie mutig und ausdauernd sie war. Ohne alle Mittel und Orientierung würde sie nach einigen Tagen wohl verhungern, erfrieren oder sich gnadenlos verirren, bis sie vor Schwäche einfach umfiel. Sie konnte recht kreativ sein; vielleicht diente sie auch einem ausgehungerten Wolf als kleine Zwischenmahlzeit? Sie traute sich zu, sich zu wehren und hielt sich für willensstark und fähig - aber nicht so sehr, als dass sie diese Reise allein bewältigen könnte. Das wäre einfach nur unvernünftig. Es blieb also nichts, als sich auf sein Wort zu verlassen.
    Aufgewühlt hielt sie sich dicht hinter Marcus, dessen andere Namen sie schon längst wieder vergessen hatte - wieso hatten Römer eigentlich überhaupt immer so viele Namen? Das war ihr schon oft aufgefallen und entbehrte irgendwie jedem Sinn. Er hätte sie jedenfalls nicht dazu auffordern brauchen, hinter ihm zu bleiben.


    Ein wenig mehr Abstand hielt sie dann doch, als es zu den Kampfhandlungen kam. Sie mochte keine rohe Gewalt, auch wenn den Germanen diese immer so gern nachgesagt wurde. Eldrid selbst war recht friedliebend. Sicherlich wäre sie hierzu nun auch imstande gewesen, um den Weg in die Freiheit beschreiten zu können, aber mögen tat sie es deshalb nicht. Mit heftig klopfendem Herzen beobachtete sie, wie ihr Begleiter den Dolch in die Brust seines Gegners rammte, ehe ihr Blick sich dann auf die Männer im Hintergrund richtete. Sie hatte keine Zeit, dem Sterbenden beim Sterben zuzusehen.


    "Marcus." machte sie leise, ehe sie dann erheblich lauter noch einmal rief: "Marcus!!" - Auch er hatte es inzwischen bemerkt, logisch. Während sie aber noch wie erstarrt für einige Sekunden nur da stand, schaltete es in seinem Kopf erheblich schneller. Er schnappte nach ihrer Hand und genau diese Bewegung war es nun, die auch Eldrid ein weiteres Mal wachrüttelte. Sie ließ sich nicht lange bitten und rannte hinter ihm her, so schnell es nur ging. Er war schon ein ganzes Stückchen schneller, das merkte sie daran, wie sehr er an ihr zog und zerrte - doch sie konnte eben nichts daran ändern. Er hatte längere Beine, trug nicht so einen langen, unpraktischen Rock wie sie und war vermutlich außerdem ausgebildet. Vermutlich war er Krieger oder sowas? Panik ließ sie zusammenkrampfen, Angst, dass die Männer hinter ihr ebenso schneller waren. Sie wagte nicht, nach hinten zu sehen. Dann geschah es: sie stolperte. Allein schon bedingt durch den Abhang strauchelte sie erst ein paar große Schritte, ehe sie gänzlich den Halt verlor und stürzte...

    Sie spürte, wie er sich nun, erheblich resoluter als sie noch kurz zuvor, daran machte, ihre Fesseln zu lösen. Sie hatte durchaus Angst, das merkte sie und würde sie auch nicht leugnen können. Auch ihr Herz pochte so kräftig in ihrer Brust, dass sie glaubte, es würde die Flucht jeden Moment durch sein Gepumpere an die Banditen verraten. Im Grunde war das nicht möglich, aber der Glaube daran, dass es einfach schiefgehen musste, machte sie wahnsinnig nervös. Sie konnte nur hoffen, dass der Römer in dieser Sache anders gewickelt war als sie, sonst würden sie sich wahrscheinlich schon vor dem Ausgang der Höhle wieder freiwillig ergeben.
    Oder? War es nicht dumm, so feige zu sein? Wären ihre Brüder nicht auch ein wenig enttäuscht von ihr? Ihr Vater? Vielleicht führten die Mattiaker schon länger keine ernsteren Kämpfe mehr, vor allem nicht ihr Dorf, aber war das ein Grund, nun feige den Kopf in den Sand zu stecken? War nicht auch in ihr das Blut ihrer Vorfahren, die sich stets zur Wehr setzten? Hatte die römische Zivilisation in der Nähe sie schon derart verweichlicht, wie Sarolf ihr möglicherweise vorwerfen würde?
    Nein! Das würde sie nicht zu lassen. Entschlossenheit legte sich in ihren Blick und sobald sich die Fesseln gelöst hatten, half sie mit, ihre Hände zu befreien. Sie war sehr schmal gebaut, an jeder Stelle ihres Körpers und es war ihr ein Leichtes, ihr Handgelenk aus der Schlinge zu ziehen. Vielleicht machte ihre Statur sie manchmal auch etwas anfällig für Unfälle, aber Krankheiten suchten sie dennoch nur selten heim. Sie war robuster als es den Anschein machte.


    "Germanien." erwiderte sie recht knapp, weil sie schon recht gut wusste, wie ein Römer sich orientierte. So zivilisiert war sie eben doch - aus römischer Sicht betrachtet. "Vom Stamm der Mattiaker. Mein Dorf ist nahe von Mogontiacum entfernt." Sie fand den Begriff noch immer fremdartig, obwohl sie ihn schon so viele Male gehört und gesprochen hatte. Dass sie die Tochter des Rich war, ließ sie vorerst aus. Sie vertraute dem Römer nur so sehr, wie sie es in diesem Moment musste; alles Weitere würde sich dann eben noch zeigen.
    Kurz überlegte sie, ob er aus Rom stammte. Er war ein Römer und vom Bauchgefühl her kam ein Römer eben aus Rom. Die Einfältigkeit des Gedankenganges brachte sie aber selbst beinahe zum Lachen. Er konnte sonst woher kommen; es gab inzwischen auch genügend Germanen, die sich selbst als Römer betrachteten.


    "Was jetzt?" flüsterte sie zu ihm und achtete auf jedes Geräusch, das in ihren Ohren irgendwie verräterisch klingen könnte. Ob irgendjemand schon mitbekam, was hier lief? Sie hatte Angst davor; auch Angst, dass ein missgünstiger Mitgefangener sie nun lautstark verriet...

