Das Libysche Meer (Mare Libycum) war der große südliche Teil des Mittelmeers und reichte von Ost nach West von der Kleinen Syrte bis nach Alexandria und von Nord nach Süd von Kreta und der Südostspitze Siziliens bis zu den Küsten Afrikas. Auf ihrem Nordkurs in die Ägäis war die Astarte jetzt dabei dieses Meer zur Gänze zu durchqueren, nachdem es schon dessen ganzen südwestlichen Rand befahren hatte bei der Reise entlang der libyschen Küste. Doch damit war es jetzt vorbei. Vor ihnen lagen zwei Tage, wo sie nichts als den offenen Ozean auf viele hundert Meilen rund um sich haben würden. Davon hatte schon Mago während des Verbandswechsels unablässig geschwärmt an dem Abend des Tages, an dem sie den Hafen von Chersonesus Magna verlassen hatten und jetzt unentwegt von der Küste weggesteuert waren. Mago wurde nicht müde zu behaupten, dass eine Seefahrt erst dann wirklich begann, wenn kein Stückchen Land mehr am Horizont zu sehen wäre, sondern nur noch Yams* nasses Reich. Immer wieder ein erhebender Anblick, doch leider nichts für Nasica, wo der ja noch liegen bleiben musste.
Der erste Sonnenaufgang auf offener See glich einem kleinen Volksfest auf der Astarte. Überall strahlende Gesichter und die Matrosen sangen während der Arbeit phönizische und sogar griechische Seemanslieder. Selbst Methusastartos, Mister Griesgram persönlich, konnte sich ein Dauergrinsen nicht verkneifen und jedermann an Bord war guter Dinge.. jedermann bis auf zwei. Im Kielraum bediente ein trauriger kleiner Junge die Entwässerungspumpe, während unter Deck in einem hölzernen Verschlag ein frustrierter Passagier zum x-ten Mal die Maserungen von seiner Decke zählte. Was würde er nicht darum geben jetzt oben bei den anderen sein zu können und sich den Wind um die Ohren wehen zu lassen. Währenddessen hörte er die Mannschaft voller Begeisterung ein neues Lied anstimmen. Genervt verdrehte Nasica die Augen. "Euer Ernst?" murmelte er in den leeren Raum.
"Tut mir leid, ich kann auch gern wieder gehen."
Erschrocken fuhr Nasica in die Höhe und zuckte gleichzeitig zusammen vor Schmerzen. Mittlerweile konnte er sich zwar schon wieder halbwegs aufsetzen und den Kopf bewegen, doch das war ein wenig zu viel des Guten gewesen. "Abdemon! Was machst du denn hier?" Er sah, dass der Riese etwas unterm Arm geklemmt hatte. Er holte das Etwas hervor und hielt es in die Höhe, damit es Nasica näher in Augenschein nehmen konnte. Es war ein Senet-Spielbrett. "Ich dachte vielleicht freust du dich über ein wenig Abwechslung, ich wär gerade frei." Ein dankbares Lächeln stahl sich auf Nasicas Antlitz. "Abdemon, dich schicken die Götter! Ja! Gerne, ich freue mich über eine Partie Senet!" Abdemon hockte sich nieder und begann das Spiel aufzubauen. "Ah, die klassische Variante." bemerkte Nasica, als er sah, dass jeder von ihnen sieben Spielsteine bekam anstatt fünf, so wie das seit dem ägyptischen Neuen Reich modern geworden war. "Natürlich, was denkst du denn? Wenn schon, dann ordentlich!" Senet war ein beliebtes Spiel aus Ägypten. Es gab sieben bzw. fünf spulenförmige und sieben bzw. fünf kegelförmige Spielfiguren. Jeder Spieler bewegte sie auf einem rechteckigen Feld von drei Zehnerreihen s-förmig vom Start bis zum Ziel. Letzteres war es alle seine Steine vom Spielfeld zu nehmen indem man sie einmal durch das ganze Spielfeld brachte, unterwegs warteten jedoch auch Spezialfelder. Gewürfelt wurde mittels vier in die Luft geworfene plättchenförmige Stäbchen mit einer markierten und einer unmarkierten Seite. Gezählt wurden alle offen darliegenden unmarkierte Seiten. Die beiden begannen ihr Spiel und Abdemon machte den ersten Wurf. Eine Drei. Danach war Nasica an der Reihe und schaffte gleich am Anfang einen Wurf, bei dem alle vier Stäbchen die unmarkierte Seite oben hatten. Abdemon schnaubte amüsiert. "Was für ein Glückskind! Sowohl im Spiel, wie auch im Leben."
Jetzt war es an Nasica zu schnauben, wenn auch eher auf eine sarkastische Weise. "Glück würde ich das nicht nennen, so wie es mir gerade geht."
Abdemon würfelte und bewegte seine Figur weiter vorwärts. "Du kommst aus einer wohlhabenden Familie, hast eine glänzende Zukunft vor dir und nicht zu vergessen hast du erst kürzlich ganz alleine drei Banditen das Handwerk gelegt, wie würdest du das sonst nennen, hm?" "Ach das.." Lächelnd bewegte Nasica seine Figur nach vorne und tauschte sie mit einer von Abdemons aus. "He! Das war aber nicht nett. Aber ja du siehst ich habe Recht. Wie sieht es mit den Mädchen aus? Hast du eines zuhause?" Nasica lächelte breiter beim Gedanken an seine Penelope und Wärme umfing sein Herz. "Ja, das habe ich."
