Nachdem Nasica den fertigen Brief an die Verwandten in Rom beim Cursus Publicus aufgegeben hatte, war wieder ein Teil des Nachmittags vergangen und die Zeit seines Aufbruchs diesen Abend näher gerückt. Doch er wollte nicht gleich wieder zurück nachhause, er hätte dort ja sowieso nichts zu tun, also beschloss Nasica gleich weiter ins Delta zu gehen zum Buchladen eines seiner ältesten Freunde und Mentoren, dem ehrwürdigen jüdischen Gelehrten und Schriftenhändler Ezra ben Abraham.
Unterwegs überlegte er, ob er vielleicht auch nochmal Penelope besuchen sollte, da ihr Haus ganz in der Nähe des Grabmals von Alexander dem Großen lag, an dem er gerade vorrüberkam, doch besser nicht. Es würde nur wieder unnötig emotional zwischen ihnen werden und bestimmt wäre sie auch nicht alleine zuhause. Ihr Abschied beim Serapeum musste genügen.
So also lenkte er seine Schritte weiter in Richtung Delta, dem östlichsten und wahrscheinlich auch buntesten Stadtviertel Alexandrias. Hier lebten die Ausländer und auch die jüdische Gemeinde der Stadt war im Delta zu finden die die größte der bekannten Welt bildete.
Nasica war gerne im Delta. Im gefielen die bunt zusammengewürfelten, leicht verschrobenen Gebäude hier die sich in ihrer Architektur so sehr von den geordneten und geradlinigen Häusern des griechischen Viertels unterschieden. Auch mit den hier lebenden Menschen verkehrte er sehr gerne. Nasica empfand die Juden als ein sehr stolzes und aufrichtiges Volk und Ezra ben Abraham war einer seiner vornehmsten Söhne. Fest stand, dass Nasica noch niemand anderen bislang getroffen hatte, der besser Senet spielen konnte, als dieser Mann, nicht einmal die Ägypter selbst.
Die Luft im Delta duftete voller kräftiger Gewürze, die hier auf den kleinen Märkten feilgeboten wurden. Das Leben fand auf der Straße statt, überall drängelten sich die Händler und die Passanten. Ein Händler bot hier laut gackerndes Geflügel in Holzkäfigen an, woanders pries ein fein herausgeputzter Mann die Vorzüge seiner Keramiken für die moderne Alexandrinerin an. Nasica bekam immer gleich gute Laune, wenn er im Delta unterwegs war. Endlich kam er beim Buchladen seines Freundes an. Es war ein einfaches, einstöckiges Haus aus Lehm errichtet. Ein wenig windschief stand es da und außerdem hatte es einen ganz besonderen Eingang. Ezra ben Abraham besaß nämlich keine hölzerne, oder bronzene Tür und auch keinen Stoffvorhang, sondern viele bodenlange Schnüre voller rot und braun bemalter kleiner Holzkugeln bildeten eine blickdichte, ganz eigentümliche Barriere. Sie sollte böse Geister fernhalten, so die Meinung des Buchhändlers, außerdem verschloss er niemals sein Geschäft, oder seine Waren. Wenn jemand schon so unhöflich wäre und ihn nicht bezahlen wollte, so hätte er oder sie wenigstens etwas für ihre Bildung getan durch den Diebstahl seiner Bücher, so Ezra ben Abrahams sonderliche Meinung. Doch anscheinend hatte er es auch nicht nötig, denn noch nie war je etwas aus seinem Geschäft gestohlen worden.
Nasica schob die Holzperlenschnüre beiseite und betrat den Laden. Drinnen herrschte eine etwas dunkle und orientalische Atmossphäre durch die mit Papyrus verhangenen Fenster und den brennenden Öllampen und Weihrauch.
Aus dem Halbdunkel einer Ladenecke erhob sich eine Gestalt von ihrem Sitzplatz.