    Eldrid mochte vieles sein. Manchmal konnte sie unbedacht irgendwo hinein platzen, unbedachte Äußerungen von sich geben oder auch einfach nur der Tagträumerei so sehr nachhängen, dass sie eine Anrede verpasste. Was sie aber nicht war, das war grundsätzlich ungeschickt und längst nicht so unintelligent, wie sie manchmal wahrgenommen wurde, nur weil sie manchmal etwas verträumt schien. Sie konnte sich ungemein auf Dinge konzentrieren und gerade etwas, das Fingerfertigkeit von ihr verlangte, fiel ihr in aller Regel fast schon in den Schoß. Nun war die hiesige Situation ein wenig anders. So sehr anders, dass sie sich in einem Ausnahmezustand befand. Ihre Handflächen wurden schwitzig, obschon ihr alles andere als warm war und insgesamt fühlte sie sich so ausgelaugt und matt, dass sie kaum wusste, ob sie gleich laufen könnte. Es gab glücklicherweise durchaus einige Stunden am Tag, an denen sie ungefesselt sein durfte; von ihr war nun aber auch wenig Gefahr zu erwarten, allein schon, weil sie so geschwächt war.


    Ohne seine Worte weiter zu honorieren suchte sie weiterhin vorsichtig und konzentriert nach einem Anfang in dem Knoten an seinen Händen. Sie ließ sich weder von ihrem inneren Stresslevel sonderlich beeinflussen, noch von den Gesprächen der Entführer. Ihr Auge war quasi nach innen gerichtet, ebenso wie ihre Ohren. Bei den Göttern, war der Mist fest zugeschnürt. Mit verdrehten Händen einen Anfang zu finden war alles andere als einfach, doch nach wenigen Minuten vorsichtigen Bearbeitens spürte sie dann doch, wie der Strick allmählich nachgab und sie immerhin die erste Schlaufe schon einmal lösen konnte.
    Erleichterung und Triumph machten sich in ihr breit und dämpften gleich auch noch ein wenig die Angst, erwischt zu werden. Ihr Fokus konzentrierte sich immer mehr auf ihr 'Handwerk'. Die nächsten Schlaufen durchwand sie wesentlich schneller und geschickter. Wie sollte es auch anders sein? War der Anfang erst einmal gemacht, ging es fast immer schnell. Ein grimmiges Lächeln lag auf ihren Zügen, eines, das niemand sah - und nicht einmal sie selbst so richtig registrierte.


    "Was machst du, wenn es nicht klappt?" fragte sie dann, während auch der Römer wohl langsam spürte, wie sich der Druck auf seine Handgelenke löste. Sie ließ von ihm ab, aus dem Rest könnte er sich problemlos selbst befreien. "Sagst du dann, wer du bist oder wählst du die Folter? Oder den Tod?" wisperte sie. Und - was würde sie dann tun? Sie hatte keine Ahnung, wie wertvoll sie tatsächlich für diese Männer war und ob sie sich daran erinnerten, wenn sie erst einmal von Wut erfüllt waren.

    Augenblicklich fühlte sie sich ein wenig dumm, als er recht unvermittelt zurückfragte, was sie im Einzelnen meinte. Seine Frage klang weniger als eine Frage, sondern eher wie ein Vorwurf. Ein Ausspruch der Verwunderung über ihre eigene Blindheit und Naivität - aber vielleicht war sie da auch einfach nur ein wenig zu empfindlich? Römer waren häufig recht arrogant, so jedenfalls war ihr persönlicher Eindruck, der bislang meistens auch auf persönlichen Erfahrungen beruhte. Gleichwohl empfand sie Römer längst nicht als so perfide und bösartig, wie ihr Bruder Sarolf sie oft Glauben machen wollte, aber ein Kernchen Wahrheit steckte in den ganzen Gerüchten eben doch.
    Sie war allerdings doch recht froh, dass sie sich für ihre unbedachte Frage nicht sofort gerechtfertigt hatte, als sie dem Römer bis zum Ende lauschte. Kurzum: er ging aus Stolz durch dieses Martyrium. Es war die Frage, wie weit er wohl noch zu gehen gedachte? Sie hatten ihm bereits recht deutlich die Folter angedroht und, ehrlich gesagt, zweifelte Eldrid auch nicht daran, dass diese Männer ihre Drohungen auch in die Tat umsetzen würden. Würde er ihnen vorher schon stecken, wer er wirklich war, oder würde er auch das über sich ergehen lassen, nur, um sich nicht zu blamieren?


    Irgendwie verstand sie ihn. Sie verstand, dass er sich darüber schämte, in die Hände dieser schmutzigen Gestalten geraten zu sein. Auch ihr war es irgendwie sehr unangenehm, bedachte man eben ihre Herkunft und auch die Hilflosigkeit, in der sie sich befand. Sie hätte daran aber eben auch rein gar nichts ändern können. Jeder für sich besaß vermutlich schon mehr Kraft als sie und dann waren sie auch noch in der Mehrzahl gewesen - was hätte sie schon tun können?
    Wenn er, so wie sie, auch eine recht gute Abstammung hatte empfand er es sicherlich mindestens ebenso; nur, dass Männer eben noch einmal eine wesentlich stärkere Position innehatten als Frauen. Er hätte also auch als Mann irgendwie versagt. Ja, ein wenig verstand sie ihn. Aber würde er wirklich bis zum Ende gehen, nur um sein Versagen vor keinem eingestehen zu müssen?


    Mehr als ein verstehendes Brummen ließ sie nicht hören. Kurz darauf sah und hörte sie, wie er näher an sie heranrutschte. Sie selbst war intuitiv fast geneigt, im selben Moment von ihm abzurücken - aber sie fühlte sich dafür einfach zu schwach. Was könnte er ihr schon tun? Er war ebenso gefesselt wie sie und vermutlich wollte er einfach nur noch leiser mit ihr sprechen können, so, dass wirklich niemand etwas von ihrem Gespräch mitbekäme. Also unterdrückte sie den Reflex des Zurückweichens und blieb einigermaßen ruhig sitzen.


