Nun, ein bekanntes Gesicht fand Amulius nicht. Nun, da er etwas derartiges nicht erwartet hatte, war er auch nicht allzu traurig darüber. Ihm war sowieso mehr danach, die Seele baumeln zu lassen - wie es im Volksmund so schön hieß - und in aller Ruhe seine weitere Zukunft zu planen.
Amulius befand sich in einem Alter, in dem es sinnvoll war, sich auf eine Richtung einzulassen, die erste Stufe der Karriereleiter zu erklimmen. Allerdings... um welche Karriere es sich dabei handeln sollte, hatte junge Mann noch nicht entschieden. Er könnte sich in einem Betrieb engagieren, dort das Kaufmannshandwerk erlernen, um später selbst einmal einen eigenen Betrieb zu gründen. Oder aber er könnte sich im gesellschaftlichen Leben einbringen, in die Politik gehen. Doch diesen Gedanken verwarf Amulius wieder schnell. Nicht, dass es ihn nicht reizen würde, Politik zu machen, doch erschwerte ihm sein Stand als Peregrinus diese Aussicht. Wenn er das römische Bürgerrecht hätte, ja dann! Aber er besaß es nicht. Und er kannte auch keinen Weg, es zu erlangen. Somit schied auch die Armee als Anlaufstelle aus, denn als Rekrut musste man ebenfalls das Bürgerrecht besitzen.
Auch Amulius hatte in der jüngsten Vergangenheit den einen oder anderen neidischen Blick auf die Soldaten der bekannten Legio II Germanica geworfen, wenn sich diese in der Stadt aufhielten. Die Armee war ein Synonym für die Macht des römischen Imperiums, die Armee war es, die die Grenzen immer wieder ausweitete und die dafür sorgte, dass der Senat seine Pläne überhaupt durchzusetzen in der Lage war. Soldaten waren vielerorts geachtet, meist bewundert.
Das Aufsetzen des Holzkruges, in dem sich das von Amulius georderte Bier befand, riss den jungen Mann aus seinen Gedanken. Leicht irritiert bedankte er sich flüchtig bei der Bedienung, die sich jedoch sofort wieder in eine andere Ecke des Schankraumes verzog. Amulius unterdess setzte zum ersten Schluck an, das Bier floss seine Kehler hinunter. Der Geschmack war befriedigend, kam es dem jungen Mann in den Sinn, als er den Krug wieder absetzte. Wieder begann Amulius, sich im Schankraum umherzublicken.
Plötzlich und ohne Vorwarnung nahm ein Mann am Tisch Platz. Er schien um die Mitte Dreizig, dunkelblone Haare, die ihm leicht bis zur Schulter gingen, umrahmten ein eigentlich unauffälliges Gesicht. Der Mann musste sich schon einige Tage nicht mehr rasiert haben, denn die Bartstoppeln waren unübersehbar. Ansonsten schien sich Amulius' Tischnachbar ausreichend zu pflegen, denn ein unangenehmen Geruch ging von diesem nicht aus. Als dieser dann auch noch begann, ohne Umschweife ein Gespräch zu beginnen, war Amulius ein wenig verdutzt. Sein Tischnachbar unterdess stellte sich als Flavius vor. Nur Flavius. Als Amulius seinerseits seinen Namen nannte, sprach Flavius nach einem kurzen Kopfnicken mit seiner leicht kratzenden Stimme weiter:
"Und, Jungspunt, was macht Du hier? Ruhst Du Dich gerade von Deiner Arbeit aus?"
Als Amulius die Frage verneinte und hinzufügte, dass er zur Zeit keiner Tätigkeit nachginge und auch nicht recht wüsste, welchem Beruf er überhaupt nachgehen sollte, begann sein Tischnachbar leicht zu grinsen. Flavius' Zähne waren noch gut erhalten, nur der linke obere Schneidezahn fehlte ihm. Dann fuhr dieser fort:
"Dann ist doch die Armee das Richtige für Dich! Die Armee hat doch immer Bedarf an neuen Rekruten. Oder?"
Man hörte, dass das natürlich nur eine rhetorische Frage war und deswegen unterließ es Amulius auch, darauf zu antworten. Eher gab er Flavius zu verstehen, dass ihm das fehlende Bürgerrecht einen Strich durch die Rechnung machte. Es war ihm als Peregrinus doch gar nicht erlaubt, Dienst in der Armee zu verrichten. Aber während der junge Mann glaubte, dass das Gespräch nun für ihn beendet sein würde, grinste Flavius weiter. Nach einigen kleinen Momenten des Schweigens gab er an:
"Nun, Jungspunt, das ist doch gar kein Problem. Schon 'mal von der Ala II Numidia gehört? Nicht? Nun, da kannst Du hin, ohne, dass Du das Bürgerrecht besitzt. Sieh 'mal, ich war auch einst ein Peregrinus wie Du. Und genau wie Du jetzt wusste ich nicht weiter. Bis ich auf die Ala II Numidia gestoßen bin. Wenn Du Dich dort einschreibst, kannst Du nach nur zwei Monaten wieder raus und bekommst mit etwas Glück das Bürgerrecht. Allerdings musst Du reiten können. Ich hoffe, Du kannst überhaupt mit einer Waffe kämpfen."
Flavius unterbrach sich selbst, um Amulius zu mustern. Ein kurzes Nicken folgte und Flavius sprach weiter:
"Doch, das sollte hinkommen. Ach ja, im Prinzip das Wichtigste: Du bist hier an der Grenze Roms. Dahinter ist nur noch Barbarenland. Also glaube nicht, Deine Dienstzeit würde ein Kinderspiel werden. Ein germanischer Speer kann Dich ebenso schnell vom Pferd geholt haben, wie ein Mann sein Getränk leert. Aber es ist immer noch besser, als irgendwo in den Gossen zu versauern. Und 'mal im Ernst: Wer möchte diesen Wilden nicht gegenübertreten und ihnen einen gewaltigen Schlag verpassen?
Auch dies wieder eine rhetorische Frage, die Flavius nur noch mehr grinsen ließ. Amulius schwieg zunächst, nahm Schluck um Schluck von seinem Bier und ließ sich die Worte seines Tischnachbarn durch den Kopf gehen. Auf der einen Seite hatte Amulius schon Freude an seinem Leben und hatte nicht vor, es einem Barbaren zu überlassen. Auf der anderen Seite war es möglich, das Bürgerrecht, den Schlüssel zur römischen Gesellschaft, zu erhalten! Und das war zur Zeit Amulius' sehnlichster Wunsch. Er fragte Flavius, wie er denn zur Ala II Numidia kommen könnte. Flavius überlegte einen Moment und riet dem jungen Mann anschließend, nach Raetia zu gehen, dort glaubte er den letzten Standort der Einheit.
Und dann kam es Amulius! Er hatte den Entschluss gefasst. Den Entschluss, zur Armee zu gehen! Ein wenig überstürzt bedankte sich Amulius bei seinem Tischnachbarn, stand auf und begab sich zum Wirt, um diesem das Bier zu bezahlen. Er blickte sich noch einmal zu Flavius um, als er im Begriff war, die Taberna Silva Nigra zu verlassen. Dieser nickte nur. Dem Entschluss Amulius stand Nichts im Wege, eine Bindung, die es in Mogontiacum zu erhalten galt, besaß der junge Mann nicht. So machte sich dieser mit seinem kleinen Beutel, in dem sich sein bescheidenes Hab und Gut befand, auf, irgendwie nach Raetia zu gelangen.
Tbc: [RAETIA] Neues Lager der Ala II Numidia