Ezra ben Abraham, Buchhändler
"Chaire Marcus, mein Freund, Gott mit dir." begrüßte ihn der Jude auf griechisch. Ezra ben Abraham weigerte sich seit jeher Latein zu lernen, was er für unter seiner Würde befand. Er machte nur Geschäfte mit Leuten die Griechisch, oder Hebräisch sprachen, vielleicht mit ein Grund, wieso Nasica perfekt Griechisch gelernt hatte seit frühesten Kindertagen.
"Chaire, Ezra ben Abraham!" grüßte Nasica also in der gleichen Sprache zurück.
Der Mann trat nun ins Licht. Feine rote Gewänder zierten seinen Leib und die Goldringe an seinen Fingern zeugten von seinem Reichtum. "Was darf ich für dich tun Marcus? Bist du für eine Partie Senet gekommen? Ich würde gern wieder mit einem würdigen Gegner spielen!"
Nasica lächelte ihn an. "Nein, aber danke! Ich bin gekommen, um mir ein, oder zwei neue Schriftrollen zu kaufen und um mich zu verabschieden, denn ich reise noch heute Abend nach Rom zu meinen Verwandten ab."
Bei dieser Erwähnung kräuselte Ezra ben Abraham leicht den Mund. "Nach Rhome? Was willst du denn dort, wo du doch jetzt schon in der großartigsten Stadt der Welt, direkt nach Hierosólyma natürlich, lebst?"
Es war offensichtlich, dass er keine allzu hohe Meinung von Rom und dessen Bewohnern hatte. Das Nasica selbst jedoch Römer war machte ihm nichts aus. Er kannte ihn immerhin schon, seit er ein kleiner Junge gewesen war, der eines Tages mit tränenverschmiertem Gesicht in sein Geschäft gestolpert und geweint hatte, dass er sich verlaufen hätte und nicht mehr nachhause finden würde.
Für Ezra ben Abraham war Nasica daher in erster Linie ein Alexandriner und erst nachgeordnet ein Römer.
"Ich muss nach Rom für mein Buch über meine Familie, du weißt schon ich hab dir davon erzählt. Für das Museion. Und außerdem möchte ich gerne diese meine Verwandten in Rom endlich persönlich kennenlernen."
Verstehend nickte Nasicas Freund. "Ah, die Familie also. Das ist ein guter Grund, denn merke dir; nichts geht über die Familie. Die Familie kommt immer an erster Stelle. Sorge dich darum, dass es ihr gut geht und es wird auch dir gut gehen."
Nasica musste ein Schmunzeln unterdrücken. Typische Worte für den Buchhändler.
"Ja, ähm...genau. Also die Fahrt über das Meer wird lang und da möchte ich mir die Zeit mit passender Literatur vertreiben. Was hast du für mich?"
Verstehend brummte Ezra ben Abraham und schritt auf eines der Bücherregale zu in denen Papyri über Papyri gelagert waren. Er suchte ein wenig herum, zog eine Schriftrolle hervor, betrachtete sie und schob sie anschließend wieder zurück, ehe er weiterging und die Prozedur von neuem begann. "Ah, das ist spannend!" murmelte er in seinen Bart und schob eine Schriftrolle unter seinem Arm, um anschließend weiter zu suchen. "Hm ja das auch."
Zufrieden mit seiner Auswahl kehrte er zu Nasica zurück. "Schau her, das ist das Epos von Gilgamesch. Und das hier, davon hast du vielleicht schon einmal gehört. Die Niederschrift der Fahrt der Argonauten von Apollonios von Rhodos."
"Die Argonautika?"
"Ja genau die."
"Hmm die kenne ich schon vom Hörensagen. Dieses Gilgameschdings ist gut, was hast du außer Apollonios' Werk denn noch?"
"Etwas was du noch gar nicht kennst und das trotzdem unterhaltend und belehrend ist?"
Nasica wirkte etwas verlegen. "Ja so etwas in der Art."