    "Eldrid." entgegnete sie recht wortkarg auf seine Vorstellung hin. Marcus also. Irgendwie hießen die alle irgendwie Marcus - oder Titus. Sie fand die Römer alle reichlich fremdartig, aber sollten sie doch. Denen ging es vermutlich nur geringfügig anders, wenn sie über ihr Volk nachdachte, oder viel eher über die vielen germanischen Völker, die sich in ihren Grundfesten durchaus das eine oder andere Mal deutlich unterschieden.
    Ziemlich eindeutig und zügig offenbarte er ihr seinen Plan, was sie doch etwas überraschte. Er wollte, dass sie die Fesseln löste. Sie hatte keine Ahnung, ob sie das mit ihren recht eingeschnürten und mittlerweile auch schwachen Händen bewerkstelligen könnte - und noch weniger zweifelte sie daran, dass sein Plan aufgehen würde, selbst wenn es nicht an ihr scheiterte. Die anderen waren schließlich immer noch erheblich in der Überzahl. Warum aber nicht versuchen? Sicher, es konnte schlimmer kommen. Zu fragen, was schon noch passieren könnte, wäre naiv. Immerhin lebte sie noch und hatte Aussicht, dass dieser Zustand noch eine Weile anhalten würde. Nun stand aber auch eine erhebliche Verbesserung im Raum.


    "Du wirst mir doch auch helfen, oder?" wisperte sie leise zurück, während sie sich schon herumdrehte, ohne groß Zeit zu verschwenden. Sie gab sich Mühe, dabei sehr leise zu sein, um bei wirklich niemandem Aufsehen zu erregen. "Ich weiß nicht, was du vorhast, aber alles ist besser, als zu warten. Nur - sie haben dich schon einmal überwältigt, oder nicht? Warum sollte es jetzt anders sein, wo du allein bist und vermutlich ähnlich hungrig wie ich..." erkundigte sie sich mit leiser Stimme und fand ihre Bedenken durchaus berechtigt. Sie hatte dennoch bereits seine Fesseln ertastet, um ihn zu befreien. Sie saßen straff und vermutlich noch ein wenig straffer, weil er häufig versucht hatte, sich aus ihnen zu lösen. Ebenso wie sie. Trotzdem wollte sie von ihm noch überzeugt werden; nur Zeit verlieren, das wollte sie trotz ihrer Zweifel nicht. Sie hatten keine Zeit für lange Diskussionen.

    Träge schaute Eldrid in Richtung des Höhleneingangs; tagaus und tagein. Jedenfalls solange sie innerhalb der Höhle war, was nun seit wenigstens einer der Woche der Fall war. Warum, das wusste sie nicht so richtig. Sie wusste auch nicht richtig, ob ihr das nun recht war oder nicht. Vorher hatten sie eine ziemlich lange und beschwerliche Reise bestritten, von der ihr noch heute die Füße wehtaten. Sie hatte oft laufen müssen und hatte Schwielen an den Sohlen. Manchmal, wenn sie nicht mehr konnte, dann durfte sie auch mal auf einen der Esel, aber dann war sie auch wirklich schon nahe am Ende. Einige Tage ruhen zu können war eine echte Wohltat, zumal auch das Wetter empfindlicher wurde. Sie trug noch immer genau die Sachen, mit denen sie damals 'aufgebrochen' war. Ein schlichtes, an den Schultern durch Fibeln zusammengehaltenes, dunkelblaues Kleid unter welchem sie noch ein leichtes, leinenes Unterkleid trug, um die Schultern vor kühlerem Wind zu schützen; im heißen Sommer würde sie dieses wohl fortlassen. Selbiges galt im Übrigen für ein etwas älteres Wolfsfell, dass sie auf ihren Schultern trug und sie durch die nächtliche Kälte auf der Reise bestens gerettet hatte. Sicher hatte sie trotzdem zuweilen ziemlich gefroren, wenn der Wind an ihrer Kleidung zerrte, aber es war ein massiver Trost gewesen. Ein Geschenk ihres Bruders - es war mittlerweile schon einige Jahre her. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, dass er ihn gejagt hatte. Eine lange Geschichte.
    Sicherlich, sauber und besonders heile war ihre Kleidung inzwischen nicht mehr und insbesondere der strenge Geruch nach Schweiß störte Eldrid enorm. Germanen waren alles andere als schmutzig, so wie die Römer es gern darstellten. Im Moment entsprach sie wohl dennoch dem klischeebeladenem Sinnesbild einer Germanin. Sie zog sich das Fell etwas fester um die Schultern und doch, sie würde schon ganz gerne einmal wieder an die Sonne kommen. Vielleicht war es hier nicht ganz so ungastlich wie draußen, aber es war trotzdem kühl und zuweilen etwas zugig. Die feuchte Luft drückte allmählich auf ihr Gemüt. Sie waren nun seit ein paar Wochen unterwegs und überhaupt hatte sie den Eindruck, verlernt zu haben, wie man aufrichtig lachte.