Abdemon kam mit einer Figur auf das 15. Feld, das mit einem Ankh und zwei Lotusblüten markiert war, dem Haus der Wiedergeburt. "Ha! Das heißt dann noch ein Wurf für mich." Alle Stäbchen zeigten die markierte Seite. "Oh, schade. Naja kann man nichts machen. Dein Mädchen, ist sie hübsch?" Nasica warf für seinen Zug und erhielt eine Zwei. "Ja, sie ist die schönste Frau von ganz Alexandria und wenn ich erst ein erfolgreicher Mann bin nehme ich sie zur Frau!" Er und Penelope würden eine Familie sein, am besten mit vier Kindern, das war sein Traum. Die Tage im Museion und in der Großen Bibliothek zubringen und abends dann den kleinen Marcus Minor in die Arme schließen, das wärs. "Was ist mit dir? Hast du Familie?" Der Matrose schüttelte den Kopf. "Das Seemannsleben eignet sich nicht dafür. Jeden Tag wo anders und jederzeit könnte der Kahn absaufen auf dem man gerade Dienst tut. Das will man keiner liebenden Gemahlin antun." Ein kaum merkbarer Schatten in Abdemons Gesicht verriet, dass es wohl Zeiten gab, wo er es bedauerte niemanden zu haben und niemals von einem strahlenden kleinen Geschöpf "Vater" genannt zu werden. Der Phönizier war wieder am Zug. "Da war einmal ein Mädchen das ich geliebt habe. In Syrakus war das. Verdammmich ich hätte das Seemannsleben wirklich fast für sie an den Nagel gehängt." Es war deutlich zu spüren, dass Abdemon diese Geschichte gerne erzählen wollte. Nasica warf eine Eins und fragte: "Wie kam das?"
Abdemon zog seinen Spielstein bis zu Feld 26, dem "Schönen Haus" vor. "Na also, schon mal den ersten da durch! Hoffentlich jetzt nicht auf das Wasserfeld. Also, die Astarte war kurze Zeit zuvor in einen schweren Sturm geraten und an der sizilianischen Küste gestrandet. Noch nie sowas erlebt vorher, kannst du dir nicht ausmalen. Das Schiff war mehr oder weniger Schrott, genauso wie die Hälfte von der Mannschaft. Hätte mich auch fast erwischt, konnte aber irgendwie davonkommen. Trotzdem lag ich hinterher halbtot am Strand. Ein Hirte fand uns und das Wrack und holte Hilfe aus Syrakus. Ich kam bei einem reichen Händler unter. Seine Tochter, Phaisyle, pflegte mich gesund. So eine Frau wie sie haste noch nicht gesehen das kann ich dir sagen." Das war vermutlich das gleiche was auch Nasica über Penelope sagen würde, hätte Abdemon ihn gefragt, doch das behielt er lieber für sich. Besser er warf seine Stäbchen und versuchte den Vorsprung des Phöniziers aufzuholen.
Abdemon schien in Gedanken zu sein. "Eine Anmut wie Aschera und ein Lächeln bei dem man nicht Nein sagen konnte, das war meine Phaisyle. Gibt wohl niemanden mit dem ich mich je so gut unterhalten konnte wie mit ihr. Auch wenn sie Griechin war, sie verstand mich."
"Ja, Griechinnen verstehen sich darauf in die Herzen der Männer zu blicken." Abdemon grunzte. "Ich sehe du hast auch so eine. Ja Griechinnen können schon was. Als unser Schiff wiederhergestellt und wir wieder auf dem Damm waren, wollte ich am letzten Abend vor unserer Abfahrt zu Phaisyle und sie um ihre Hand bitten, kennst du sicher. Aber ich war noch gar nicht ganz bei ihrem Haus, da hörte ich sie mit ihrem Vater reden draußen im Hof..." Der traurige Gesichtsaudruck sagte Nasica schon was wohl geschehen sein mochte. "Sie hatte schon jemand anderes, oder?" Abdemon nickte und warf eine Vier.
"Ja, sie war ganz aus dem Häuschen, denn irgend so ein reiches Muttersöhnchen hatte ihr am gleichen Tag den Hof gemacht und ihr Vater hatte zugesagt." Abdemon seufzte, als er Nasica bei seinem Zug zusah. "Tja so ist das mit der Liebe, mal gewinnt man, mal verliert man. Ich denke, dass ich an jenem Tag mein Herz auf Sizilien zurückgelassen habe, als wir in See stachen. So eine wie sie findest du nicht nochmal, meine Hand drauf."
Abdemon war wieder am Zug, während Nasica an Penelope dachte. Was sie wohl mit ihren Tagen ohne ihn anfing? Seine Sehnsucht fühlte sich in jenem Moment unendlich groß an. Penelope oh Penelope, wann kann ich dich wiedersehen? Denkst du an mich?
* = Yam ist eine phönizische Meeresgottheit