Wissend tippte sich Ezra ben Abraham an den Kopf und ging zu einem kleinen Regal neben der Tür. Daraus zog er eine Schriftrolle und brachte sie Nasica.
Dieser entrollte sie und las laut den Titel: "David gegen Goliath"
Nach dem Überfliegen der ersten paar Absätze blickte er wieder auf. "Interessant, was ist das?"
Mit einem stolzen Blick antwortete ihm der Jude: "Das ist eine Geschichte aus unserem heiligen Buch dem Tanach. Du hälst die Geschichte in Händen in denen unser guter König David als junger Hirtensohn den philistischen Riesen Goliath erschlägt. Im Tanach gibt es noch viel mehr solcher Erzählungen. Kennst du zum Beispiel die Geschichte davon wie Moses unser Volk aus Ägypten geführt und dabei sogar das Meer geteilt hat?"
"Nein gar nicht, wie trug sich das denn zu?" fragte Nasica höchst interessiert. Dieser Tanach klang nach einer wahren Fundgrube an neuen Geschichten!
Auf Ezra ben Abrahams Gesicht zeigten sich die Anflüge eines Lächelns, als er antwortete: "Das wirst du selbst herausfinden müssen. Ich habe hier eine Tanach-Ausgabe in Griechisch, willst du sie?"
"Ja gerne doch! Ich würde mich sehr darüber freuen!" keuchte Nasica schon ganz aufgeregt darüber bald in diesen ganzen tollen neuen Erzählungen eintauchen zu können. Und ganz nebenbei würde er vielleicht auch etwas über die Kultur seines Freundes lernen. Dann fiel wieder sein Blick auf die erste Rolle. "Was ist mit diesem Gilgamesch? Um was geht es darin?"
"Die Geschichte von Gilgamesch ist für die Mesopotamier das, was die Ilias für die Griechen ist; schlichtweg ihr größtes Epos über einen mächtigen König von Uruk und seiner Freundschaft zu Enkidu und seiner Suche nach Unsterblichkeit. Möchtest du eine Besonderheit hören, die diese Geschichte mit dem Tanach verbindet?"
"Ja klar!" Es gab eine Verbindung zwischen den beiden Werken? Das wurde ja immer besser! Nasica hatte die Vermutung, dass ihm auf dieser Reise nicht so schnell langweilig wurde, bislang klangen beide Bücher sehr spannend.
"Im Tanach baut Noah, Sohn von Lamech, ein riesiges Boot auf dem ein Paar von jeder Tierart dieser Welt Platz hat, um sie vor einer großen Flut zu retten, die die ganze Erde verschlingt, genauso wie bei Gilgamesch Utnapischtim das gleiche macht aus den gleichen Gründen. Und genauso wie Noahs Arche auf dem Berg Ararat strandete, so blieb Utnapischtims Boot auf dem Gipfel des Berges Nisir hängen."
"Wahnsinn! Da freue ich mich ja schon echt auf das Entdecken weiterer Paralellen, danke Ezra ben Abraham!"
Dieser nickte ihm zu, erfreut darüber Nasica derart den Tag versüßt zu haben. "Ich werde später dann die Kisten mit allen zugehörigen Papyri zu deinem Haus liefern lassen. Du sagtest du fährst heute Abend?"
Nasica nickte. "Genau, wieviel schulde ich dir?" Ezra ben Abraham nannte die Summe und der Valerier bezahlte.
Nachdem auch das erledigt war streckte er ihm zum Abschied die Hand entgegen. "Chaire, mein Freund und danke für die Bücher."
"Chaire, Marcus und möge Gott dein Schiff sicher in den Hafen Rhomes geleiten und wieder zurück."
"Das wird er bestimmt, danke, wir sehen uns bald wieder! Versprochen!" Und mit einem letzten Blick zurück auf Ezra ben Abraham verließ Nasica das Geschäft.