    Was es in den letzten Tagen zu beobachten gab, das hatte sie auch beobachtet. Gesprochen hatte sie nicht. Sie war noch nie allzu geschwätzig gewesen, was auch in ihrem Dorf durchaus geschätzt wurde. Sicherlich war sie dazu fähig, Konversation zu pflegen, aber sie konnte auch still sein, wenn es nichts zu sagen gab. Es gab erstaunlich wenig Menschen, die dazu wirklich in der Lage waren. Die anderen taten ihr leid, auch wenn sie sie nicht kannte. Auch wenn sie aber ein empathisches Wesen mit ausreichend Mitgefühl besaß, so tat sie selbst sich doch fast noch immer am meisten leid. Sie wollte wieder nach Hause zurück, zu ihrer Familie. In ihr bekanntes Terrain. Von dort brachte man sie fort und sie hatte recht schnell begriffen, dass eine baldige Rückkehr nicht geplant sein würde. Sie schien als Sklavin verkauft zu werden, an wen und wohin genau würde sich noch zeigen. Auch Germanen hielten Sklaven und das ganze Konzept war ihr natürlich nicht fremd - doch für sie selbst war das einfach nicht vorgesehen. Sie war immerhin die Tochter eines Richs und nicht irgendeine Vogelfreie, die man sich greifen konnte. Nicht einmal die Römer hätten damals Hand an sie gelegt. Als Mattiakerin bestand zwischen ihrem Stamm und den Römern ein ganz gutes Verhältnis. Vielleicht liebten nicht alle die Römer und auch sie selbst begegnete ihnen mit Misstrauen - aber trotzdem hätte keiner von ihnen sie einfach abgegriffen und in die Sklaverei gezwungen. Derzeit befand sie sich bei irgendwelchen Kriminellen, die nicht nur auf Recht schissen, sondern auch auf Anstand und Sitte. Sie behandelten die Menschen schlecht und Eldrid hatte rasch gelernt, sich einfach in ihren neuen Tag einzufügen, um bestmöglich durch alles zu gelangen. Unnötiger Aufruhr war im Grunde weniger ihr Ding, auch wenn sie innerlich alles andere als ruhig war. Es toste viel in ihr, aber es brachte eben nichts, es zu entfesseln. Es würde ihre Situation eher verkomplizieren.
    Irgendwann - und irgendwo - geriet sie sicherlich wieder unter zivilisiertere Menschen und dann würde sie zumindest versuchen, wieder nach Hause zu gelangen. Ihre Familie würde für sie zahlen - sie war wichtig. Nicht nur aus emotionaler Sicht, sondern auch aus politischer. Nicht unersetzlich wichtig, aber doch wichtig. Es musste einen Weg zurück geben. Das war der einzige Gedanke, an den sie sich festklammerte. Wenn sie nur die Chance bekäme, dann würde sie sofort zugreifen.


    Anders als dieser andere, merkwürdige Mann, den sie seit ein paar Tagen beobachten konnte. Er passte irgendwie nicht hierher und woran das lag, hatte sie auch direkt erkennen können. Er war einfach zu fein gekleidet. Ein Römer, wie man sehr schnell bemerkte - und damit ein weiteres Zeugnis dafür, dass sie sich bei diesem Gesindel sicherlich nicht in römischer Gesellschaft befand. Die würden doch kaum untereinander solche Methoden anwenden, oder doch? Vielleicht war sie manchmal zu naiv für diese Welt, aber vollkommen blöd war sie eben doch nicht.
    Sie hatte meist recht klar mitbekommen, dass man von ihm auch anderes erwartete, als von den anderen elendigen Gestalten. Er hatte das Privileg hier sofort rauszukommen, er müsste nur seinen Namen nennen. Sie verstand nicht, warum er es nicht tat. War er vielleicht ein Betrüger oder ein Hochstapler und fürchtete aufzufliegen? Sie investierte ziemlich viel Zeit in dieses Rätsel, aber dass er vielleicht einfach nur zu stolz war, um sich eine Niederlage einzugestehen, darauf kam sie einfach nicht. Ihre Brüder wären vermutlich ähnlich, aber... ihre Brüder waren auch ein ganz anderer Fall. Römer sah sie einfach aus gänzlich anderen Augen. Abgesehen davon war sie selbst nun schon lange genug in Gefangenschaft, um sich von ganzem Herzen so eine Chance herbeizusehnen. Sie hatte es am Anfang sogar versucht, aber die hatten sie nur ausgelacht. Sie und ihr Esel hatten tatsächlich nicht sonderlich viel von Wert mit sich geführt, nur die eigenen Leben und ein paar Waren für das Dorf. Eldrid war häufiger nach Mogontiacum gegangen um Waren zu tauschen. Sie hatten ihr gar nicht zugehört.


    Dann kam der Moment, in dem dieser merkwürdige Kauz sie ansprach; einige Tage war er nun sicherlich schon hier und noch immer stellte er sich quer. Sie sprach ihn nicht an, hatte etwas Sorge, dass sie dann Ärger mit den Banditen kriegen könnte. Nun aber würde sie seinen Versuch erwidern und sah ihn aus ihrem verdreckten Gesicht mit den müde wirkenden Augen an.


    "Nein." entgegnete sie dann erstaunlich geistesgegenwärtig. Sie verstand ihn nicht - auch wenn sie jedes Wort von ihm verstand. Sie sah sich kurz um, ehe sie leise weitersprach: "Ich verstehe deine Worte. Ich verstehe nicht, warum du nicht weggehst." Ihre Sätze im Lateinischen waren immer schon einigermaßen primitiv, aber trotzdem verständlich und keine völlige Katastrophe. Dass sie überhaupt das Lateinische sprach und verstand war nicht selbstverständlich - ein Römer würde sie wohl nicht verstehen, wenn sie in ihrer Muttersprache redete. Sie versuchte seinen Blick aufzufangen, aber in der Dunkelheit der Höhle war das gar nicht so leicht.

    Eldrid schaute Apolonia aus großen Augen und mit sichtlicher Überraschung an, als diese fragte, ob sie inmitten der Menschen etwas essen sollten. Es gab doch Garküchen, so nannten die Römer die Gelegenheiten. Sarolf und sie hatten dann und wann schon in einer gespeist. Da musste man doch nicht extra in eine Taverne gehen, um eine Kleinigkeit zu essen. Und man musste auch nicht mitten in der Menschenmenge ein Feuer entfachen!
    Dennoch folgte Eldrid erst einmal widerspruchslos dem Fingerzeig der eigentlichen Sklavin, von der sie nicht wusste, dass sie eine solche ist. Die Taberna Nigra, von dort aus sollte sie ihren Bruder sehen können.


    „Aber ich… Frowin darft da doch nicht rein. Und er… äh… hat Fisch. Schau…“ Eldrid öffnete einen der beiden dem Esel übergehängten Körbe, in denen gesalzener und somit haltbar gemachter Fisch lag, den sie heute verkaufen wollte, wenn es hart auf hart kam. Ein wenig Geld hatte sie freilich auch dabei. Germanen legten zwar keinen Wert auf Geld als Zahlungsmittel, doch die Mattiaker hatten sich schon längst an die Gepflogenheiten der Römer gewöhnt und betrieben Handel nach den Regeln und Gesetzen der römischen Verbündeten.


    „Wenn ihn jemand raubt…“ Ein vielleicht etwas zu starkes Wort, doch Eldrid wusste nicht, wie sie es besser formulieren konnte. Etwas zweifelnd und mit leicht gerunzelter Stirn blickte sie Apolonia an. Der Trubel um sie herum ließ allmählich wieder nach.

    Eldrid argwöhnte noch immer, obwohl die Fremde inzwischen ruhiger mit ihr umging und freundlich redete. Sie entschuldigte sich für ihren Ausbruch und stellte sich als Tadia Ticinia vor. Ja, sie war ganz offensichtlich eine Römerin, das hörte man schon am Klang des Namens. Auch das herrische Auftreten hatte allerdings hervorragend zu ihrer Abstammung gepasst. Auf die Idee, dass es sich um eine entlaufene Sklavin handeln könnte, käme Eldrid nicht einmal in einem düstersten Moment voll von Verschwörungstheorien.
    Als sie anbot, Eldrid zu einer kleinen Stärkung einzuladen, zögerte sie lange. Zuerst musste sie die genaue Bedeutung erst einmal verstehen - sie kam allerdings tatsächlich rasch zu dem Schluss, dass sie Rede von Essen sein musste. Zum anderen wog sie intensiv ab, was sie tun sollte, nachdem sie die Bedeutung erfasst hatte. Die Sache war die, dass sie nicht einfach vom Forum verschwinden konnte, ihr Bruder würde sie suchen. Möglicherweise vergeblich. Ja, und dann war da noch dieses merkwürdige Verhalten der Frau. Sie hasste Germanen, das hatte sie deutlich gemacht. Die nun eher beschwichtigend angelegten Worte, tilgten einfach nicht das aufgebaute Misstrauen.


    "Oh äh... Mein Bruder. Er kommt gleich mich holen." Eldrid lächelte scheu und mit einem entschuldigenden Blick. Wieder sah sie sich rasch um, sah viele auf den Knien. Sie verstand es nicht recht als Geste des Mitleids für die Seherin, sondern eher als tiefe Demut vor den Unterdrückern. Sie würde hier nicht knien, nicht vor diesen Römern. Frieden ja, aber sicherlich keine Demut. Selbst würde ihr eigener Stolz nicht so weit reichen - ihr Bruder würde ihr gehörig den Marsch blasen. Es war außerdem nichts ungewöhnliches, dass die Römer grausam waren, war jedenfalls die stark beeinflusste Eldrid der Meinung. Unaufrichtig und brutal waren Eigenschaften, die in ihrer Umgebung immer wieder für Römer gebraucht wurden.


    "Ich kann nicht von hier gehen, Tad... Ticina." Noch immer verstand Eldrid nicht so richtig, welcher Name bei den Römern der richtige zum Ansprechen war. Sie lachte etwas ungeholfen, aber freundlich auf. "Aber... wir können hier Stärkung essen, wenn du möchtest." Sie bemühte sich um große Höflichkeit. Mit Erfolg, wie sie fand!

    Eldrid begann sich zu erklären. Es war immer noch nicht ein Kinderspiel ihr zu folgen, aber dieses Mal kam Eldrid dennoch mit. Apolonia hatte von etwas gesprochen, das man schützen sollte. Es irritierte die junge Mattiakerin nun ein wenig, da Apolonia eben noch so schlecht von der Seherin gesprochen hatte, aber sie begrüßte es auch irgendwie. Es sprach dafür, dass die Frau doch noch nicht ganz so verschroben war, wie es eben zu befürchten galt.
    Oder doch? Plötzlich erhob jene ihre Stimme und wollte mit Nachdruck wissen, wer sie war. Völlig verdattert und aus Augen, die entfernt an eine Kuh bei Gewitter erinnerten, schaute Eldrid der Frau ins Gesicht. Was war denn nur los? War sie vielleicht verrückt?


    "Ahm... Ich..." Es wäre eigentlich sehr leicht gewesen, eine klare Antwort zu geben, doch in diesem Augenblick fiel es ihr schwer, sich zu sammeln. Was für ein überaus merkwürdiger Tag. "Eldrid... Ich bin Eldrid..." Sie stellte sich nun rasch vor, um die Frau nicht noch weiter zu provozieren, die schien immerhin wirklich ziemlich gefährlich zu sein. Verunsichert schmiegte sie sich unbewusst leicht an ihren Esel.


    "Ich... will nichts von dir. Du weißt noch... ich, ahm... will wissen, was hier... eh... passiert." Sie erinnerte sich noch an die eben erhaltene Korrektur von Apolonia und verwendete nun das richtige Wort. Verständnislos schaute sie der entflohenen Sklavin in die Augen, etwas hilflos. Was sollte sie nun noch sagen? "Ich... ich will kaufen Essen. Hier, in Mogontiacum." Mogontiacum sprach sie nur langsam und konzentriert aus, weil sie sich mit den vielen Kanten des Wortes häufig verhaspelte. "Und dann... das." Sie zeigte wieder nach vorn, immer noch reichlich verwirrt durch die vielen Eindrücke. War ihre Devotion vielleicht unnötig? War sie in Gefahr, oder war sie es nicht? Es fiel ihr schwer, dies einzuschätzen. In jedem Fall war sie gerade eine Fremde unter vielen Römern und dort vorn wurden Fremde hingerichtet, gefoltert. Wohl fühlte sie sich in keinem Fall.

    Ja doch, vernichten, von der Erde verschwinden zu lassen. Die Antwort, die Eldrid auf ihre Rückfrage hin erhielt, ließ sie fast zusammenzucken. Sie verstand jetzt schon, worauf die fremde Römerin hinauswollte. Sie schien ein ausgesprochen schlechtes Bild von den Germanen zu haben, zu denen auch Eldrid aus Sicht der Römer zweifelsohne zählte. Zweifelsohne und recht offensichtlich. Ihre Kleidung wirkte alles andere als römisch und auch ihr dunkelblondes Haar war recht verräterisch. Andererseits wollte sie ihre wahre Herkunft auch gar nicht verbergen. Das hatte wenig mit Stolz für ihre Abstammung zu tun; sie war einfach, als was sie geboren wurde. Sie war weder stolz, noch beschämt darüber, eine Mattiakerin zu sein. Es war einfach normal.
    Eldrids Blick traf ganz kurz wieder Apolonia. In ihm war eine deutliche Mischung aus Scheu und Abscheu zu erkennen. Der Hass mit dem die Frau gesprochen hatte, war ihr vollkommen unsympathisch und sie entschloss sich nun doch, ihren Esel zu nehmen und sich doch wieder davon zu machen. Schließlich musste sie noch Besorgungen machen und ihren Bruder aufsuchen.


    "Wie?" Die Worte hatte Eldrid gar nicht mitbekommen, aber die Tonlage sehr wohl. Die eben noch so hasserfüllt wirkende Frau hatte nun deutlich ruhiger etwas vor sich hin gemurmelt, von dem Eldrid nicht einmal sicher war, ob es für ihre Ohren bestimmt gewesen war. Nachgehakt hatte sie nun trotzdem, mit leicht gerunzelter Stirn.
    Vorn wurde die schwer misshandelte Frau nun wieder abgeführt. Luna. Einen flüchtigen Blick für diese hatte Eldrid noch einmal, aber dann versuchte sie diese auch schon wieder zu verdrängen. Es interessierte sie, was die Fremde eben wohl gemurmelt haben mochte.
    Dennoch wusste Eldrid, dass das Bild von der Seherin sie später wieder einholen würde. Und das vermutlich bedeutend öfter als nur einmal. Allein bei dem Gedanken überkam sie eine schwer lastende Befangenheit.

    Eldrid lauschte der Antwort Apolonias, wendete ihren Blick allerdings von der Römerin ab und schaute zu der herangeführten Seherin. Natürlich kannte Eldrid die Frau ebenso wenig wie die Geschichte, doch das hinderte sie nicht daran, dass Mitgefühl sie durchflutete. Mehr als nur unwohl wurde ihr, als man der Frau die Kleider vom Leib riss. Eldrid hatte keinerlei römischen Patriotismus in sich, wie könnte sie auch? Zwar verstand sie sich auch nicht als Germanin - sie war schließlich Mattiakerin und fühlte sich bestenfalls ihrer Sippe zugehörig und keinen völlig fremden Menschen - doch ihr Herz war in dieser Szenerie doch eindeutig eher bei Idun. Weniger, weil diese ebenfalls Germanin war, eine Klassifizierung der Römer, sondern weil sie eine Frau war.
    Es war einfach schrecklich, was sie ihr da antaten. Eldrid vermutete, dass hier ein Exempel statuiert werden sollte und kam nicht umhin, an ihren Bruder zu denken, der gerade bei einem Schmied war. Vielleicht war es besser, wenn er das hier nicht mit ansah. Zwar waren die Mattiaker sehr eng mit den Römern verbandelt und auch ihr Dorf zählte sich natürlich zu den Verbündeten. Sie wäre sonst kaum hier, in Mogontiacum. Dennoch war gerade der jüngere der beiden Brüder alles andere als ein Freund der Römer. Er lag sich häufig mit dem älteren Bruder und auch dem Vater in den Haaren. Probleme mit den Besatzern hatte es nicht gegeben, noch nicht, aber Sarolf wartete eigentlich nur auf eine passende Gelegenheit, um seiner Abneigung ein Gesicht geben zu können. Hier hätte er eine passende Gelegenheit und Eldrid beschlich die ungute Ahnung, dass er diese auch nutzen würde, wenn er hier wäre. Mochten die Götter geben, dass er sich noch ein wenig mit dem Schmied beschäftigte, denn sie liebte ihren Bruder und wollte nicht, dass er sich irgendeine Form von Ärger einhandelte.


    "Ausmerzen?" Es war eine ironische Sache, doch es war genau dieses Wort, das Eldrid nicht verstand. Auch der Rest fiel ihr zuweilen etwas schwer, da Apolonia nicht sonderlich langsam sprach und ein paar unbekannte oder wenigstens nicht völlig vertraute Worte in ihrer Rede auftauchten, wie beispielsweise 'Bann'. Auch bei Centurio musste sie einen Moment überlegen, wusste aber immerhin, dass es sich dabei um einen römischen Anführer handelte. Genau verstand sie die Hierarchien der Römer allerdings nicht. Was hätte sie schon auch davon? Sie waren Verbündete und nicht mehr. Nun, sicher war sie jedenfalls, dass es sich vor allem bei dem angefragten Wort nicht um etwas positives handelte. Vielleicht so etwas wie unterwerfen oder vertreiben?
    Ehe sie jedoch weiter nachdenken konnte, begann der Römer zu sprechen, der bei den germanischen Gefangenen stand und Eldrid schaute noch einmal intensiver in jene Richtung. Rom ist Ordnung. Rom ist das Gesetz. Sie runzelte ein wenig ihre Stirn - das verstand sie recht gut. Ihr Verdacht, dass hier ein Exempel statuiert werden sollte, erhärtete sich noch einmal. Unwohl kraulte sie dem Esel den Hals, von dem sie sich nun ein wenig Trost erhoffte. Den sie dann auch brauchte, denn die Frau, die Seherin, wurde brutal ausgepeitscht. Verstörung breitete sich in Eldrid aus, als sie das beobachtete, innerlich hoffend, dass ihr das niemals geschehen würde. Natürlich solidarisierte sie sich so sehr mit der Fremden, dass ihr die Frage in den Sinn kam, wie es mit ihr aussehen würde. Ob ihr das auch geschehen könnte und was ein passender Anlass dazu wäre. Sie war glücklicherweise eine freie Frau in einer Sippe, die mit den Römern verbündet war. Das machte es unwahrscheinlich, je selbst in so eine Lage zu gelangen. Trotzdem - das 'was wäre wenn' ließ sie nicht los. Tränen bildeten sich in ihren Augen, Verachtung in ihrem Herzen. Verachtung über diejenigen, die sich an dem Anblick der gedemütigten Frau dort oben auch noch erfreuten. So gerne würde sie ihr helfen, wenigstens die Blicke der Menschen von ihr nehmen, aber es gab gar nichts, das Eldrid gerade tun konnte.


    "Das ist... ahm... nicht gut." Ihre Bekundung musste mit einem recht geringen Wortschatz auskommen. Mit mitleidig gerunzelter Stirn und fast an ein Schmollen erinnernde, verzogene Lippen warf sie ihren Blick wieder auf die Frau, mit der sie sich gerade unterhalten hatte. "Das da." Eldrid deutete wieder nach vorn. "Das ist gemein. Er sagt, sie ist Seherin. Sowas soll man nicht machen... mit einer Seherin. Sie ist etwas..." Und wieder fehlte ein Wort. Ungeduldig fummelte sie an ihren Fingern herum, während sie in ihrem Kopf danach suchte. "Gutes. Nein, das ist nicht richtig... Teures." Damit wollte sie ausdrücken, dass sie etwas seltenes und besonderes war. Wieder sah sie nach vorn, wo die Bestrafung noch immer voran schritt und dieser grausame Mann weitere Worte an das Volk richtete. Eine Sklavin. Das Wort verstand Eldred auch ziemlich gut, sie sah oft Sklaven wenn sie auf dem Forum war und ihre Besorgungen machte. Das lateinische Wort fiel dabei häufig.
    Sie taxierte den Centurio sehr intensiv mit ihren Blicken, welcher sehr aufgebracht wirkte. Sie kannte nichts zu den Hintergründen, brachte nicht einmal überein, dass er es war, der verzaubert worden sein sollte - laut den Worten ihrer Gesprächspartnerin. Dennoch hatte sie den Eindruck, dass er von einem tiefen Hass geleitet wurde. Er hasste die Germanen... In ihr stieg der Wunsch auf, zu verschwinden. Sie sollte Frowin nehmen und einfach gehen. Sie wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln, blieb aber dann doch. Zu sehr war sie gebannt.

    Die Masse war ziemlich aufgebracht, das entging Eldrid zu keinem Augenblick. Viele brüllten wüste Beschimpfungen zu den in Ketten herbeigeführten Männern. Aus den Rufen und dem Getuschel um sich herum entnahm Eldrid, dass außerdem auch noch eine Seherin herangeführt werden sollte. Sie hatte von alledem nichts mitbekommen. Zwar hatte sie ihren Vater durchaus von Übergriffen reden hören, aber sie hatte nie näher gelauscht. Diese Dinge interessierten sie nicht. Sie mochte es nicht, von Gewalt und Krieg zu sprechen, auch wenn beides nicht so selten um sie herum vorkam. Diese Dinge waren glücklicherweise das Geschäft der Männer und sie musste sich darüber nicht den Kopf zerbrechen. Sie konnte Augen und Ohren verschließen, keiner würde ihr daraus einen Vorwurf machen.
    Es war nicht grundsätzlich so, dass sie keine Bereitschaft verspürte, sich auch über schwierige Themen Gedanken zu machen. Es wäre nur nutzlos, da sie ohnehin kein Mitspracherecht hätte und sie auch so keiner von sich aus über die Dinge informieren würde. Ihr Wissen fußte lediglich auf ein paar Randinformationen und Gerüchten, die sie dann und wann aufschnappte. Von einem Skandal – oder Problem – in diesem Ausmaß hatte sie bislang nichts wahrgenommen.


    Als neben ihr eine Frau laut zu krakeelen begann, zuckte Eldrid automatisch zusammen. Sie hatte sich erschrocken und warf nun einen fast vorwurfsvollen Blick zu jener Furie hin. Sie schimpfte etwas von Beherrschung eines Centurios und wünschte der Seherin mehr oder weniger die Pest an den Hals. Wirklich aufklären taten diese Worte die Situation noch immer nicht, aber diese Frau schien in jedem Falle mehr zu wissen als Eldrid selbst und sie entschloss sich, einfach einmal nachzufragen. Vielleicht wäre es besser, einfach wieder der eigenen Wege zu gehen und die hiesigen Ereignisse zu ignorieren, aber die Neugierde war aktuell einfach größer.


    „Ähm… entschuldig.“ Etwas unsicher wendete sich Eldrid an die ihr unbekannte Apolonia. Unsicher nicht, weil sie so schüchtern war, sondern weil ihre Sprachkenntnisse nicht die allerbesten waren. Sie verstand das meiste, wenn Römer mit ihr sprachen und konnte sich auch einigermaßen verständlich machen, aber einen wirklichen Unterricht mit Feinschliff hatte sie natürlich nie erhalten. Ihre Kenntnisse fußten allein auf dem praktischen Gebrauch bei ihren Besuchen in Mogontiacum. Sie war schließlich eine Germanin und hatte nicht so unendlich viele Möglichkeiten, ihre Lateinkenntnisse aufzufrischen, auch wenn schon einige ihres Dorfes zumindest ein Basiswissen besaßen. Dennoch, Eldrid musste sorgfältig über die gewählten Worte nachdenken und konnte nicht einfach drauflos plaudern. „Kannst du mir sagen, was hier passiert ist? Was ist mit den Männern... äh... passieren?“ Sie zeigte nach vorne, wo die Germanen standen. Dass sie Zeitformen – und nicht nur diese – durcheinanderbrachte, wusste sie natürlich nicht. Scheu lächelte sie Apolonia an.

    Es war bislang kein sonderlich frohes Jahr gewesen. Der Winter hatte recht gnadenlos in den Wäldern Germaniens grassiert und so manches Leben genommen. Das kam durchaus schon einmal vor. Mit der Zeit wurden die Nahrungsmittel schon auch mal knapp, die Temperaturen verursachten Krankheiten und das Leben war allgemein deutlich härter. Einzig das Jagen wurde grundsätzlich etwas erleichtert, weil die Sicht besser war - dafür konnte man allerdings auch nicht auf lange Züge gehen, da es einfach zu kalt war. Geriet man in ein starkes Unwetter, konnte das auch wieder von großem Nachteil sein und selbst ohne schlechte Wetterverhältnisse fror man. Meistens griffen sie auf Vorräte aus dem Sommer und dem Herbst zurück, die sie geschickt einlagerten, oft auch eingruben um sie vor schlimmster Witterung zu schützen.
    Wenn die Ernte allerdings nicht gut war, waren diese Vorräte auch schnell aufgebraucht. Wen ließ man hungern, wen nicht? Gab man allen gleich zu essen oder bevorteilte man die Menschen, die sich noch nützlich machen konnten? Das war alles nicht so einfach und Eldred war froh, dass sie solche Entscheidungen nicht fällen musste. Das war Sache ihres Vaters, dem Anführer ihrer Sippe, sowie in gewissen Teilen auch ihrer beiden Brüder Wigand und Sarolf. Eigentlich hatte sie einmal drei Brüder gehabt, der dritte jedoch, welcher nur unwesentlich jünger als sie gewesen war, war vor einigen Jahren gestorben. Es war in einem Frühjahr gewesen, als man glaubte, das Schlimmste überstanden zu haben. Da hatte er ganz viel gehustet, mitunter Blut. Ganz heiß war er geworden. Und eines nachts war er aus einem seiner fiebrigen Träume einfach nicht mehr erwacht. Sein Name war Einar gewesen. Und sein Name entsprach der Wahrheit; seinen letzten Kampf hatte er allein geschlagen. Das Leben konnte schon ironisch sein. Oder es waren die Götter, die voller Zynismus auf die Lebenden herabsahen.


    Nun, der heutige Tag jedenfalls war nicht so schlimm. Es war immer noch sehr kalt und Eldrid trug auf ihren Schultern einen wärmenden Pelz. Ihre Gangart wirkte wenig leichtfüßig, da sie in so schwere Kleidung angetan war. Der Frühling zeigte sich allmählich, einige Bäume begannen ihre Blätter zu entfalten. Dennoch befanden sich die Temperaturen noch immer nahe dem Gefrierpunkt und Eldrid fror leicht, wenn sie ehrlich war. Sie war meistens immer ziemlich dick eingekleidet. Als die Tochter des Dorfoberhaupts konnte sie sich das glücklicherweise auch erlauben. Groß war ihr Dorf nicht, nach diesem Winter noch ein wenig kleiner. Sie waren jetzt noch 37 Männer und Frauen, davon 8 Kinder und 5 Alte und Versehrte, die kaum mehr einen Nutzen brachten, dennoch aber aßen. Es waren jüngere, die im letzten Winter ihr Leben verloren. Ein Mädchen, das gerade einmal 8 Jahre alt gewesen war, ein erwachsener Mann der auf der Jagd von einem Wildschwein so schwer verletzt wurde, dass er den Wunden noch Tage später erlag und eine Frau - sie war an Krankheit verendet, ebenso wie das Mädchen. Beide hatten zuletzt hohes Fieber. Auch weitere Dorfbewohner erkrankten, doch sie schafften es die Krankheit zu überstehen.
    Aus Eldrids engster Familie wurde diesen Winter allerdings niemand zu den Göttern berufen. Ihnen allen ging es gut und dafür war sie aufrichtig dankbar. Sie lächelte Sarolf, dem jüngeren ihrer beiden älteren Brüder, munter zu.


    "Geh du nur zum Schmied und sieh ob du die Waffen ausgebessert bekommst. Ich versuche, Linsen und Erbsen zu bekommen." Vielleicht ja auch ein wenig Getreide. Zum Tauschen hatte sie Fisch dabei, den sie erst noch verkaufen müssten. Notfalls hatte sie auch noch geprägte, römische Münzen bei sich. Bei den Germanen spielte zwar Geld eigentlich keine Rolle, doch die Mattiaker, zu denen sie gehörte, waren mittlerweile dermaßen eng mit den Römern verbandelt, dass sie diese Währung durchaus angenommen hatten, um Handel mit dem Nachbarn und Verbündeten zu treiben. Es war nicht unbedingt einfach, Fisch zu verkaufen, denn die Römer hatten natürlich ebenfalls die Möglichkeit zu fischen. Dennoch hatten sie nicht viele Möglichkeiten, Eldrid stammte aus keinem reichen Dorf. Sie hatten keine Goldmine oder irgendetwas, das ihnen das Leben erleichtern würde. Sie mussten hart arbeiten. "Ist gut, Schwesterchen - wir treffen uns später auf dem Markt!" Anweisung des Vaters war eigentlich, dass sie zusammen blieben. Allein schon für Eldrid. Diese war allerdings weit weniger schüchtern und schwach als der Vater wohl glauben mochte und konnte schon gut auf sich aufpassen. Sehr gut. Die Sprache der Römer beherrschte sie besser als ihr großer Bruder, warum sollte sie also nicht allein ihr Glück versuchen?


    "Na komm schon, Frowin." meinte sie vergnügt zu ihrem Esel und zog ein bisschen an seinem Strick und strebte in Richtung Forum, wo der Markt stattfand. Frowin - den Namen hatte sie ausgewählt. Sie liebte den Esel heiß und innig. Viele sprachen zwar immer von dummen Eseln, aber sie war überzeugt dass er sogar sehr schlau war. Also hatte sie ihn einfach ihren 'klugen Freund' genannt. Dass er sich ein bisschen gegen die Richtung sträubte, mochte eine innere Eingebung des Tieres gewesen sein, denn...
    Eldrid platzte vollkommen ahnungslos in ein großes Getümmel. Der Esel blökte ein paar Mal laut und ließ sich nur schwerlich wieder unter Kontrolle bringen. Es gelang ihr aber letztlich. Und dann hatte sie Zeit, sich alles ein wenig zu besehen. Da waren Gefangene und viele Soldaten. Unruhig kraulte sie dem Esel den Hals, innerlich den tiefen Wunsch hegend, wieder zu gehen. Was wohl kommen würde? Waren das Sklaven? Die ganze Szenerie war viel zu... beklemmend. Sie sahen nach Landsmännern aus. Scheu sah sie sich um, versuchte Sarolf zu finden - aber der war natürlich beim Schmied... Sollte sie selbst auch gehen?
    Neugierde war es wohl, die sie hier hielt und wieder nach vorn blicken ließ.